Gegen Ende von F. Scott Fitzgeralds Roman Der große Gatsby liegt der Erzähler nachts am Strand und denkt an den Augenblick, in dem holländische Seeleute das entdeckten, was wir heute New York nennen. Fitzgerald schreibt: »Einen flüchtigen, zauberhaften Augenblick lang muss der Mensch angesichts dieses Kontinents den Atem angehalten und sich zu einer ästhetischen Betrachtung, die ihm weder verständlich noch erwünscht war, genötigt gesehen haben, während er zum letzten Mal in der Geschichte etwas vor sich hatte, dem seine Fähigkeit zu staunen noch gewachsen war. « Was für ein Satz. Vieles an Gatsby änderte sich vom ersten Manuskript bis zum fertigen Buch — Fitzgeralds Verleger hatte 1924 schon Fahnen des Romans, der damals noch Trimalchio hieß, drucken lassen, die Fitzgerald jedoch umfänglich überarbeitete und den Titel zu Der große Gatsby änderte. Doch bei all dem Bearbeiten und Kürzen und Neuordnen wurde an diesem speziellen Satz nichts geändert. Nun, außer dass Fitzgerald bei einem Entwurf das Wort ästhetisch falsch schrieb — aber wem ist das nicht schon mal passiert?
Gatsby wurde erst auf verschlungenen Wegen zum großen amerikanischen Roman. Die ersten Besprechungen fielen nicht gerade euphorisch aus, und man fand das Werk allgemein schwächer als Fitzgeralds ersten Roman Diesseits vom Paradies. Im New York Herald schrieb Isabel Paterson, Gatsby sei »ein Buch nur für diese Jahreszeit«. H. L. Mencken nannte es in der Chicago Tribune »offensichtlich unbedeutend«. Die Dallas Morning News war besonders brutal und formulierte: »Man beendet Der große Gatsby mit einem Gefühl des Bedauerns, nicht im Hinblick auf das Schicksal der Leute im Buch, sondern Mr. Fitzgeralds. Als Diesseits vom Paradies herauskam, wurde Mr. Fitzgerald als vielversprechender junger Mann gefeiert … aber das Versprechen wird, wie so viele andere, wahrscheinlich unerfüllt bleiben.« Autsch.
Der Roman verkaufte sich eher bescheiden — längst nicht so gut wie die vorigen Bücher. Im Jahr 1936 beliefen sich die Tantiemen auf gerade mal 80 Dollar. In jenem Jahr veröffentlichte Fitzgerald »The Crack-Up«, eine Sammlung von Essays über seinen eigenen körperlichen und geistigen Zusammenbruch. »Mir wurde klar, dass mein Leben zwei Jahre lang aus Ressourcen geschöpft hatte, die ich gar nicht besaß, dass ich mich selbst körperlich und geistig völlig mit Hypotheken überlastet hatte.« Fitzgerald sollte nur wenige Jahre später im Alter von 44 Jahren sterben, und seine Bücher waren so gut wie vergessen.
Im Jahr 1942 jedoch begann der U. S. Council on Books in Wartime, Bücher an die im Zweiten Weltkrieg kämpfenden amerikanischen Truppen zu verteilen. Mehr als 150.000 Exemplare der Armed Services Edition von Gatsby wurden nach Übersee verschifft und das Buch wurde doch noch zum Hit. Diese Armeeausgaben waren Taschenbücher, die in die Uniformtaschen der Soldaten passten; viele Bücher, die heute als Klassiker gelten, wurden auf diese Weise populär, so zum Beispiel Betty Smiths Ein Baum wächst in Brooklyn. Es war eines von wenigen Büchern von Autorinnen im Programm; die überwiegende Mehrheit stammte von weißen Männern.
Das Motto des Council on Books in Wartime lautete: »Bücher sind Waffen im Krieg der Weltanschauungen«, was auch für Generäle vertretbar war, obwohl viele der ausgewählten Bücher wie Gatsby nicht besonders patriotisch daherkamen. Die Kampagne wurde zu einem überwältigenden Erfolg. Ein Soldat äußerte gegenüber der New York Times, die Bücher seien »ebenso beliebt wie Pin-up-Girls«.
Im Jahr 1960 verkauften sich bereits 50.000 Exemplare von Gatsby; heutzutage sind es mehr als eine halbe Million im Jahr, und das nicht zuletzt, weil man dem Roman in den USA auf der Highschool als Pflichtlektüre kaum entgehen kann. Er ist kurz, vergleichsweise lesbar und hat sich entgegen anders lautender Bewertungen als Buch für alle Jahreszeiten erwiesen.
Gatsby ist eine Abrechnung mit dem amerikanischen Traum. Am Ende des Romans sind nur diejenigen reich und erfolgreich, die es schon zu Beginn waren. Fast alle andern enden tot oder mittellos. Es ist eine Kritik der geistlosen Spielart des Kapitalismus, die mit Geld nichts Interessanteres anzufangen weiß, als zu versuchen, es zu vermehren. Das Buch legt die Gleichgültigkeit der privilegierten Reichen bloß — der Sorte Menschen, die Welpen kaufen, aber sich nicht um Hunde kümmern wollen, die sich riesige Bibliotheken zulegen, ohne je auch nur ein Buch darin zu lesen.
Und trotzdem wird Gatsby oft als große Feier der horrenden Exzesse der reicheren Bewohner des Anthropozäns gelesen. Kurz nach Erscheinen des Buchs schrieb Fitzgerald an einen Freund: »In all den Besprechungen, selbst den begeistertsten, hatte niemand auch nur die leiseste Ahnung, worum es im Buch geht.«
Manchmal kommt einem das immer noch wahr vor. Um meinen persönlichen schlimmsten Exzess zu schildern — einmal war ich im berühmten Plaza Hotel in New York zu Gast und bekam ein »kostenloses Upgrade« auf die Great Gatsby Suite. Die Zimmerflucht war ein Lehrbeispiel für visuelle Reizüberflutung — silbern funkelnde Tapeten, verschnörkelte Möbel, Imitationen von Pokalen und handsignierte Fußbälle auf dem Kaminsims. Der Raum verströmte völlige Ahnungslosigkeit darüber, dass Daisy und Tom Buchanan im Roman die Bösen sind.
Es kam dann schließlich zu jenem Moment — wahrscheinlich dem privilegiertesten meines ganzen Lebens —, als ich bei der Rezeption anrief und ein anderes Zimmer verlangte, weil mir das ständige Geklingel des riesigen Kronleuchters der Great Gatsby Suite den Schlaf raubte. Während des Anrufs konnte ich förmlich spüren, wie Fitzgerald auf mich herabstarrte.
Gatsby ist aber nicht ganz unschuldig an dem Missverständnis, das Fitzgerald beklagte. Der amerikanische Exzess wird standhaft verurteilt, das schon, aber trotzdem pulsiert der ganze Roman geradezu von einer schon durch ihren Rhythmus berauschenden Prosa. Man muss dazu nur den ersten Satz laut lesen: »Als ich noch jünger und leichter zu beeindrucken war, gab mir mein Vater einen Rat, über den ich seither viel nachgedacht habe.« Verdammt, man kann mit dem Fuß praktisch den Takt dazu stampfen. Oder nehmen wir diesen hier: »Gatsby war letzten Endes in Ordnung; es war das, was Gatsby folgte und ihn verfolgte, der faulige Dunst im Kielwasser seiner Träume, was mir eine Zeit lang alles Interesse an den kümmerlichen Sorgen und den kurzatmigen Hochgefühlen der Menschen raubte.«
Wenn Wörter auf diese Weise rollen, dann ist es schwer, die Party nicht zu genießen, und darin liegt für mich die wahre Genialität von Gatsby. Das Buch lässt einen nicht nur mit den privilegierten, verdorbenen, abscheulichen Reichen mitfühlen, sondern auch mit den Armen, die im »Tal der Asche leben«, und mit allen dazwischen. Man weiß, dass die Partys banal, vielleicht sogar schändlich sind; trotzdem möchte man eingeladen werden. In schlechten Zeiten fühlt sich Gatsby daher wie eine Verdammung der amerikanischen Idee an, in guten Zeiten dagegen wie eine Feier ihrer Prinzipien. Bei David Denby heißt es, das Buch sei »zu einer Art Nationalschrift geworden, die mal fröhlich, mal traurig rezitiert wird je nachdem, wie es die Situation erfordert«.
So ist es auch mit dem Satz am Ende des Buchs: »Einen flüchtigen, zauberhaften Augenblick lang muss der Mensch angesichts dieses Kontinents den Atem angehalten und sich zu einer ästhetischen Betrachtung, die ihm weder verständlich noch erwünscht war, genötigt gesehen haben, während er zum letzten Mal in der Geschichte etwas vor sich hatte, dem seine Fähigkeit zu staunen noch gewachsen war.«
Bei dieser Passage gibt es nur ein einziges Problem: Es stimmt nicht. »Der Mensch« hat keineswegs den Atem angehalten angesichts dieses Kontinents, denn wenn wir uns »den Menschen« als die gesamte Menschheit vorstellen, dann hat »der Mensch« die Gegend schon gekannt, ja bereits seit Zehntausenden von Jahren bewohnt. Die Verwendung von »der Mensch« verrät uns am Ende viel darüber, wen genau der Erzähler als Person anerkennt und von welchem Standpunkt die Geschichte erzählt wird.
Und auch dieses »letzte Mal in der Geschichte« entpuppt sich letzten Endes als falsch. Wenige Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Gatsby betraten menschliche Wesen den Mond. Wenig später schafften wir ein Teleskop ins All, mit dem wir einen Blick auf das Universum kurz nach dem Urknall werfen können.
Vielleicht weiß der Roman das ja. Trotz allem ist es ein Buch, das eine Vergangenheit erlauschen will, die es nie gegeben hat und versucht, einen bestimmten Augenblick der Vergangenheit für immer festzuhalten, obwohl die Vergangenheit weder festgelegt noch festzumachen ist. Und deshalb weiß der Roman vielleicht, dass das Zurücklauschen in diese vergänglichen, verzauberten Augenblicke zum Scheitern verurteilt ist. Vielleicht wussten sie im Plaza ja, dass sie eine Suite über (und für) die Bösen einrichteten.
Ich muss allerdings zugeben, dass mich dieses endlose Zergliedern von Mehrdeutigkeiten und Ironien ermüdet. Deshalb hier nun die schlichte Wahrheit, wie sie sich mir gezeigt hat: Vom Staunen, vom Wunder sind wir nie weit entfernt. Mein Sohn war etwa zwei Jahre alt, als wir eines Novembermorgens einen Waldspaziergang machten. Wir waren auf einem Hügelkamm unterwegs und blickten in den Wald im Tal, wo sich kalter Dunst an den Waldboden zu klammern schien. Immer wieder versuchte ich, meinen selbstvergessenen Zweijährigen für das Schauspiel in der Naturkulisse zu begeistern. Schließlich hob ich ihn hoch, deutete Richtung Horizont und sagte: »Schau dir das an, Henry, schau es dir einfach an!« Und er sagte: »Batt!« Ich fragte: »Was?« Und er sagte noch einmal: »Batt«, und dann streckte er die Hand aus und rupfte ein braunes Blatt von einer kleinen Eiche gleich neben uns.
Eigentlich wollte ich ihm erklären, dass man braune Eichenblätter im Osten der Vereinigten Staaten im November praktisch überall sehen kann und dass es im Wald nichts Langweiligeres gibt. Aber dann sah ich, wie er das Blatt anblickte, und sah nun selbst hin, und dann merkte ich, dass es nicht einfach irgendein braunes Blatt war. Wie bei einem Spinnennetz verästelten und verzweigten sich die Adern in Rot, Orange und Gelb, in einem Muster, das zu komplex war, als dass mein Gehirn es hätte begreifen können, und je mehr ich gemeinsam mit Henry das Blatt betrachtete, desto tiefer wurde ich in eine ästhetische Kontemplation hineingezogen, die ich weder verstand noch wünschte, Auge in Auge mit etwas, dem meine Fähigkeit zu staunen noch gewachsen war.
Während ich die Perfektion des Blattes bewunderte, erinnerte ich mich daran, dass es beim Empfinden von Schönheit auf das Wie und Ob des Blickens ebenso ankommt wie darauf, was wir sehen. Vom einzelnen Quark bis zur Supernova nehmen die Wunder kein Ende. An unserer Aufmerksamkeit mangelt es, unserer Fähigkeit und Bereitschaft, die Mühe auf uns zu nehmen, die das Staunen einfordert.
Trotzdem habe ich unsere Fähigkeit lieb gewonnen. Ich gebe ihr dreieinhalb Sterne.