Der Schatz
„Was macht ein Schiff aus Avantia in Gwildor?“, fragte Tom.
„Lass es uns herausfinden“, erwiderte Elenna und ging auf das Schiff zu.
Tom wandte sich an die Tiere. „Bleibt hier!“, befahl er ihnen. Silver setzte sich auf die Hinterbeine und Storm nickte mit dem Kopf. Tom wollte nicht riskieren, dass sich die Tiere auf den verrotteten Schiffsplanken verletzten. Er schob seinen Schild fest auf den Rücken, dann kletterte er hinter Elenna an Bord des Schiffs.
„Laut Karte ist das nächste Schatzstück ein Fernrohr“, sagte Tom. „Es würde Sinn machen, wenn es auf einem Schiff versteckt ist.“
Aufmerksam sah er sich um. Die Takelage hing lose herunter und die Schiffsglocke war verrostet. Die Bretter unter seinen Füßen knarrten und ein Nagel ragte aus einer Planke, als er das Oberdeck betrat. Er konnte gerade noch ausweichen, als das Brett durch sein Gewicht hochklappte und den Blick in den leeren Schiffsrumpf preisgab. Tom sah nach unten und entdeckte ein Glitzern … war das Metall?
„Ich glaube, ich habe das Schatzstück gefunden!“, rief er. Vorsichtig ließ er sich in das Loch hinabsinken, bis er nur noch an den Fingerspitzen hing. Zum Glück war seine Hand nicht mehr von Rapus Gift geschwächt. Er ließ los und landete mit einem Rums neben einer strohgefüllten Holzkiste. Durch eine Luke sah Elenna zu ihm hinunter.
Tom kniete sich neben die Kiste und durchwühlte sie. Ein weicher Lederbeutel kam zum Vorschein. Er hob ihn heraus und hörte den Klang von Metall. Er stülpte den Beutel um und Goldstücke fielen ihm in die Hand.
„Damit können wir uns Vorräte kaufen!“, rief Elenna. „Wir haben nicht mehr viel zum Tauschen.“ Tom machte den Lederbeutel an seinem Gürtel fest.
„Wir sollten trotzdem etwas im Tausch für die Goldstücke dalassen“, sagte er nachdenklich. „Es fühlt sich nicht richtig an, sie einfach so mitzunehmen …“
„Mein bester Pfeil ist ein guter Ersatz“, schlug Elenna vor. Sie nahm ihren Köcher vom Rücken und zog einen Pfeil nach dem anderen heraus, bis sie denjenigen gefunden hatte, nach dem sie suchte. Die Pfeilspitze war aus Feuerstein geschliffen und der Schaft aus Rosenholz geschnitzt. Tom wusste, dass der Pfeil Elenna viel bedeutete. Vorsichtig reichte sie ihm den Pfeil und er legte ihn in die Kiste.
Da bemerkte er, dass in der Kiste noch etwas lag. Er wischte das Stroh weg und hob ein kupferfarbenes Fernrohr mit Verzierungen aus Diamanten und Ebenholz heraus.
„Freyas Schatzstück“, murmelte er und pustete den Staub von dem Fernrohr.
Dicke Linsen aus Glas befanden sich auf beiden Seiten des Rohrs. Vorsichtig zog Tom das Fernrohr in seine volle Länge. Er hielt es sich vors Auge und pfiff anerkennend. In diesem Moment kippte das Schiff stöhnend zur Seite.
„Tom!“, rief Elenna. „Wir müssen runter vom Schiff.“ Sie streckte ihm die Hand hin und half ihm, aus dem Loch zu klettern. Das Schiff wackelte und noch mehr Nägel flogen aus den knarrenden Brettern.
„Alle Mann von Bord!“, rief Tom. Er sprang von Deck und rollte sich auf dem Dschungelboden ab. Das Fernrohr hielt er dicht an seinen Körper gepresst.
Weil er seine Hände nicht frei hatte, um zu bremsen, blieb er erst liegen, als er gegen einen dicken Baumstamm prallte.
Elenna sprang hinter ihm von Bord. Das Schiff ruckte noch einmal, dann beruhigte es sich wieder. Es war noch tiefer in den Boden gesunken. Affen kreischten erschrocken und Vögel stoben davon.
Außer Atem untersuchte Tom das Fernrohr. Er blickte durch die kleinere Linse und erwartete, weit entfernte Dschungelpflanzen zu sehen, die er mit bloßem Auge gar nicht erkennen konnte. Aber alles, was er sah, waren die Bäume ganz in der Nähe. „Sind die Linsen kaputt?“, überlegte er. Es gab keinen Unterschied zu dem, was er mit bloßem Auge sehen konnte. Er sah Storm und Silver und … Moment! Tom erkannte zwei Käfer, die eine Dungkugel hin und her rollten. Normalerweise waren sie aus dieser Entfernung nicht zu erkennen. Noch weiter entfernt sah er eine Libelle, die über einem Tümpel schwebte. „Das ist seltsam“, dachte Tom.
Er senkte das Fernrohr und sah zu der gleichen Stelle hinüber. Die Insekten waren verschwunden! Die Libelle mit ihren durchsichtigen Flügeln war nirgends zu sehen. Tom hob das Fernrohr wieder an die Augen und sah hindurch. Ja, da war sie. Die Flügel der Libelle waren deutlich zu erkennen.
„Schau mal, da drüben“, forderte er Elenna auf.
Elenna runzelte die Stirn.
„Da ist doch nur ein kleiner Tümpel“, sagte sie.
Er reichte seiner Freundin das Fernrohr. „Guck da durch.“ Er beobachtete Elenna, wie sie das Fernrohr an ihr rechtes Auge hob. Sie stieß einen überraschten Schrei aus.
„Wahnsinn!“, meinte sie und senkte das Fernrohr. „Aber ich verstehe das nicht.“
„Mit Freyas Schatzstück kann man Dinge sehen, die normalerweise gut getarnt sind“, erklärte Tom.
„Genial!“, jubelte Elenna. „Es ist das Gegenteil von der Wirkung des Rings, der dich unsichtbar macht.“
Silver jaulte neugierig und kam zu Elenna gerannt. Storm trottete ebenfalls zu ihnen. Tom steckte das Fernrohr in den Lederbeutel in Storms Satteltasche. Jetzt hatten sie alle Schatzstücke gefunden.
Tom sah sich um. Was erwartete ihn auf dieser Mission? Er tastete nach dem Fernrohr im Beutel und fühlte, wie Erleichterung ihn erfüllte. „Nichts kann uns jetzt mehr überraschen“, sagte er.
„Tom!“, rief Elenna und stieß ihn zur Seite. Gemeinsam stürzten sie zu Boden, als der Schiffsmast dicht neben ihnen auf die Erde krachte und Dreck aufwirbelte. Böses Gelächter drang aus dem dichtenDschungel.
Tom schlug mit der Faust auf den Boden. „Velmal!“, rief er und sprang auf die Füße. Er sah sich nach dem gemeinen Gesicht mit dem fiesen Grinsen um. Aber von dem bösen Zauberer war keine Spur zu erkennen. Wut kochte in Tom hoch. „Solange Blut in meinen Adern fließt, werde ich gegen dich kämpfen, Velmal, und meine Mutter von dir befreien!“, schrie er.