Ich möchte gerne eine Geschichte über Freude, Erstaunen und Unvernunft erzählen. Es ist eine Sportgeschichte, und sie ist mir deshalb in den Sinn gekommen, weil ich im Mai 2020 schreibe, einem Augenblick, in dem — zum ersten Mal in meinem Leben — kein Sport stattfindet. Ich vermisse den Sport. Es ist mir klar, dass Sport vergleichsweise unwichtig ist, aber ich vermisse den Luxus, mich mit unwichtigen Dingen zu beschäftigen. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. soll (angeblich) einmal gesagt haben: »Von allen unwichtigen Dingen ist Fußball das wichtigste.« Und im Moment sehne ich mich nach den unwichtigen Dingen. Hier also eine Fußballgeschichte, die im Süden Polens beginnt, knapp hundert Kilometer entfernt von dem Ort, an dem Papst Johannes Paul II. geboren wurde.
Es ist 1984. In der kleinen Kohle-Bergbaustadt Szczygłowice lebt ein schlaksiges, zehnjähriges Bergarbeiterkind namens Jerzy Dudek. Die Bergbaugesellschaft hat einen Ausflug für Ehefrauen von Minenarbeitern organisiert, bei dem sie unter Tage gehen und den Kumpeln bei der Arbeit zusehen können. Jerzy und sein älterer Bruder Dariusz warten mit ihrem Vater draußen vor dem Mineneingang, während sich Renata Dudek Hunderte Meter tief in den Minenschacht begibt. Als sie zurückkehrt, beginnt sie, unter Tränen ihren Mann zu küssen. Dudek erinnerte sich später: »Sie rief uns her und sagte: ›Jerzy, Dariusz, versprecht mir, dass ihr nie da runter in die Mine geht.‹«
Jerzy und sein Bruder lachten nur. »Wir dachten: ›Was sollen wir denn sonst machen?‹«
Papst Johannes Paul II., den der kleine Jerzy sehr verehrte, lebte inzwischen im Vatikan, ein paar Kilometer entfernt vom Stadio Olimpico in Rom, wo in diesem Jahr das Europapokal-Endspiel stattfand. Später wurde das Turnier in Champions League umbenannt. In jenem Jahr standen sich im Finale die Lokalmatadoren des AS Roma und mein geliebter Liverpool Football Club gegenüber.*23
Liverpool hatte damals einen Torwart namens Bruce Grobbelaar, der selbst nach Torwart-Maßstäben ziemlich exzentrisch war. Er wärmte sich auf, indem er auf den Händen ging und sich vom Torrahmen baumeln ließ. Wenn seine Mannschaft verlor, trank er im Mannschaftsbus häufig Dutzende von Bieren.
In erster Linie kennt man Grobbelaar wegen dieses Europapokal-Endspiels im Jahr 1984. Das Spiel ging bis zu einem Elfmeterschießen, bei dem Grobbelaar aus unerfindlichen Gründen beschloss, nervös mit den Knien zu wackeln, als einer der Elfmeterschützen auf den Ball zurannte. Den Roma-Spieler brachten die Spaghetti-Beine des britischen Torhüters aus dem Konzept. Er schoss über das Tor hinaus, und Liverpool wurde zum vierten Mal Gewinner des Europapokals.
Zurück nach Polen. Der kleine Jerzy Dudek spielte für sein Leben gern Fußball, auch wenn es in seiner ärmlichen Gemeinde schwer war, an Lederbälle heranzukommen. Deshalb trainierten die Jungs meist mit Gummibällen oder sogar mit alten Tennisbällen. Torwart wurde er schließlich aufgrund seiner Körpergröße, doch zeigte er in dieser Position zunächst kein besonderes Geschick. »Du hechtest wie ein Kartoffelsack«, sagte sein erster Trainer zu ihm.
Mit siebzehn absolvierte Dudek eine Bergarbeiterlehre, in deren Rahmen er als Teil seiner beruflichen Ausbildung zwei Tage pro Woche in der Kohlengrube arbeitete. Er mochte vieles an seiner Arbeit. Er schätzte die Kameradschaft im Berg, das Gefühl der Verantwortung füreinander. Das Bergbauunternehmen hatte eine Fußballmannschaft, und Jerzy begann für sie zu spielen. Er konnte sich keine richtigen Torwarthandschuhe leisten, also trug er die Arbeitshandschuhe seines Vaters. Damit er sich aber wie ein richtiger Torhüter fühlen konnte, malte er ein Adidas-Logo darauf. Er wurde besser, hechtete nicht mehr wie ein Sack Kartoffeln, und mit neunzehn verdiente er umgerechnet gut hundert Dollar monatlich als Torwart einer semiprofessionellen Mannschaft. Daneben arbeitete er immer noch für die Bergbaugesellschaft. Im Alter von 21 Jahren kam er jedoch nicht mehr recht weiter. Später sagte er, er habe sich gefühlt, als würde er »in der Trostlosigkeit« versinken. Auch der Liverpool Football Club versank damals in Trostlosigkeit. Anfang der Neunziger war Liverpool häufig nicht einmal gut genug, um an der Champions League teilzunehmen, von einem Sieg ganz zu schweigen.
Im Jahr 1996, als Jerzy Dudek 22 Jahre alt war, wurde ein polnischer Erstligaklub auf ihn aufmerksam, der ihn für 400 Dollar monatlich unter Vertrag nahm. Mit diesem Schritt begann ein erstaunlicher Aufstieg für Dudek: Nach nur 6 Monaten wechselte er zum holländischen Team Feyenoord, wo er erstmals seinen Lebensunterhalt als Torwart bestritt. Nach ein paar Jahren bei Feyenoord unterzeichnete Dudek einen Vertrag mit Liverpool über mehrere Millionen Pfund.
Doch er war unglücklich. Er schrieb über die Zeit: »Die ersten paar Tage bei Liverpool waren die schlimmsten meines Lebens. Ich fühlte mich völlig allein. Ich war an einem neuen Ort mit einer neuen Sprache, die ich nicht beherrschte.« All diese Zitate stammen übrigens aus Dudeks Autobiografie, die er mit dem Titel A Big Pole in Our Goal versah. Dies war das Lied, das die Liverpool-Fans zur Melodie von »He’s Got the Whole World in His Hands« über ihn sangen. We’ve got a big Pole in our goal.
Bevor wir endlich zum 25. Mai 2005 kommen, möchte ich nur noch eine Sache anmerken. Profi-Torwarte verwenden eine Menge Zeit auf das Training von Elfmeter-Situationen. Jerzy Dudek hatte schon Tausende von Elfmetern durchgestanden, und er tat immer exakt dasselbe: Bis einen Moment vor dem Schuss stand er stocksteif in der Mitte des Tors, dann hechtete er in die eine oder in die andere Richtung. Immer. Ausnahmslos.
In der Saison 2004—2005 hatte Liverpool einen magischen Lauf in der Champions League. Im April bereitete sich die Mannschaft gerade auf das Viertelfinalspiel gegen den berühmten italienischen Klub Juventus Turin vor, als Papst Johannes Paul II. starb. Dudek landete für dieses Spiel auf der Ersatzbank — nach dem Tod seines Kindheitshelden konnte er nicht klar denken und war den Tränen nahe, als er dem Mannschaftsarzt gestand, dass er an jenem Abend nicht spielen könne. Trotzdem gewann Liverpool das Spiel und schaffte es schließlich bis ins Finale der Champions League, wo sie gegen AC Mailand antreten sollten.
Das Endspiel fand in Istanbul statt, und es begann für Dudek und Liverpool grauenhaft. Nach 51 Spielsekunden kassierten sie das erste Tor. Bis zur Halbzeit gelangen Mailand noch zwei weitere Tore. Dudeks Ehefrau, die daheim in Polen die Erstkommunion ihres gemeinsamen Sohnes vorbereitete, erinnerte sich, dass es in Szczygłowice »totenstill« war.
Über die Liverpooler Mannschaftskabine zur Halbzeit schrieb Dudek: »Alle waren geknickt.« Verteidiger Jamie Carragher sagte: »Meine Träume waren zu Staub zerfallen.« Die Spieler konnten hören, wie die 40.000 Liverpool-Fans oben auf den Rängen »You’ll Never Walk Alone« sangen, aber Carragher zufolge wussten sie, dass darin »mehr Mitleid als Glaube« mitschwang.
Den Rest des Spiels kenne ich auswendig, weil ich es schon so oft gesehen habe. Neun Minuten nach Beginn der zweiten Halbzeit landet der Liverpooler Kapitän Steven Gerrard mit einem graziösen Kopfball einen Treffer. Zwei Minuten später ein weiteres Tor und dann weitere vier Minuten später noch eins. Nun steht es 3 : 3. Das Spiel wird um 30 Minuten verlängert. Mailand macht Druck. Es ist offensichtlich, dass sie die bessere Mannschaft sind. Die Liverpooler Spieler sind erschöpft und hoffen nur noch auf ein Elfmeterschießen.
Und dann: Als nur noch 90 Sekunden der Verlängerung übrig sind, wehrt Jerzy Dudek zwei direkte Schüsse ab, die mit einer Sekunde Abstand erfolgen. Diese Ballabwehr ist so gut, dass ihr in A Big Pole in Our Goal ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Sie ist so gut, dass ich selbst heute, wenn ich 15 Jahre später eine Wiederholung sehe, immer noch denke, dass der Mailänder Spieler ins Tor treffen wird. Doch Jerzy Dudek gelingt die Ballabwehr jedes Mal, und es kommt zum Elfmeterschießen.
Stellen wir uns vor, wir wären Jerzy Dudek. Von Kindesbeinen an haben wir Elfmetersituationen trainiert und eine eigene Methode dafür entwickelt. Wir sind nachts wach gelegen und haben uns diesen Moment vorgestellt. Das Finale der Champions League, Elfmeterschießen, wir stehen im Tor, stocksteif bis kurz vor dem Moment, in dem der Ball geschossen wird. Doch dann, wenige Augenblicke vor Beginn des Elfmeterschießens, rennt plötzlich Jamie Carragher zu uns herüber. Er springt uns auf den Rücken und fängt an zu schreien. »Carra kam auf mich zu, als wäre er verrückt geworden«, erinnerte sich Dudek. »Er packte mich und sagte: »Jerzy, Jerzy, Jerzy, erinnere dich an Bruce Grobbelaar.‹« Carragher schrie ihn an: Wackel mit den Knien! Beweg dich um die Torlinie! So wie 1984! Doch das war 21 Jahre her — mit anderen Spielern, einem anderen Trainer und einem anderen Gegner. Was könnte jener Augenblick mit diesem zu tun haben?
Es gibt Momente im Leben, in denen man alles genauso macht, wie man es geübt und vorbereitet hat. Dann aber gibt es Momente, in denen man auf Jamie Carragher hört. Im wichtigsten Moment seines Berufslebens beschloss Jerzy Dudek daher, etwas Neues auszuprobieren.
Seine Spaghetti-Beine sahen nicht ganz so aus wie die von Grobbelaar, aber er tänzelte auf der Torlinie und wackelte mit seinen Beinen in alle Richtungen. »Ich erkannte meinen Ehemann nicht wieder«, sagte Mirella Dudek. »Ich konnte nicht fassen, dass er … so verrückt im Tor herumtanzte.«
Bis auf einen traf Liverpool mit allen Elfmetern. Für Mailand lief die Geschichte anders. Angesichts des tanzenden Dudek verfehlte der erste Elfmeterschütze das Tor komplett, dann rettete Dudek zwei der folgenden Elfmeter, und Liverpool vollendete, was bald als »Wunder von Istanbul« in die Fußballannalen einging.
Jemand sage dem zehnjährigen Jerzy Dudek, dass er durch eine vollkommen unorthodoxe Entscheidung zwei Elfmeter in einem Europapokal-Finale abwehrt. Jemand sage dem 21-jährigen Jerzy Dudek, der für 1800 Dollar im Jahr spielt, dass er ein Jahrzehnt später den Europapokal in Händen halten wird.
Man kann die Zukunft nicht vorhersehen — nicht die Schrecken, natürlich nicht, aber auch nicht die bevorstehenden Wunder, die Augenblicke lichtdurchfluteter Freude, die jeden von uns erwarten. Dieser Tage stelle ich mir oft vor, wie Jerzy Dudek bei einem Stand von drei zu null zur zweiten Halbzeit auf den Rasen trat und sich so hoffnungslos fühlte, wie ich mich heute hilflos fühle. Aber von allen unwichtigen Dingen ist Fußball das wichtigste, denn zu sehen, wie Jerzy Dudek nach diesem letzten Elfmeter davonrennt, um nicht von seinen Mannschaftskameraden erdrückt zu werden, erinnert mich daran, dass auch ich eines Tages — und vielleicht sogar bald — von Menschen umarmt werde, die ich liebe.
Es ist jetzt Mai 2020, 15 Jahre nach Dudeks Spaghetti-Beinen, und irgendwann wird auch das hier vorbei sein, und die lichtdurchfluteten Tage werden kommen.
Ich gebe Jerzy Dudeks Leistung am 25. Mai 2005 fünf Sterne.