Bis zum Erscheinen von Michael Crichtons Thriller Jurassic Park im Jahr 1990 waren Velociraptoren keine besonders bekannte Dinosaurierart. Das Buch über einen Park mit lebendigen Dinosauriern, die man aus DNA-Proben geklont hatte, wurde zu einem weltweiten Bestseller. Drei Jahre später erweckte Steven Spielberg die Dinosaurier in seiner Verfilmung durch Computeranimationen auf so furchterregende Weise zum Leben, wie es Kinogänger bis dahin nicht erlebt hatten. Selbst Jahrzehnte später wirken die Dinosaurier von Jurassic Park noch immer verblüffend lebensecht — etwa die Velociraptoren, die im Film als schuppige, etwa mannshohe, ehemals in Montana beheimatete Wesen dargestellt werden. In der Verfilmung sind sie nicht nur bösartig, sondern auch erschreckend intelligent. In Jurassic Park III behauptet jemand, Velociraptoren seien »schlauer als Delfine, schlauer als Primaten«. In den Filmen kommen sie dahinter, wie man eine Tür öffnet — meinen Bruder Hank hörte ich tatsächlich bei Jurassic Park zum allerersten Mal fluchen. Als die Velociraptoren den Türknopf drehten, murmelte mein 10-jähriger Bruder: »Oh Scheiße.«
Crichtons Velociraptoren wirken so erschreckend und bedrohlich, dass man eine Sportmarke nach ihnen benennen könnte, und als der US-Basketballbund NBA 1995 nach Kanada expandierte, wählte man in Toronto als Teamname tatsächlich »The Raptors«.
Heute zählt der Velociraptor neben dem Tyrannosaurus rex und dem Stegosaurus zwar zu den bekanntesten Dinosauriern, aber die Geschöpfe unserer Vorstellung haben mit den Kreaturen der Oberkreide vor etwa 70 Millionen Jahren ziemlich wenig gemein.
Das beginnt schon mal damit, dass Velociraptoren nicht im heutigen Montana, sondern in der Mongolei und China gelebt haben, daher der wissenschaftliche Name Velociraptor mongoliensis. Für Dinosaurier waren sie ziemlich schlau, aber eben nicht schlauer als heutige Delfine oder Primaten — eher wie Hühner oder Opossums. Mannshoch waren sie auch nicht, sondern etwa so groß wie ein Truthahn, aber mit einem gut einen Meter langen Schwanz. Man schätzt, dass sie weniger als 15 Kilogramm wogen, daher ist es schwer vorstellbar, dass sie einen Menschen hätten töten können. In Wahrheit waren sie wahrscheinlich Aasfresser, die sich vom Fleisch von Kadavern ernährten.
Außerdem waren Velociraptoren nicht beschuppt, sondern gefiedert. Das wissen wir, weil Paläontologen 2007 am Unterarm eines Fossils Federbälge nachweisen konnten; eigentlich war aber schon zu Crichtons Zeit bekannt gewesen, dass Velociraptoren und ihre Verwandten aus der Familie der Dromaeosauridae ein Federkleid besaßen. Geflogen sind Velociraptoren wohl nicht — ihre Vorfahren dagegen schon, und Mark Norell vom American Museum of Natural History meint dazu: »Je mehr wir über diese Tiere herausfinden, desto mehr erkennen wir, dass zwischen Vögeln und ihren direkten Dinosaurier-Ahnen — wie dem Velociraptor — im Grunde kein Unterschied besteht.« Beide besitzen ein Gabelbein, brüten in Nestern, haben hohle Knochen und sind gefiedert. Wenn es Tiere wie den Velociraptor heute noch gäbe, dann würden wir sie auf den ersten Blick wahrscheinlich für sehr seltsam aussehende Vögel halten.« Ein Museumsführer im Houston Museum of Natural Science hat mich kürzlich darauf hingewiesen, dass auf Bildern Vögel ohne Federn Dinosauriern sehr ähnlich sehen.
Manchmal scheinen Velociraptoren allerdings gejagt zu haben. In einer berühmten 1971 in der Mongolei entdeckten Fundstätte ist ein fossiler Velociraptor im Kampf mit einem etwa schweinsgroßen Protoceratops erhalten geblieben. Die sichelförmige Klaue des Velociraptor steckt offenbar tief im Hals des Protoceratops, während dieser seinem Angreifer gerade in den Arm beißt. Offenbar wurden beide im entscheidenden Augenblick vom Sand einer abrutschenden Düne verschüttet. Wie häufig Velociraptoren gejagt haben — ob erfolgreich und ob vielleicht im Rudel —, das wissen wir nicht.
Der Dinosaurier, der Crichton als Vorlage für seine Velociraptoren diente, war ein anderer: Deinonychus. Der hat tatsächlich im heutigen Montana gelebt und entspricht in Gestalt und Größe in etwa den Velociraptoren von Jurassic Park. Crichton wählte den Namen »Velociraptor«, weil er fand, dass der Name »dramatischer« klang. Aus demselben Grund heißt der Erlebnispark Jurassic Park, obwohl die meisten Dinosaurierarten der Handlung nicht im Jura lebten, der vor 145 Millionen Jahren zu Ende ging, sondern während der Kreidezeit. Diese endete vor 66 Millionen Jahren mit einem gewaltigen Artensterben, dem drei Viertel aller Pflanzen- und Tierarten zum Opfer fielen, darunter alle Großtiere, die wir heute zu den Dinosauriern zählen.
Und so sagt unsere Vorstellung von Velociraptoren mehr über uns aus als über sie. Im Ernst, selbst das, was wir tatsächlich über Dinosaurier wissen oder zu wissen glauben, ist dem ständigen Wandel unserer Vermutungen und Annahmen unterworfen — und davon werden sich einige als falsch erweisen. Im China der Kaiserzeit hielt man Dinosaurierfossilien für die Knochen von Drachen. Vom ersten von europäischen Wissenschaftlern beschriebenen Dinosaurierknochen, Teil des Oberschenkels eines Megalosaurus, glaubte man 1676, er stamme von Riesen, wie sie in der Bibel beschrieben wurden.*11
Megalosaurus wurde 1824 erstmals wissenschaftlich beschrieben, etwa ungefähr zu der Zeit, als die Paläontologin Mary Ann Mantell die ersten Fossilien von Iguanodon entdeckte. Der Tyrannosaurus rex erhielt seinen Namen erst 1905, und der erste fossile Velociraptor wurde 1924 beschrieben.
Seit mehr als einem Jahrhundert streiten sich Paläontologen darüber, ob der langhalsige Brontosaurus aus der Jurazeit überhaupt existiert hat oder ob es sich bei ihm nur um einen falsch zugeordneten Apatosaurus handelt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war der Brontosaurus Realität, wurde dann für den größten Teil des 20. Jahrhunderts zur Fiktion und ist seit einigen Jahren wieder Wirklichkeit. Die Geschichte ist neu, die Vorgeschichte ist neuer und das Fach Paläontologie noch neuer.
Was ich an den Velociraptoren wirklich seltsam finde, ist, dass ich eigentlich weiß, dass sie flugunfähige Raubvögel von der Größe eines Schwans waren, aber sobald ich sie mir vorzustellen versuche, sehe ich die Raptoren aus Jurassic Park vor mir. Die Fakten zu kennen, hilft mir nicht, mir die Wahrheit vorzustellen. Und darin liegen für mich Wunder und Schrecken von Computeranimationen: Wenn sie echt wirken, ist mein Gehirn ganz einfach nicht annährend ausgereift genug, zu erkennen, dass sie nicht echt sind. Seit Langem wissen wir, dass wir uns auf Bilder nicht verlassen dürfen — bei Kafka heißt es »nichts ist so trügerisch wie eine Fotografie« —, und trotzdem glaube ich ihnen immer wieder.
Genau wie der Velociraptor besitze ich für mein geologisches Zeitalter ein großes Gehirn, aber möglicherweise ist es nicht groß genug, um in der Welt, in der ich mich befinde, dauerhaft zu überleben. Meine Augen glauben immer noch, was sie sehen, obwohl optische Wahrnehmungen schon lange nicht mehr verlässlich sind. Trotzdem mag ich Raptoren — und zwar sowohl die, die ich gesehen habe, die nie existiert haben, und die, die gelebt haben, die ich aber nie gesehen habe.
Den Velociraptoren gebe ich drei Sterne.