Wer Kinder hat oder selbst mal eins gewesen ist, dem sind Handnegative wahrscheinlich schon begegnet. Sie waren bei meinen beiden Kindern die ersten selbst erschaffenen gegenständlichen Darstellungen. Irgendwann mit zwei oder drei Jahren legten sie die Hand flach auf ein Blatt Papier und zeichneten mit etwas Hilfe von uns ihre fünf Finger nach. Ich weiß noch gut, wie mein Sohn die Hand abhob und fassungslos auf den Umriss seiner ausgestreckten Finger auf dem Papier starrte, ein mehr oder weniger dauerhaftes Abbild seiner selbst.
Ich bin sehr froh darüber, dass meine Kinder nicht mehr drei sind, aber wenn ich die kleinen Hände auf diesen frühen Kunstwerken heute betrachte, durchflutet mich eine ungewohnte Freude, die mir fast das Herz zerreißt. Die Bilder erinnern mich daran, dass meine Kinder nicht nur aufwachsen, sondern dass sie mir entwachsen und ihrem eigenen Leben zustreben. Dabei bin ich es, der ihren Handnegativen diese Bedeutung zuschreibt. Kompliziert ist die Beziehung zwischen Kunst und Betrachter ja immer, aber sie wird umso aufreibender, je tiefer wir in die Vergangenheit blicken.
Im September 1940 ging der 18-jährige Mechaniker Marcel Ravidat im Périgord im Südwesten Frankreichs mit seinem Hund Robot spazieren, als dieser plötzlich in einem Loch verschwand. (So wird es jedenfalls erzählt.*5) Als Robot wieder oben ankam, dachte Ravidat, sein Hund habe womöglich den Geheimgang zum nahe gelegenen Landsitz Lascaux gefunden, von dem man sich erzählte.
Deshalb kam Ravidat am nächsten Tag mit einem Seil und drei Freunden an die Stelle zurück — dem 16-jährigen Georges Agniel, dem 15-jährigen Jacques Marsal und dem 13-jährigen Simon Coencas. Georges war über die Sommerferien da und musste bald zurück nach Paris für das nächste Schuljahr. Jacques stammte wie Marcel aus der Gegend. Simon war Jude und hatte während der Besatzung durch die Nazis mit seiner Familie auf dem Land Zuflucht gefunden.
Agniel meinte zu diesem Tag später: »Wir stiegen mit unseren Öllampen hinab und gingen dann vorwärts. Hindernisse gab es keine. Wir kamen durch einen Raum und standen dann an seinem Ende vor einer Wand und sahen, dass sie voller Malereien war. Uns war sofort klar, dass wir uns in einer prähistorischen Höhle befanden.«
Simon Coencas erinnerte sich: »In unserer kleinen Bande … hofften wir, einen Schatz zu finden. Wir fanden auch einen, aber nicht den, den wir erwartet hatten.«
In der Höhle entdeckten sie mehr als 900 Darstellungen von Tieren — Pferden, Hirschen, Wisenten und auch heute ausgestorbenen Tierarten wie dem Wollnashorn. Die Gemälde waren unglaublich detailliert und lebensecht, in roter, gelber und schwarzer Farbe aus zerriebenen Mineralpigmenten, die wohl durch feine Röhrchen, möglicherweise ausgehöhlte Knochen, auf die Höhlenwände gepustet worden waren. Später stellte sich heraus, dass diese Kunstwerke mindestens 17.000 Jahre alt waren. Einer der Jungen erinnerte sich, dass sich die Figuren im flackernden Schein der Öllampen zu bewegen schienen, und es gibt tatsächlich Hinweise, dass die Künstler mit ihrer Darstellung einen sich bei Fackellicht einstellenden Daumenkino-Effekt erzielen wollten.*6
Wenige Tage nach der Entdeckung der Höhle zogen Simon Coencas und seine Familie unter der nun auch auf dem Land zunehmenden Bedrohung durch die Nazis abermals um — diesmal nach Paris, wo Verwandte zugesichert hatten, ihnen beim Untertauchen zu helfen. Die Familie wurde allerdings von einem Geschäftspartner verraten und Simons Eltern von den Nazis ermordet. Simon kam zeitweise in Haft, entging aber knapp den Todeslagern und überlebte den Rest des Krieges mit seinen Geschwistern versteckt in einer winzigen Dachkammer. Seine drei Freunde aus jenem Sommer in Lascaux sollte er erst sechsundvierzig Jahre später wiedersehen.
Vier Jungen entdeckten also die Höhle, aber nur zwei konnten dort bleiben — Jacques und Marcel. Die beiden waren von den Darstellungen so überwältigt, dass sie den ganzen folgenden Herbst und Winter vor dem Zugang kampierten, um die Höhle zu schützen. Sie gingen erst, als der Höhleneingang mit einer massiven Tür versehen worden war. Im Jahr 1942 schlossen sich Jacques und Marcel der Résistance an. Jacques wurde gefasst und in ein Straflager geschickt, aber beide überlebten den Krieg und kehrten, als sie wieder zu Hause waren, sofort zur Höhle zurück.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der französische Staat Eigentümer des Areals und öffnete die Höhle 1948 für Besucher. Marcel und Jacques arbeiteten als Höhlenführer. Als Picasso die Malereien im selben Jahr besichtigte, soll er gesagt haben: »Wir haben seither nichts dazugelernt.«
Die Höhle ist mit einer Länge von etwa 90 Metern nicht besonders groß, birgt aber annähernd 2000 Gemälde. Neben den Tieren finden sich Hunderte abstrakte Zeichen und Darstellungen, die meisten davon rote und schwarze Kreise.
Was könnten sie bedeuten? Wir werden es nie erfahren. Lascaux gibt so viele Rätsel auf: Warum beispielsweise gibt es keine Bilder von Rentieren — bekanntermaßen die wichtigste Nahrungsquelle der Menschen, die in der Altsteinzeit die Höhle bewohnten? Warum gibt so wenige Darstellungen von Menschen?*7 Warum sind manche Höhlenteile bis an die Höhlendecke angefüllt mit Darstellungen, die nur von eigens errichteten Holzgerüsten aus geschaffen werden konnten, während sich in anderen Bereichen nur wenige Gemälde befinden? Und hatten die Darstellungen einen spirituellen Hintergrund? Hier sind unsere heiligen Tiere. Oder erfüllten sie einen praktischen Zweck? Das hier sind Tiere, die dich töten könnten.
In Lascaux gibt es außerdem einige Handnegative, wie Kunsthistoriker sie nennen. Man muss dazu eine Hand mit gespreizten Fingern auf den Fels der Höhle pressen und dann mit Wasser angerührtes Farbpigment auf die Wand sprühen, sodass nur der Bereich um die Hand herum gefärbt wird. Ähnliche Abbilder von Händen hat man in Höhlen auf der ganzen Welt gefunden — von Indonesien über Australien und Afrika bis nach Nord- und Südamerika, bis zu 40.000 Jahre alt. Die Handnegative lassen erahnen, wie anders das Leben in ferner Vergangenheit verlief — Umrisse von Händen mit drei oder vier Fingern sind in Europa häufig zu beobachten, wahrscheinlich Amputationen infolge von Erfrierungen. Das Leben war hart, und häufig war es kurz: Bis zu einem Viertel der Frauen starb bei der Geburt, und etwa die Hälfte der Kinder erreichte nicht das fünfte Lebensjahr.
Die Handnegative erinnern uns trotzdem daran, dass die Menschen der Vorzeit Menschen waren wie wir. Ihre Hände unterscheiden sich nicht von unseren. Mehr noch — wir wissen, dass sie uns auch in anderen Dingen glichen. Sie jagten und sammelten in der Gemeinschaft; Kalorien gab es nicht im Überfluss, also musste jeder Gesunde mithelfen und Nahrung und Wasser herbeischaffen — und doch fanden sie irgendwie die Zeit, Kunst zu erschaffen, fast als bliebe Menschen da keine Wahl.
Auf den Höhlenwänden der Welt finden sich Abbilder aller Arten von Händen — von Kindern wie von Erwachsenen —, aber fast immer sind die Finger ausgebreitet wie bei den Handnegativen meiner Kinder. Ich bin kein Jungianer, aber es ist faszinierend und irgendwie komisch, dass so viele Menschen der Steinzeit, die unmöglich miteinander in Verbindung gestanden haben konnten, ähnliche Darstellungen schufen, auf dieselbe Weise erzeugt — mit einer Technik, die wir bei Handnegativen auch heute noch benutzen.
Aber, wie gesagt, die Kunstwerke von Lascaux haben für mich wahrscheinlich eine andere Bedeutung als für die Menschen, die sie anfertigten. Der Paläoanthropologin Genevieve von Petzinger zufolge könnten die in bemalten Höhlen gefundenen abstrakten Punkte und Kringel eine frühe Form von Schrift sein, ein überregional einheitliches Sortiment von Bedeutungen.
Was hat die Menschen zur Abbildung ihrer Hände bewogen? Vielleicht geschah es im Rahmen religiöser Handlungen oder Übergangsrituale. Einige Wissenschaftler halten es für möglich, dass die Handnegative mit Jagdritualen zusammenhängen. Oder die Hand war einfach ein naheliegendes Modell, dort am Ende des Unterarms. Für mich sind die Handnegative ein »Ich war hier«. Sie sagen: »Du bist nicht neu.«
Die Höhle von Lascaux ist mittlerweile seit Jahren für Besucher geschlossen. Zu viele Menschen haben mit ihrem feuchten Atem dort zur Bildung von Schimmel und Flechten beigetragen und damit einen Teil der Kunstwerke beschädigt. Ich schätze manchmal ist es so, dass man etwas schon durch bloßes Anschauen zerstören kann. Die Entdecker der Höhle, Marcel Ravidat und Jacques Marsal, waren mit die Ersten, denen auffiel, wie der moderne Mensch der Kunst seiner fernen Vorfahren zusetzt.
Ihre Mitentdecker Simon Coencas und Georges Agniel trafen die beiden erst 1986 wieder, aber fortan sah sich die »kleine Bande« regelmäßig, bis sie einer nach dem anderen verstarben. Simon Coencas schied Anfang 2020 mit 93 Jahren als Letzter aus dem Leben. Die Menschen, die Lascaux entdeckten, sind also fort, und die Höhle selbst ist gesperrt und wird nur noch von den Wissenschaftlern besucht, die sich um ihre Erhaltung kümmern. Touristen können stattdessen Lascaux II, Lascaux III und Lascaux IV besichtigen, Nachbauten der Höhle mit detailgetreu kopierten Höhlenmalereien.
Wenn Menschen Höhlenkunst imitieren, um echte Höhlenkunst zu retten, kann man das als Extrembeispiel anthropozäner Absurdität sehen; ich gestehe, dass es mich unfassbar hoffnungsvoll stimmt, dass vier Teenager und ein Hund namens Robot eine Höhle mit 17.000 Jahre alten Handnegativen entdeckten, dass die beiden Jugendlichen, die dort bleiben konnten, sich voll und ganz dem Schutz der Höhle verschrieben und dass wir Menschen, als wir die Schönheit der Höhle in Gefahr brachten, uns darauf verständigen konnten, sie nicht mehr zu betreten.
Wir hätten die Malereien mit Graffiti verunstalten oder so lange in die Höhle steigen können, bis der schwarze Schimmel alle Farben weggefressen hätte. Aber das haben wir nicht getan. Wir haben die Bilder gerettet, indem wir sie eingeschlossen haben.
Die Höhlenmalereien von Lascaux existieren. Besuchen kann man sie nicht. Wir können den Nachbau besichtigen und dort praktisch identische Handnegative sehen, aber wir wissen: Es ist nicht die Sache selbst, nur ein Schatten. Es ist das Abbild einer Hand, keine Hand. Es ist eine Erinnerung, zu der man nicht zurückkehren kann — und damit gleicht die Höhle in vielem der Vergangenheit, für die sie steht.
Ich gebe den Höhlenmalereien von Lascaux viereinhalb Sterne.