Ich bin in Orlando im Bundesstaat Florida aufgewachsen, 25 Kilometer von Walt Disney Worlds Magic Kingdom entfernt, dem weltweit meistbesuchten Themenpark. In meiner Kindheit war Orlando derart touristisch, dass vor jedem Abflug am Flughafen folgende Botschaft ertönte: »Wir hoffen, Sie hatten einen schönen Aufenthalt.« Meine Eltern seufzten dann und murmelten: »Wir wohnen hier.«
Bei meinem ersten Besuch im Vergnügungspark im Jahr 1981 war ich vier und das Magic Kingdom zehn. Damals liebte ich den Park. Ich weiß noch, wie ich dort Goofy begegnete und mir erlaubte zu glauben, dass er es wirklich war. Ich hatte Angst bei der Snow-White-Themenfahrt, kam mir groß vor, weil ich für die Thunder-Mountain-Achterbahn schon alt genug war, und weiß noch, dass ich abends so müde war, dass ich mit dem Gesicht an der Scheibe unseres VW Rabbit einschlief.
Aber dann wurde ich älter. Als Teenager definierte ich mich vor allem durch das, das ich nicht mochte, und meine Abneigungen waren vielfältig. Ich hasste Kinderbücher, die Musik von Mariah Carey, Vorstadtarchitektur und Einkaufsmalls. Am meisten aber hasste ich Disney World. Meine Freunde und ich hatten ein besonderes Wort für die künstliche und kommerzialisierte Fantasie der Popmusik, der Themenparks und der Gute-Laune-Filme: Wir nannten das alles »Plastik«. Die Fernsehserie Full House war Plastik. Das neue Zeug von The Cure war irgendwie Plastik. Und Disney World? Mein Gott, Disney World war so was von Plastik.
Diese Lebensphase traf bei mir mit einem entsetzlichen Glücksfall zusammen. Meine Mutter bekam eine Auszeichnung für ihren Einsatz im Dienst der Allgemeinheit, verbunden mit vier Jahreskarten für Disney. Ich war vierzehn in diesem Sommer, und meine Familie schleppte mich ständig nach Disney World. Immer. Wieder.
Mir ist klar, dass ich nicht allzu viel Mitgefühl erwarten kann für das beklagenswerte Schicksal, dass ich einen Sommer lang Dutzende Male Disney World umsonst besuchen durfte. Aber mein vierzehnjähriges Ich hasste es. Das fing schon damit an, dass es dort immer brütend heiß war, und 1992 trug ich Trenchcoat, mit fast schon religiösem Treueeifer, was mit dem erdrückend feuchtheißen Sumpfklima von Zentral-Florida nicht besonders harmonierte. Der Mantel sollte mich ja vor der Welt und nicht vor dem Wetter schützen, und das tat er auch. Trotzdem schwitzte ich ständig, und ich muss anderen Parkbesuchern einen ziemlichen Anblick geboten haben — ein spindeldürrer Teenager mit einem knielangen jägergrünen Mantel, dem im Gesicht aus jeder Pore der Schweiß quoll.
Aber natürlich wollte ich, dass diese Leute vor mir erschraken, weil sie mich erschreckten. Mich stieß die Vorstellung ab, dass sie einem Unternehmen Geld gaben, um ihrem schrecklichen, armseligen Leben zu entfliehen, das schrecklich und armselig unter anderem deswegen war, weil die Bosse der Unternehmen alle Produktionsmittel kontrollierten.
Wie auch immer, irgendwie musste ich viele lange Sommertage in Disney World überstehen. Meistens ließ ich mich zuerst beim Eingang auf einer Bank nieder und kritzelte Schnipsel von Geschichten auf einen gelben Notizblock, irgendwann wurde es dann meist so unerträglich heiß, dass ich zur Hall of Presidents weiterging, wo man verglichen mit den anderen Attraktionen im Magic Kingdom auf wenige Besucher und eine gute Klimaanlage zählen konnte. Den Rest des Tages besuchte ich in der Hall of Presidents eine Vorstellung nach der anderen und schrieb die ganze Zeit weiter auf meinen Block. Eine während der Vorführung in der Hall of Presidents begonnene Geschichte war die erste, die ich je zu Ende geschrieben habe. Sie handelte von einem durchgeknallten Anthropologen, der eine Familie von Jägern und Sammlern kidnappt und nach Disney World bringt.*14
Die Hall of Presidents zählte schon am Eröffnungstag des Magic Kingdom im Jahr 1971 zu den Attraktionen und ist im Park seither eine feste Größe. Das Gebäude ist der Independence Hall in Philadelphia nachempfunden, wo einst über die US-Verfassung debattiert wurde. Die Besucher kommen zunächst in einen Warteraum mit Büsten mehrerer Präsidenten und außerdem einer Büste des Disney-Gründers Walt Disney, der dort als »ein amerikanisches Original« bezeichnet wird.
In der Hall of Presidents muss man praktisch nie warten und darf deswegen schon bald in den Theatersaal, wo einem gesagt wird, dass diese Sehenswürdigkeit dem Andenken von Walt Disney gewidmet ist. Mir ist das immer ein bisschen übertrieben vorgekommen, denn es steht ja nicht nur Disneys gemeißelter Kopf im Eingangsbereich — der ganze Park ist nach ihm benannt. Nachdem Disney Disney gedankt hat, läuft ein Film über die amerikanische Geschichte. Dann fährt die Leinwand hoch und gibt den Blick frei auf die wirklichen Stars der Show — lebensgroße animatronische Nachbildungen sämtlicher Präsidenten Amerikas. Die mechanischen Puppen sind auf gruselige Weise lebensecht und gleichzeitig entsetzlich roboterhaft — ein echter Abstieg in den Gruselgraben. Oder wie meine damals vierjährige Tochter beim Besuch der Hall of Presidents sagte: »Das sind KEINE Menschen.«
Nur ein paar der Präsidenten können auch sprechen. Der animatronische Abraham Lincoln steht auf und trägt die Gettysburg-Rede vor, und seit Anfang der 1990er-Jahre hält der animatronische aktuelle Präsident am Ende der Vorstellung eine Rede, und zwar mit seiner echten Stimme. Bei unserem Besuch im Jahr 2018 sagte der animatronische Donald Trump ein paar Sätze wie »Amerikaner zu sein bedeutet vor allem, Optimist zu sein«, was ein grundlegendes Missverständnis darüber offenbart, wie die Staatsangehörigkeit in Nationalstaaten verliehen wird.
Zwar werden in der Hall of Presidents die verschiedenen Gräuel der amerikanischen Geschichte nicht übergangen, aber gleichzeitig ist die Vorstellung auch eine hemmungslos patriotische Huldigung der Vereinigten Staaten und ihrer Präsidenten. Zum Schluss heißt es beispielsweise: »Unsere Präsidentschaft ist nicht mehr nur eine Idee. Sie ist eine Idee mit einer stolzen Geschichte.« Und ich würde tatsächlich unterschreiben, dass sie eine Idee mit einer stolzen Geschichte ist. Sie ist aber auch eine Idee mit vielen anderen Geschichten — einer beschämenden Geschichte, einer beklemmenden Geschichte und einer gewalttätigen Geschichte, unter anderen. Zu den Herausforderungen des Lebens in heutiger Zeit zählt für mich, herauszufinden, wie diese Geschichten nebeneinander existieren können, ohne sich gegenseitig aufzuheben. Aber die Hall of Presidents vertritt eher nicht den Anspruch, dass sie koexistieren müssen. Stattdessen beschwört sie eine Sicht auf die amerikanische Geschichte als Triumphzug herauf: Sicher, wir hatten ein paar Probleme, aber zum Glück konnten wir sie mit unserem unerschütterlichen Optimismus lösen, und schaut, wo wir jetzt stehen.
Zu den wichtigsten Institutionen des Anthropozäns zählen der Nationalstaat und die GmbH. Beide sind sehr mächtig und real — und irgendwie künstlich. Die Vereinigten Staaten sind nicht real, wie ein Fluss real ist, und die Walt Disney Company ebenso wenig. Beide sind Ideen, an die wir glauben. Natürlich haben die Vereinigten Staaten Gesetze und Abkommen und eine Verfassung und so weiter, aber all das kann letztlich nicht verhindern, dass ein Land zerfällt oder sogar verschwindet. Von der neoklassizistischen Architektur, die den USA einen Anstrich von Dauerhaftigkeit*15 verleihen soll, bis zu den Gesichtern auf unserem Geld muss uns Amerika beständig davon überzeugen, dass es real und gut und unserer Gefolgschaft würdig ist.
Und das unterscheidet sich nur wenig von dem, was die Walt Disney Company alles unternimmt, um ihrem Gründer zu huldigen und seine reiche Geschichte zu präsentieren. Sowohl die Nation als auch das Unternehmen können nur bestehen, wenn wenigstens einige Menschen an sie glauben. Und in dieser Hinsicht sind sie wirklich Magic Kingdoms.
Als Teenager stellte ich mir manchmal vor, wie es wäre, wenn wir alle nicht mehr an diese Konstrukte glaubten. Was würde geschehen, wenn wir uns von der Vorstellung verabschiedeten, die US-Verfassung sei das unserem Staat zugrunde liegende Dokument, oder wenn wir das Konzept der Nationalstaaten nicht mehr unterstützten? Vielleicht ist es typisch für Menschen im mittleren Lebensalter, dass ich mir heute bessere Nationalstaaten vorzustellen versuche (und besser reglementierte Privatunternehmen), anstatt diese Konzepte ganz aufzugeben. Unsere Vorstellungen von einer besseren Welt in die Tat umzusetzen ist eine schwere Aufgabe, die wir nur bewältigen werden, wenn wir uns ehrlich damit auseinandersetzen, was unsere Regierungen und Unternehmen uns glauben machen wollen und warum.
Bis dahin wird die Hall of Presidents sich für mich immer ein bisschen nach Plastik anfühlen. Ich gebe ihr zwei Sterne.