Die Kanadagans ist ein schnatternder Wasservogel mit braunem Körper und schwarzem Hals, der sich in den letzten Jahren in den Vorstädten von Nordamerika, Europa und Neuseeland breitgemacht hat. Weil der Gesang der Kanadagans wie ein Ballon, der Luft verliert, klingt und sie außerdem dazu neigt, Menschen anzugreifen, ist es nicht leicht, sie zu lieben. Das gilt allerdings für die meisten von uns.
Derzeit gibt es zwischen vier und sechs Millionen Kanadagänse auf der Welt, was mir von Indianapolis aus gesehen eher zu niedrig angesetzt scheint, da sich in diesem Augenblick offenbar vier bis sechs Millionen Exemplare allein bei uns im Garten aufhalten. Wie auch immer, der Bestand an Kanadagänsen wächst weltweit, obwohl sie einmal äußerst selten waren. Die Unterart, die man in Parks und Rückhaltebecken am ehesten antrifft, die Riesenkanadagans, galt Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund unbegrenzter ganzjähriger Bejagung als ausgestorben.
Kanadagänse fielen besonders leicht auf den Lockvogel-Trick herein, bei dem Jäger eingefangene Gänse flugunfähig machten und in Teichen und auf Feldern hielten. Die Rufe dieser Gänse lockten Schwärme von wilden Gänsen an, die man dann leicht schießen konnte.
Die Jäger schwärmten oft von ihren Lockvögeln. Ein Mann namens Philip Habermann schrieb: »Den Lockvögeln bei der Arbeit zuzusehen und zuzuhören bereitete das gleiche Vergnügen wie die Jagd mit einem guten Hund« — was daran erinnert, dass wir Menschen zwischen Haus- und Beutetieren seit Langem merkwürdige Grenzen ziehen.
Im Jahr 1935 wurden Lockvögel allerdings verboten und die Bestände erholten sich — zuerst sehr langsam, dann aber eindrucksvoll.
Harold C. Hanson war Mitte Januar 1962 mit anderen Ornithologen damit beschäftigt, in Minnesota Gänse zu beringen, zu wiegen und zu messen. »An diesem denkwürdigen Tag«, schrieb er später, »blieb die Temperatur so um die minus achtzehn und es wehte ein starker Wind, aber das steigerte eher noch den Reiz des Unterfangens.« Die Gänse, die sie wogen, waren so riesig, dass die Forscher glaubten, ihre Waagen seien verstellt, aber nein: Es stellt sich heraus, dass die Riesenkanadagans überlebt hatte. Heute gibt es allein in Minnesota mehr als 100.000 Riesenkanadagänse. Auch standortfremde Vorkommen von Australien bis Skandinavien sind geradezu explodiert. In England hat sich der Bestand an Kanadagänsen in den letzten 60 Jahren verzwanzigfacht.
Diese Entwicklung beruht zum Teil auf den Gesetzen zum Schutz der Tiere, aber auch darauf, dass wir während der vergangenen Jahrzehnte jede Menge Flächen perfekt für sie eingerichtet haben. Unsere begrünten Vorstädte, die Parks am Flussufer und Golfplätze mit Wasserflächen bieten Kanadagänsen geradezu ideale Lebensbedingungen. Und besonders gern fressen sie die Samen von Poa pratensis, in den Vereinigten Staaten die Nutzpflanze mit der größten Verbreitung. Es wächst in unseren Parks und Vorgärten, und da es für uns Menschen nur von eingeschränktem Nutzen ist,*12 muss es den Gänsen vorkommen, als hätten wir es speziell für sie angepflanzt. Ein Vogelkundler bemerkte: »Gänseküken und ausgewachsene Tiere zeigten ab etwa 36 Stunden nach dem Schlüpfen eine ausgeprägte Vorliebe für Poa pratensis.«
Die Gänse fühlen sich auch auf dem Land in der Nähe von Flüssen und Seen wohl, aber das Verhältnis von Stadtgänsen zu Landgänsen entspricht in den Vereinigten Staaten in etwa dem bei Menschen. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt halten sich etwa 80 Prozent der amerikanischen Menschen im städtischen Raum auf. Bei den Kanadagänsen sind es etwa 75 Prozent.
Tatsächlich finden sich umso mehr Parallelen zwischen Kanadagänsen und Menschen, je genauer man hinschaut. Unsere Bevölkerungszahl hat während der vergangenen Jahrzehnte dramatisch zugenommen — um 1935, als die Lockvogeljagd auf Gänse in den USA verboten wurde, gab es auf der Erde nur gut 2 Milliarden Menschen. Im Jahr 2021 sind es mehr als 7 Milliarden. Wie Menschen bleiben auch Kanadagänse ein Leben lang mit ihrem Partner zusammen, manchmal auch unglücklich. Wie bei uns hat der Erfolg ihrer Art starken Einfluss auf ihren Lebensraum: Eine einzige Kanadagans kann im Jahr fast einen Zentner Kot produzieren, was in den Seen und Teichen, in denen sie sich tümmeln, zu bedenklichen Konzentrationen an Kolibakterien führt. Und genau wie wir haben die Gänse wenige natürliche Feinde. Einen gewaltsamen Tod sterben sie fast immer durch menschliche Gewalt. Wie wir.
Trotz ihrer perfekten Anpassung an den vom Menschen dominierten Planeten scheinen die Gänse für leibhaftige Menschen nichts als Verachtung übrig zu haben. Sie schreien, schnattern, stolzieren herum und beißen, um sich die Leute vom Hals zu halten, und lassen es sich doch gleichzeitig auf unseren künstlichen Gewässern und gepflegten Rasenflächen gut gehen. Umgekehrt betrachten viele von uns Kanadagänse inzwischen als Plage. Mich eingeschlossen.
Sie vermitteln mir aber auch das Gefühl, als gäbe es in meinem sterilen und biologisch eintönigen Vorstadtleben noch so etwas wie echte Natur. Auch wenn die Gänse zu etwas Normalem geworden sind, bleibt doch ein gewisses Staunen, wenn sie am Himmel in perfekter V-Formation über einen hinwegziehen. Ein Liebhaber sagte sogar einmal, dass die Kanadagans »die Fantasie anregt und den Puls beschleunigt«. Für mich haben die Gänse immer noch etwas Wildes, viel mehr als Tauben, Mäuse oder Ratten.
Das ist wahrscheinlich wie in einer Symbiose, bei der die Partner einander nicht besonders mögen, und dabei fällt mir ein: Kurz vor meinem Collegeabschluss war ich mit meiner Freundin in ihrem uralten blauen Auto zum Einkaufen unterwegs, als sie mich unvermittelt fragte, wovor ich am meisten Angst hätte.
»Vor dem Verlassenwerden«, antwortete ich. Ich fürchtete, mit der Collegezeit würde auch unsere Beziehung enden, und hoffte, sie würde mich beruhigen und mir versichern, dass ich mich nicht vor dem Alleinsein zu fürchten brauchte, weil sie immer da sein würde und so weiter. Sie war aber nicht der Typ Mensch für falsche Versprechungen, und das meiste, was zusammen mit dem Wort »immer« versprochen wird, ist nicht zu halten. Alles endet — zumindest alles, was Menschen bis jetzt beobachtet haben.
Als ich mit Verlassenwerden geantwortet hatte, nickte sie nur und ich überbrückte das peinliche Schweigen mit der Frage, was sie am meisten fürchte.
»Gänse«, sagte sie.
Kann man ihr das übel nehmen? Immerhin war es ein Schwarm von Kanadagänsen, der 2009 über New York in die Triebwerke von Flug 1549 der US Airways geriet und Kapitän Sully Sullenberger zu einer halsbrecherischen Wasserlandung auf dem Hudson zwang. Und ein kanadischer Radfahrer musste 2014 eine volle Woche ins Krankenhaus, weil ihn eine Kanadagans attackiert hatte.
Gegen das Verlassenwerden kann man etwas tun. Man kann seine Selbstständigkeit stärken oder ein größeres Netzwerk von gehaltvollen Beziehungen aufbauen, damit das psychische Wohlbefinden nicht nur an einer einzigen anderen Person hängt. Im Fall der Kanadagans hingegen kann man als Einzelner wenig tun.
Und das ist für mich eine der großen Merkwürdigkeiten des Anthropozäns. Was am Ende auch geschieht, uns gehört das Land. Wir sind es, die es bestellen, verändern oder eben auch schützen. Wir dominieren diesen Planeten in einem Maß, dass wir darüber entscheiden, welche Arten überleben dürfen und welche nicht, welche sich ausbreiten dürfen wie die Kanadagänse und welche allmählich verschwinden wie ihr Cousin, der Löffelstrandläufer. Als einzelner Mensch spüre ich diese Macht nicht. Ich kann nicht entscheiden, ob eine Spezies ausstirbt oder nicht. Ich kann nicht einmal meine Kinder dazu bringen, morgens zu frühstücken.
Im Alltagstrott des menschlichen Lebens muss immer ein Rasen gemäht, jemand zum Fußballtraining gefahren oder eine Hypothekenrate bezahlt werden. Und deshalb lebe ich mein Leben weiterhin so, wie es Menschen wohl schon immer getan haben, auf die richtige Art möglicherweise, oder die einzig mögliche. Ich mähe den Rasen aus Poa pratensis, als wären Rasenflächen etwas Natürliches, obwohl wir den amerikanischen Vorstadtrasen erst vor 160 Jahren erfunden haben. Und ich fahre zum Fußballtraining, obwohl das vor 160 Jahren noch gar nicht möglich war — nicht, weil es keine Autos gab, sondern weil Fußball noch gar nicht erfunden war. Und ich zahle die Hypothekenrate, obwohl Hauskredite, wie wir sie kennen, erst während der 1930er-Jahre größere Verbreitung fanden. Allzu vieles, das mir auf unausweichliche, unentrinnbare Weise menschlich vorkommt, ist in Wirklichkeit so nagelneu wie die Allgegenwart der Kanadagans. Die Kanadagans verunsichert mich — als Spezies ebenso wie als Symbol. In gewisser Hinsicht ist sie zu meiner schlimmsten Angst geworden.
Die Gans kann natürlich nichts dafür. Trotzdem kann ich den Kanadagänsen nur zwei Sterne geben.