Versteckte Wut
Velmals Gelächter verstummte. Tom sah auf die Karte. Der Pfad zum Biest führte Richtung Osten. Er stieg in Storms Sattel und Elenna kletterte hinter ihn. Silver bellte aufgeregt, dann machten sie sich auf den Weg. Storm schritt vorsichtig voran und wich Baumwurzeln und Schlingpflanzen aus.
Während des Ritts richtete Tom das Fernrohr auf einen Teich. Er konnte einen Fisch erkennen, der sich vor einem Feind versteckte. Tom senkte das Fernrohr. Jetzt konnte er den Fisch nicht mehr sehen. Zwischen den Kieseln war er gut getarnt und nicht zu erkennen. Nur durch das magische Fernrohr war er sichtbar.
Ein Stückchen weiter entdeckte er ein Chamäleon. Es saß auf einer leuchtend orangefarbenen Pflanze und ließ die Zunge vor- und zurückschnellen. Als er das Fernrohr vom Auge nahm, verschwand das Tier.
„Das ist unglaublich“, staunte Tom. „Überall im Dschungel sind Tiere versteckt.“
„Lass mich mal sehen“, bat Elenna. Tom reichte ihr das Fernrohr über die Schulter. Er hielt Storms Zügel locker in den Händen und freute sich über die erstaunten Rufe seiner Freundin, bis …
„Tom, stopp“, sagte sie plötzlich. „Sieh dir das an.“
Er zog an Storms Zügeln und betrachtete die endlos lange Reihe lilafarbener Eier auf dem Dschungelboden. Storms Hufe waren nur eine Handbreit vom ersten Ei entfernt. Tom ließ sich aus dem Sattel gleiten und betrachtete die Eier aus der Nähe.
Die Eierschale schimmerte unheimlich und tauchte die Pflanzen ringsum in ein seltsames Licht.
„Sie sind wunderschön!“, rief Elenna und kniete sich auf den Boden. Sie legte das Fernrohr ab und wischte sich die Hände an ihrem Hemd sauber. Sie hob ein Ei auf und Tom berührte die glatte Oberfläche. Plötzlich zögerte er. Irgendwie fühlte es sich nicht richtig an, die Eier anzufassen.
„Leg es wieder hin“, sagte er zu Elenna.
Knacks!
Das Geräusch kam von hinten. Tom wagte es nicht, seinen Kopf in Elennas Richtung zu drehen, um sie anzusehen. Schon die kleinste Bewegung konnte zu viel sein.
„Was war das?“, wisperte sie.
Ein zweites Geräusch ertönte – diesmal ein Rascheln. Dann ein Knacksen und Knirschen, als Äste beiseitegedrückt wurden. Aber Tom konnte nichts sehen. Er konnte nicht länger stillhalten und stand auf. Schnell angelte er sich das Fernrohr und suchte damit den Dschungel ab. Ein smaragdgrünes Bein mit langen Stacheln erschien vor der Linse. Tom hob das Fernrohr höher und entdeckte zwei riesige Greifarme und ein Paar glasiger Augen, die ihn bösartig anfunkelten.
Er hatte das letzte Biest gefunden!
„Toxodera“, flüsterte er.
Das Biest stand vor einem Baum, von dessen unteren Ästen lange Hülsenfrüchte hingen. Es war ein perfektes Versteck für ein gigantisches grünes Insekt. Ohne das Fernrohr hätte Tom es nie entdeckt.
Toxodera holte mit der Klaue aus. Kurz vor Toms Gesicht durchschnitt sie zischend die Luft. Er sprang zurück und schob Elenna hinter sich. Etwas Warmes lief an seinem Nacken hinab und sein Ohr brannte vor Schmerz. Das Biest hatte ihn erwischt. Wut erfüllte ihn. „So schnell werde ich mich nicht geschlagen geben!“, dachte er.
Toxodera holte erneut aus und das Fernrohr flog Tom aus der Hand. Er packte sein Schwert. Da sich Toxodera nun bewegte, war sie auch ohne Fernrohr gut zu sehen. Mit einem Zischen zog Tom sein Schwert aus der Scheide.
Elenna stand mit gespanntem Bogen neben ihm, bereit für alles, was kommen würde.
Toxoderas Augen verengten sich wütend. Ein Stachelbein schoss vor und trat Tom in die Rippen. Er taumelte gefährlich nah an die Eier heran. Ein Wutschrei ließ den Dschungel erbeben. Plötzlich wurde ihm alles klar. Er zog Elenna hinter einen breiten Baumstamm.
„Toxodera hat die Eier gelegt“, erklärte Tom ihr. „Sie ist die Mutter!“ Elenna wurde blass. Sie sah zu dem Biest, das kraftvoll um sich schlagend durch den Dschungel stapfte und immer näher kam.
„Was sollen wir machen?“, fragte sie. „Toxodera ist stinkwütend!“
Tom hörte Storm wiehern. Sein treuer Hengst kam auf ihn zu galoppiert und wich geschickt Toxoderas Fußtritten aus.
„Gut gemacht“, sagte er zu Storm, als der Hengst vor ihm stehen blieb. Tom wühlte in der Satteltasche und blickte dabei nervös zu dem Biest hinüber. Toxodera beobachtete Storm. Ihre Nasenflügel bebten, als ob sie nach ihm schnuppern würde. Tom musste sich beeilen. Er zog den Beutel mit den Schatzstücken heraus. Fieberhaft überlegte er, welcher Gegenstand ihm helfen konnte, Toxodera zu besiegen.
„Der hier!“, rief Tom, als sich seine Finger um den goldenen Ring schlossen. Er schob ihn auf einen Finger und hielt die Hand hoch. Staunend sah er zu, wie seine Finger langsam unsichtbar wurden. Die Wirkung des Rings breitete sich in seinem Körper aus und Tom stellte aufgeregt fest, dass er vollständig unsichtbar geworden war. Solange er stillstand, war er nicht zu sehen. Er wusste, dass Elenna und Storm ihn nicht mehr sehen konnten, aber hören konnten sie ihn trotzdem.
„Bleib hier, Storm“, befahl Tom. „Elenna, ich gehe jetzt da raus. Wenn ich stehen bleibe und Toxodera mich verschwinden sieht, wird sie kurz zögern. Das ist deine Chance.“
„Ich werde bereit sein“, sagte Elenna mit großen Augen.
Tom trat aus ihrem Versteck. Schnell hob er das Fernrohr auf, dann blieb er wie angewurzelt stehen. Toxodera wandte sich ihm zu und zischte triumphierend. Das Biest stampfte durch das Unterholz und kletterte mit seinen riesigen Beinen über Bäume und Büsche. Aber Tom wusste, dass er unsichtbar wurde. Toxodera blieb plötzlich stehen und sah sich verwirrt um.
„Sie sieht mich nicht mehr!“, dachte Tom.
Jetzt war es an der Zeit, das letzte Biest zu besiegen.