Ab der zehnten Klasse besuchte ich ein Internat in Alabama, wo ich mir mit meinem besten Freund Todd ein Zimmer teilte. Er sagte oft, ich würde mich, wenn er spät abends versuchte, in unserem Mehrbettzimmer ohne Klimaanlage einzuschlafen, in einen Stream-of-Consciousness-Roman verwandeln. Ich erzählte ihm alles — von jeder Interaktion mit meiner Flamme aus dem Englischunterricht, inklusive ausgewählter Zitate aus den Zetteln, die sie und ich im Unterricht austauschten; von den Gründen, aus denen es mir schlichtweg unmöglich war, meine längst fällige Geschichtshausarbeit einzureichen; von den komischen Dauerschmerzen an der Außenseite meines linken Knies; davon, wie viel Angst ich dabei gehabt hatte, hinter der Turnhalle eine Zigarette zu rauchen, weil in der Woche zuvor dort jemand erwischt worden war; und so weiter und so fort. Bis er irgendwann sagte: »Ernsthaft, Green. Ich liebe dich, aber ich muss jetzt schlafen.« Wir hatten keine Angst davor, uns gegenseitig zu sagen, dass wir uns liebten.
Hier ist meine Lieblingsgeschichte über Todd: Damals wurden die SATs (standardisierte Tests für die Universitätszulassung in den USA) in Alabama nur alle zwei Monate angeboten. Todd und ich schafften es, den letzten vor Ort stattfindenden Test vor unseren College-Bewerbungs-Deadlines zu verpassen, also mussten wir nach Georgia fahren, um ihn dort nachzuholen. Nach einer langen Autofahrt und einer Nacht im Motel kamen wir todmüde am Prüfungsort an, wo ich mich endlose vier Stunden lang zu konzentrieren versuchte. Als der Test endlich vorbei war, traf ich mich draußen mit Todd. Das Erste, was er zu mir sagte, war: »Was bedeutet prätentiös?« Ich sagte ihm, so etwas wie angeberisch und hochgestochen. Todd nickte stumm und sagte dann einen Moment später: »Cool. Alles richtig.«
Und das stimmte. Volle Punktzahl beim SAT.
*
Es war Todd, der auf die Idee kam, mich in die Schulmannschaft für den Academic Decathlon (nationaler Wissenswettbewerb für amerikanische Highschool-Schüler) zu holen, obwohl ich auf den ersten Blick der denkbar schlechteste Kandidat dafür war. Ich war in der Schule noch nie gut gewesen und war in gewisser Weise stolz darauf, dass ich »mein Potenzial nicht ausschöpfte«. Sicherlich auch, weil ich schreckliche Angst davor hatte, dass die Welt schnell merken würde, dass ich eigentlich gar nicht viel Potenzial hatte, wenn ich mich richtig anstrengen würde. Aber Todd sah in meinen schlechten Schulnoten keinen Nachteil, sondern eine Chance.
Im Academic Decathlon, der auch AcaDec genannt wird, gibt es zehn Disziplinen. 1994 gab es sieben »objektiv« beurteilbare Wettkämpfe mit Multiple-Choice-Tests: Ökonomie, Kunst, Sprache und Literatur, Mathe, Naturwissenschaft, Sozialwissenschaft und ein »Super-Quiz« im Bereich »Documents of Freedom« (etwa die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten). Außerdem gab es drei »subjektive« Wettkämpfe, die von einer Jury bewertet wurden — Essay, persönliches Interview und das Halten einer Rede.
Die AcaDec-Mannschaft einer Schule besteht aus neun Mitspielern: Aus drei Einser-Schülern, deren Notenpunktdurchschnitt (GPA) über 3,75 liegt; drei Zweier-Schülern mit GPAs über 3; und drei Dreier-Schülern, deren GPAs höchstens 2,99 betragen dürfen. Für alle Nichtamerikaner da draußen: Das bedeutet, dass drei Schülerinnen jeder Schulmannschaft hervorragende Noten haben, drei gute Noten haben müssen und drei … ziemlich mies in der Schule sein sollten. Und zufällig war ich ein ziemlich mieser Schüler. Todd war fest davon überzeugt, dass er mich mithilfe seiner Eselsgeduld als Lehrer und meinen schlechten Schulnoten zu einem AcaDec-Superstar machen konnte.
Also begannen wir ab der elften Klasse, gemeinsam zu lernen. Wir lasen ein Ökonomie-Lehrbuch von Anfang bis Ende durch, und immer, wenn ich etwas überhaupt nicht kapierte, übersetzte Todd mir das Thema in eine Sprache, die auch ich verstehen konnte. Als wir beispielsweise den Grenznutzen durchnahmen, erklärte er ihn mir mit Zima:
Er sagte: »Wenn du eine Zima trinkst, fühlst du dich gut. Nach zweien fühlst du dich noch besser, aber nicht doppelt so viel besser wie nach einer. Der zusätzliche Nutzen ist also kleiner und wird mit jeder Zima immer kleiner, bis sich die Kurve bei ungefähr fünf Zimas umdreht und du kotzen musst. Und das ist der Grenznutzen.«*22
Wir büffelten also Ökonomie, aber auch Kunstgeschichte, Chemie, Mathe und vieles andere. Durch die Vorbereitung auf den Academic Decathlon eignete ich mir Wissen über alles Mögliche an, von der Industalkultur bis zur Mitose. Und dank Todd wurde ich ein ziemlich brauchbarer AcaDec-Zehnkämpfer.
Ich will nicht wie ein Angeber klingen, aber beim Alabama State Academic Decathlon von 1994 war ich wirklich der Lionel Messi der Dreier-Schüler. Ich gewann bei sieben der zehn Wettkämpfe Medaillen — vier davon Gold. Ich gewann sogar eine Bronzemedaille in Mathe, obwohl ich im selben Jahr eine Vier in Vorkalkulation bekommen hatte. Zugegebenermaßen hätten meine Ergebnisse bei den Einser- oder Zweierschülern nicht für die Top Ten gereicht, aber gegen die musste ich ja schließlich auch nicht antreten. Zum ersten Mal in meiner gesamten Schullaufbahn fühlte ich mich nicht wie ein Vollidiot.
Ich gewann Goldmedaillen in Bereichen, in denen ich mich für einen Vollversager hielt — wie Literatur und Geschichte —, und auch eine für meine Rede, was mich besonders überraschte, weil öffentliches Sprechen noch nie meine Stärke gewesen war. Ich hasste meine Stimme, die allen verriet, wie rundum ängstlich ich war, und bei Debattierwettbewerben hatte ich immer total versagt. Aber beim AcaDec blühte ich endlich auf. Unsere Schule gewann den Bundesstaats-Wettbewerb und qualifizierte sich damit für den Nationalwettbewerb, der in jenem Jahr im Ballsaal eines Hotels in Newark, New Jersey, stattfinden würde.
Im Lauf der folgenden Monate wurden dank meines wachsenden akademischen Selbstvertrauens und der Lernmethoden, die Todd mir beigebracht hatte, auch meine Schulnoten besser. Ich lief kurz Gefahr, meinen begehrten Dreier-Schüler-Status zu verlieren, bis ich merkte, dass ich Physik in den Sand setzen und so meinen GPA unter 3 halten konnte.
In jenem April flogen wir neun und unsere Trainer nach Newark. Wir freundeten uns mit anderen Nerds aus dem ganzen Land an, darunter auch einer Dreier-Schülerin aus dem Mittleren Westen, deren Name Caroline war, wenn ich mich recht erinnere. Sie hatte einen gut gefälschten Ausweis und schaffte es, uns ein Zwölferpack Zima zuzuschmuggeln.
Todd war einer der besten Einser-Schüler beim Nationalwettbewerb, und unser kleines Team aus Alabama landete schließlich auf Platz 6 und gehörte damit zu den zehn besten der USA. Ich gewann sogar ein paar Medaillen. Eine für die freie Rede. In meiner Rede ging es um Flüsse. Ich weiß nicht mehr viel davon, aber ich glaube, ich sprach von Mäandern — den schlingenförmigen Kurven im Lauf eines Flusses. Ich liebe Flüsse, schon seit ich denken kann, und war mit meinem Dad einmal während der Sommerferien auf dem Noatak-River im nördlichen Alaska auf Kajaktour. Ein anderes Mal paddelten wir auf dem French Broad River in Tennessee.
Die Idee für die Rede hatte ich von Todd geklaut. Eines Abends im September waren wir am Ufer eines Baches gesessen, und in der schwülen, von Moskitos durchschwirrten Luft sagte Todd, was ihm an Flüssen so gut gefiel, sei, dass sie immer weiterflössen. Sie mäandern zwar hierhin und dorthin, aber sie machen immer weiter.
*
Es ist April im Jahr 2020. Ich bin inzwischen eine große Strecke flussabwärts von jenem Hotel-Ballsaal in Newark gelandet. Heute Morgen habe ich stundenlang versucht, den Kindern beim E-Learning zu helfen. Aber ich fürchte, mit meiner Ungeduld und Gereiztheit mache ich es ihnen nur noch schwerer. Meine Arbeit stresst mich, obwohl sie geradezu lächerlich systemirrelevant ist. Mittags gibt es neue Informationen über die Covid-19-Situation vom Gesundheitsamt von Indiana. Keine guten Nachrichten. Während die Kinder zu Mittag essen, lese ich die Updates auf meinem Handy. Sarah kommt nach unten und wir gehen ins Wohnzimmer, damit sie mir von unserem Freund erzählen kann, der mit Covid im Krankenhaus liegt. Es sind gute Nachrichten — unser Freund ist auf dem Weg der Besserung —, aber ich kann mich nicht darüber freuen. In mir ist nur Angst. Sie sieht mir das an, glaube ich, denn sie sagt: »Geh doch ein bisschen am Fluss spazieren.«
Zur Zeit fühle ich mich nur draußen wie ein normaler Mensch. Ich schreibe diese Sätze gerade am westlichen Ufer des White River, hier in Indianapolis. Ich habe mir einen Campingstuhl mitgebracht, sitze auf einer mit Gras bewachsenen Böschung und der Akku meines Laptops ist voll. Der Fluss vor mir ist eine Kakofonie aus Schlamm und Flutwasser. Alle paar Minuten rauscht ein entwurzelter Baum an mir vorbei flussabwärts. In trockenen Sommern kann ich durch dieses Stück Fluss waten, ohne mir den Saum meiner Shorts nass zu machen, aber jetzt ist hier ein fünf Meter tiefer, reißender Strom.
Seit Tagen schon weigert sich mein Gehirn, mich einen Gedanken zu Ende denken zu lassen, und unterbricht mich ständig mit Sorgen. Und sogar meine Sorgen werden unterbrochen — von neuen Sorgen oder Facetten alter Sorgen, über die ich bisher nicht angemessen nachgegrübelt habe. Meine Gedanken sind ein Fluss, der über die Ufer getreten ist; reißend, schlammig und unaufhörlich. Ich wünschte, ich hätte nicht immer so viel Angst — vor dem Virus natürlich, aber diese Angst geht noch tiefer: Es ist das Grauen vor dem Verstreichen der Zeit, das auch mich mit sich reißen wird.
Ich habe ein Buch von Terry Tempest Williams mitgebracht, aber die allgegenwärtigen Sorgen machen es mir unmöglich, länger als ein paar Minuten am Stück darin zu lesen. Beim Überfliegen der Seiten finde ich einen Absatz, den ich mir vor Jahren einmal angestrichen habe: »Wenn einer von uns sagt: ›Schau, dort ist doch nichts‹, dann sagen wir in Wirklichkeit: ›Ich kann nichts sehen.‹«
Von hier aus wird der White River in den Wabash fließen, dann in den Ohio und schließlich in den gewaltigen Mississippi, bis er schließlich im Golf von Mexiko mündet. Sogar danach wird er noch weitermachen — gefrierend, schmelzend, verdunstend, herabregnend, fließend, weder existent noch aufgelöst. Auf diesen Fluss zu blicken erinnert mich daran, wie ich mit Todd an jenem Bachufer gesessen habe und wie seine Liebe mich durch diese Jahre getragen hat und in gewisser Weise immer noch trägt.
Vielleicht haben auch Sie solche Menschen in Ihrem Leben; Menschen, deren Liebe Sie weitermachen lässt, selbst wenn sie jetzt aus zeitlichen und geografischen Gründen, und allem anderen, was sich zwischen uns drängen kann, weit weg sind. Todd und ich sind beide durch die Jahrzehnte getrieben — er ist inzwischen Arzt —, aber die Flussläufe unseres Lebens wurden durch die Augenblicke geformt, die wir flussaufwärts, nahe der Quelle verbrachten. Maya Jasanoff schrieb: »Ein Fluss ist der Handlungsstrang der Natur: Er bringt dich von hier nach dort.« Oder zumindest von dort nach hier.
Draußen geht das Leben weiter. Der Fluss mäandert, auch wenn er über die Ufer steigt. Ich schaue von meinem Laptop-Display auf den Fluss, dann wieder auf das Display und wieder zum Fluss. Aus mir unbekannten Gründen steigt plötzlich eine Erinnerung in mir auf: Nachdem die Nationalentscheidung des Academic Decathlon in Newark vorbei war, zogen wir mit unseren Zimas auf das Dach jenes Hotels — Todd, ein paar unserer Mannschaftskollegen und ich. Es war spät in der Nacht, und New York City glühte rosafarben in der Ferne. Wir waren das sechstbeste AcaDec-Team der USA, zogen den größtmöglichen Nutzen aus unseren Zimas und empfanden Liebe füreinander. Flüsse fließen weiter, und wir machen weiter, es gibt keinen Weg zurück auf jenes Hoteldach. Aber die Erinnerung gibt mir immer noch Halt.
Ich gebe dem Academic Decathlon viereinhalb Sterne.