Volkszählungsunterlagen zufolge arbeitete mein Urgroßvater Roy 1920 in einem Lebensmittelgeschäft in einer winzigen Stadt im westlichen Tennessee. Wie in allen US-amerikanischen Lebensmittelgeschäften Anfang des 20. Jahrhunderts gab es auch in diesem keine Selbstbedienung: Man ging mit einer Liste der benötigten Waren in den Laden, und dann suchte der Lebensmittelhändler — vielleicht mein Urgroßvater — die Sachen zusammen. Er wog das Mehl oder Maismehl, die Butter oder die Tomaten ab und packte dann alles ein. Im Geschäft meines Urgroßvaters konnten Kunden wahrscheinlich auch auf Kredit einkaufen, was damals vollkommen üblich war. Normalerweise bezahlten die Kunden ihre Lebensmittelrechnung dann nach und nach ab.
Dieser Job hätte für meinen Urgroßvater eigentlich der Weg aus der Armut sein sollen, aber das klappte leider nicht. Stattdessen musste der Laden schließen, und zwar teilweise dank der von Clarence Saunders begonnenen Selbstbedienungsgeschäft-Revolution. Sie sollte die Art, wie Amerikaner einkauften, kochten, aßen und lebten von Grund auf verändern. Saunders war der Sohn verarmter Wanderarbeiter, der sich alles, was er wusste, selbst beigebracht hatte. Irgendwann landete er schließlich in der Einzelhandelsbranche von Memphis, Tennessee, etwa hundert Meilen südwestlich vom Geschäft meines Urgroßvaters. Saunders war fünfunddreißig, als er das Konzept für ein Lebensmittelgeschäft entwickelte, das keinen Tresen mehr hatte, sondern aus einem Labyrinth aus Regalen bestand, in dessen Gängen die Kunden selbstständig herumlaufen, ihre Lebensmittel selbst aussuchen und in ihre eigenen Einkaufskörbe legen konnten.
Die Preise in Saunders’ Selbstbedienungs-Lebensmittelgeschäft würden niedriger sein als überall sonst, da in seinen Läden weniger Angestellte beschäftigt werden mussten und er den Kunden keinen Kredit mehr geben, sondern auf sofortiger Bezahlung bestehen wollte. Außerdem sollten die Preise eindeutig und transparent sein — zum ersten Mal würde jede Ware im Geschäft mit einem Preisschild versehen, damit die Kunden nicht länger fürchten mussten, von skrupellosen Lebensmittelhändlern übers Ohr gehauen zu werden. Saunders nannte sein Geschäft Piggly Wiggly.
Warum? Das weiß niemand. Saunders antwortete einmal auf die Frage, woher der Name stamme: »Aus dem Chaos, und dem direkten Kontakt zum Geist eines Individuums«, was uns einen Eindruck von seiner Persönlichkeit vermittelt. Normalerweise antwortete Saunders aber auf die Frage, warum jemand einen Lebensmittelladen Piggly Wiggly nennen würde, immer dasselbe: »Damit die Leute genau diese Frage stellen.«
Der erste Piggly Wiggly eröffnete 1916 in Memphis. Er war so erfolgreich, dass nur drei Wochen später der zweite Piggly Wiggly öffnete. Zwei Monate danach öffnete bereits der nächste. Saunders bestand darauf, das Geschäft »Piggly Wiggly III.« zu nennen, um seinen Läden »die ihnen angemessene »königliche Würde« zu verleihen. Er begann, die Schilder an seinen Geschäften mit dem Slogan »Piggly Wiggly: All Around The World« zu ergänzen. Damals gab es die Läden noch nicht mal in ganz Memphis, aber Saunders Prophezeiungen bewahrheiteten sich: Nach nur einem Jahr existierten in den USA 353 Piggly Wigglys, und bis heute hat sich Saunders’ Konzept des Selbstbedienungsgeschäftes tatsächlich auf der ganzen Welt verbreitet.
In Zeitungsanzeigen beschrieb Saunders sein Selbstbedienungskonzept beinahe messianisch: »Eines Tages wird Memphis stolz auf Piggly Wiggly sein«, stand in einer zu lesen. »Und das Ziel aller Menschen wird sein, dass die Piggly Wigglys sich vermehren und die Erde mit sauberen, üppig vorhandenen Nahrungsmitteln neu beleben.« In einer anderen Anzeige schrieb er: »Der mächtige Rhythmus, in dem die Gegenwart pulsiert, erschafft Neues aus Altem und Neues aus dem Nichts.« Im Grunde genommen sprach Saunders von Piggly Wiggly genau so, wie Silicon-Valley-Manager heute von ihren Unternehmen sprechen: Wir scheffeln hier nicht nur Geld, wir beleben die Welt neu.
Piggly Wiggly und die Selbstbedienungsläden, die ihm folgten, senkten tatsächlich die Preise, was bedeutete, dass es nun mehr zu essen gab. Sie veränderten auch, welche Lebensmittel besonders zahlreich zur Verfügung standen — um Kosten zu sparen und möglichst wenig wegwerfen zu müssen, bot Piggly Wiggly weniger frische Nahrungsmittel an als traditionelle Lebensmittelhändler. Abgepackte, industriell verarbeitete Lebensmittel wurden beliebter und billiger, was den amerikanischen Ernährungsstil völlig veränderte. Marken wurden ebenfalls extrem wichtig, denn Lebensmittel-Firmen mussten die Kunden direkt ansprechen, was dazu führte, dass im Radio und in der Zeitung immer mehr kundenorientierte Lebensmittelwerbung auftauchte. Die Beliebtheit landesweit erhältlicher Marken wie Campbell-Suppen oder OREO-Kekse explodierte geradezu; 1920 war Campbell die meistverkaufte Suppenmarke der USA und OREO die erfolgreichste Keksmarke — und das sind sie auch heute noch.
Selbstbedienungsgeschäfte sorgten auch für den Aufstieg vieler anderer Fertignahrungsmarken. Wonder Bread. MoonPies. Hostess CupCakes. Birds-Eye-Tiefkühlgemüse. Wheaties-Cerealien. Reese’s Peanut Butter Cups. French’s Senf. Klondike-Schokoriegel. Velveeta-Käse. All diese Marken und viele mehr kamen in den USA im Jahrzehnt nach der Eröffnung des ersten Piggly Wiggly auf den Markt. Clarence Saunders verstand die neuen Überschneidungen zwischen Massenmedien und Markenbewusstsein besser als fast jeder andere, und Anfang der 1920er-Jahre war Piggly Wiggly zum größten Werbekunden der amerikanischen Zeitungen geworden.
Niedrige Preise und weniger Verkäufer bedeutete allerdings auch, dass viele Angestellte in traditionellen Lebensmittelgeschäften ihre Stellen verloren, darunter auch mein Großvater. An unserer Angst davor, dass Automatisierung und Effizienzsteigerung Menschen arbeitslos machen könnten, ist also wirklich nichts neu. In einer Zeitungsanzeige präsentierte Saunders einmal eine Frau, die zwischen ihrer langjährigen Kundentreue zu ihrem freundlichen Lebensmittelhändler und den ach so günstigen Preisen im Piggly Wiggly hin- und hergerissen ist. Der Text endete damit, dass Saunders an eine Tradition appellierte, die sogar noch älter ist als die der Tante-Emma-Läden. Die Frau in der Anzeige erzählte: »Meine holländische Großmutter lebte vor langer Zeit und war sehr sparsam. Genau in diesem Moment ergriff der Geist dieser alten Großmutter von mir Besitz und erklärte mir: ›Geschäft ist Geschäft. Wohltätigkeit und Almosen haben damit nichts zu tun.‹« Unsere Einkäuferin war bekehrt und kaufte fortan nur noch bei Piggly Wiggly ein.
1922 gab es mehr als 1000 Piggly Wigglys in den USA, und das Unternehmen war an der New Yorker Börse gelistet. Saunders baute sich ein 3500-Quadratmeter-Anwesen in Memphis und stiftete die Universität, die heute als Rhodes College bekannt ist. Aber die fetten Jahre währten nicht ewig. Nachdem ein paar Piggly-Wiggly-Filialen im Nordosten schließen mussten, begannen die Investoren mit dem Blankoverkauf von Aktien — weil sie darauf wetteten, dass die Preise fallen würden. Saunders reagierte damit, dass er versuchte, mit geliehenem Geld alle erhältlichen Piggly-Wiggly-Aktien aufzukaufen, aber diese Aktion scheiterte spektakulär. Saunders verlor Piggly Wiggly und ging bankrott.
Mit seiner Wut auf die Wall-Street-Fixer nahm er das Verhalten heutiger Firmentitanen genauso vorweg wie mit seinem Vertrauen in die Werbung und seinem Beharren auf Hyper-Effizienz. Vielen Berichten zufolge war Saunders ein Tyrann — er war ausfallend und grausam und hielt sich für das größte Genie aller Zeiten. Nachdem er sein Unternehmen verloren hatte, schrieb er: »Sie haben mir alles genommen, was ich aufgebaut habe, die besten Geschäfte dieser Art, die es auf der Welt gibt. Aber den Vater dieser Idee bekommen sie nicht. Sie besitzen zwar Piggly Wigglys Leib, aber nicht seine Seele.« Saunders entwickelte rasch ein neues Geschäftskonzept. Diesmal sollten Regalgänge und Selbstbedienung mit Verkäufern an Fleischtheke und Backstube kombiniert werden. Damit hatte er im Endeffekt das Supermarkt-Modell erfunden, das bis ins 21. Jahrhundert hinein die Welt unangefochten beherrschen sollte.
Weniger als ein Jahr später war sein Geschäft eröffnungsbereit, aber die neuen Besitzer von Piggly Wiggly zerrten ihn vor Gericht, weil sie der Meinung waren, es würde Piggly Wigglys Marken- und Patentrechte verletzen, wenn Clarence Saunders einem neuen Lebensmittelgeschäft seinen Namen verlieh. Saunders nannte sein neues Geschäft daraufhin trotzig »Clarence Saunders: Sole Owner of My Name«, wahrscheinlich der einzige Unternehmensname, der noch blöder klang als Piggly Wiggly.
Dennoch war das Konzept ein enormer Erfolg, und Saunders machte sein zweites Vermögen, als die Sole-Owner-Filialen sich im gesamten Süden der USA ausbreiteten.
Als Nächstes investierte er in eine Profi-Footballmannschaft in Memphis, die er The Clarence Saunders Sole Owner of My Name Tigers nannte. Kein Witz. Sie spielten vor riesigen Zuschauermengen in Memphis gegen die Green Bay Packers und die Chicago Bears, und sie wurden sogar in die NFL eingeladen. Aber Saunders lehnte die Einladung ab. Er wollte weder seine Einkünfte teilen noch seine Mannschaft zu Auswärtsspielen schicken. Er versprach aber, den Tigers ein Stadion zu bauen, in dem mehr als 30.000 Zuschauer Platz finden würden. »Das Logo des Stadions wird die Piratenflagge sein«, schrieb er. »Zum Gedenken an all die Feinde, die ich niedergestreckt habe.«
Aber nur ein paar Jahre später wurden die Sole-Owner-Geschäfte selbst von der Weltwirtschaftskrise niedergestreckt, die Footballmannschaft aufgelöst und Saunders war schon wieder pleite. Währenddessen ging es dem seelenlosen Leib von Piggly Wiggly ohne Saunders ziemlich gut — auf dem Höhepunkt der Beliebtheit der Supermarktkette 1932 gab es mehr als 2500 Piggly Wigglys in den USA. Selbst im Jahr 2021 gibt es noch mehr als 500 Filialen, hauptsächlich im Süden der Vereinigten Staaten, aber wie viele andere Einzelhändler haben auch sie mit der Konkurrenz durch Riesen wie Walmart oder Dollar General zu kämpfen, die ihre Preise niedriger halten können als traditionelle Supermärkte, indem sie sogar noch weniger frische Lebensmittel anbieten und Verkäufer anstellen als die heutigen Piggly Wigglys.
Heutzutage werden in der Piggly-Wiggly-Werbung Tradition und das Menschliche in den Vordergrund gestellt. In einem Piggly-Wiggly-Fernsehwerbespot aus Nord-Alabama von 1990 fiel der Satz: »Piggly Wiggly — von Freunden für Freunde«, eine Rückbesinnung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Saunders in der Anzeige mit der holländischen Großmutter damals so verhöhnt hatte. Der mächtige Rhythmus, in dem die Gegenwart pulsiert, macht zwar wirklich Neues aus Altem — aber eben aus Neuem auch Altes.
Heute sind die Preise für Lebensmittel im Verhältnis zum amerikanischen Durchschnittseinkommen in den USA niedriger als jemals zuvor, aber wir ernähren uns häufig ziemlich schlecht. Der durchschnittliche Amerikaner nimmt mehr Zucker und Salz zu sich, als gut für ihn ist, vor allem in Form von industriell verarbeiteten, abgepackten Nahrungsmitteln. Mehr als 60 Prozent aller von Amerikanern konsumierten Kalorien stammen aus sogenannten »Fertignahrungsmitteln« wie den OREO-Keksen und den Milky-Way-Riegeln, die ihren Triumphzug in den ersten Piggly-Wigglys begannen. Clarence Saunders ist natürlich nicht der Grund für diese Entwicklung. Wie wir alle wurde auch er von Kräften gesteuert, die viel größer sind als einzelne Individuen. Er verstand einfach, wonach Amerikaner bald verlangen würden — und er gab es ihnen.
Nach Saunders’ zweitem Bankrott versuchte er jahrzehntelang, ein weiteres neues Verkaufskonzept zu etablieren. Der Keedoozle war ein vollautomatischer Laden, der aus aneinandergereihten Verkaufsautomaten bestand, an denen man beinahe ohne menschliche Interaktion Lebensmittel kaufen konnte. Aber die Automaten gingen oft kaputt, und die Kunden fanden den Einkauf dort zu mühsam und umständlich. Der Keedoozle war nie wirklich profitabel. Der Self-Check-out-Prozess, den Saunders sich vorgestellt hatte, sollte erst viele Jahrzehnte später Wirklichkeit werden.
Mit zunehmendem Alter wurde Saunders immer giftiger und unberechenbarer. Sein psychischer Zustand begann immer instabiler zu werden, und schließlich ließ er sich in ein Sanatorium einliefern, in dem Patienten mit Angststörungen und Depressionen langfristig behandelt wurden.
Das Anwesen, das Saunders mit seinem ersten Vermögen gebaut hatte, wurde zum Pink Palace Museum, Memphis’ Museum für Wissenschaft und Geschichte. Das Herrenhaus, das er mit seinem zweiten Vermögen erbaut hatte, wurde das Lichterman Nature Center. 1936 schrieb der Journalist Ernie Pyle: »Wenn Saunders lange genug lebt, wird Memphis allein durch die Gebäude, die er gebaut und verloren hat, die schönste Stadt der Welt werden.«
Aber Saunders schaffte es nicht mehr, auch noch ein drittes Vermögen anzuhäufen. Er starb 1953 mit 72 Jahren im Wallace-Sanatorium. In einem Nachruf auf ihn stand: »Manche Männer werden durch ihre Erfolge berühmt. Andere durch ihre Misserfolge.«
Saunders war ein unermüdlicher Innovator, der die Stärke von Marken und Effizienz verstand und nutzen konnte. Außerdem war er bösartig und rachsüchtig. Er war ein Versicherungsbetrüger, und mit seiner Hilfe wurde ein Zeitalter eingeläutet, in dem Nahrung zwar satt macht, aber nicht mehr nährt.
Aber wenn ich an Piggly Wiggly denke, dann meistens deshalb, weil es mir zeigt, dass die großen Fische größer werden, weil sie die kleinen fressen. Piggly Wiggly fraß die kleinen Tante-Emma-Läden und wird nun seinerseits von Riesen wie Walmart aufgefressen. Und diese Giganten werden irgendwann von Amazon und Co. gefressen werden.
James Joyce nannte Irland einmal »die alte Sau, die ihre Ferkel frisst«. Aber neben dem amerikanischen Kapitalismus sieht Irland ziemlich harmlos aus.
Ich gebe Piggly Wiggly zweieinhalb Sterne.