Hauptdarsteller des Films Mein Freund Harvey ist Jimmy Stewart in der Rolle des Elwood P. Dowd, eines Alkoholikers, dessen bester Freund ein über zwei Meter großer, unsichtbarer weißer Hase namens Harvey ist. Für ihre Darstellung von Elwoods Schwester Veta, die mit sich kämpft, ob sie Elwood in ein Sanatorium einweisen lassen soll, wurde Josephine Hull mit einem Oscar ausgezeichnet. Der auf Mary Chases gleichnamigem, Pulitzer-Preis-gekröntem Drama basierende Film kam 1950 in die Kinos und war ein sofortiger Kritiker- und Publikumserfolg.*26
Meine Geschichte von Harvey beginnt jedoch Anfang des Winters 2001, kurz nachdem ich etwas erlitten hatte, was man früher als Nervenzusammenbruch bezeichnete. Damals arbeitete ich für die Zeitschrift Booklist und lebte in der Near North Side von Chicago in einem kleinen Apartment, das ich bis vor Kurzem mit der Frau geteilt hatte, von der ich dachte, ich würde sie heiraten. Damals dachte ich, dass unsere Trennung zu meiner Depression geführt hätte, aber heute ist mir klar, dass meine Depression zumindest teilweise der Grund für die Trennung gewesen war. Jedenfalls war ich allein, umgeben von unseren ehemals gemeinsamen Habseligkeiten, und versuchte, mich um unsere ehemals gemeinsame Katze zu kümmern.
Susan Sontag schrieb, eine Depression sei »Melancholie ohne deren Reize«. Für mich war das Leben mit einer Depression gleichzeitig furchtbar langweilig und absolut schmerzhaft. Der psychische Schmerz überwältigte mich und beherrschte meine Gedanken derart, dass ich am Ende keine Gedanken mehr hatte, sondern nur noch Schmerz empfand. In seinem autobiografischen Werk Darkness Visible schreibt William Styron: »Was den Zustand unerträglich macht, ist das Wissen, dass es kein Heilmittel geben wird — nicht in einem Tag, einer Stunde, einem Monat oder einer Minute. Mehr noch als durch den Schmerz wird die Seele durch diese Hoffnungslosigkeit erdrückt.« Ich finde, dass auch Hoffnungslosigkeit eine Art Schmerz ist. Einer der schlimmsten. Für mich ist Hoffnung keine philosophische Übung oder sentimentale Vorstellung, sondern eine Überlebensstrategie.
Im Winter 2001 wusste ich, dass es kein Heilmittel geben würde, und das war schlimm. Bald war ich nicht mehr in der Lage, feste Nahrung zu mir zu nehmen, also trank ich jeden Tag zwei Zwei-Liter-Flaschen Sprite, was zwar ungefähr meinen Kalorienbedarf deckte, aber nicht gerade eine ideale Art der Ernährung war.
Ich erinnere mich, dass ich jeden Tag von der Arbeit nach Hause kam und mich auf den abgewetzten Linoleumfußboden unserer ehemals gemeinsamen Küche legte. Von dort blickte ich durch die Sprite-Flasche zu dem grünen, parabolischen Rechteck des Küchenfensters. Ich beobachtete die Blasen in der Flasche, die an deren Boden hingen und versuchten, dort zu bleiben, aber unweigerlich an die Oberfläche trieben, und ich dachte darüber nach, dass ich nicht denken konnte. Ich spürte, wie der Schmerz wie eine Atmosphäre auf mir lastete. Ich wollte nur noch eins: den Schmerz loswerden, mich von ihm befreien.
Schließlich kam ein Tag, an dem ich nicht mehr von dem Linoleumfußboden aufstehen konnte, und ich verbrachte einen sehr langen Sonntag damit, allerlei Möglichkeiten durchzuspielen, wie sich die Situation von selbst bessern könnte. An jenem Abend rief ich, Gott sei Dank, bei meinen Eltern an, und sie gingen, Gott sei Dank, ans Telefon.
Meine Eltern sind viel beschäftigte Menschen mit einem anstrengenden Alltag, die 2400 Kilometer von Chicago entfernt leben. Keine zwölf Stunden nach meinem Anruf waren sie in meinem Apartment.
Rasch zeichnete sich ein Plan ab. Ich würde meinen Job kündigen, zurück nach Florida gehen, dort täglich Therapie in Anspruch nehmen oder sogar stationär behandelt werden. Sie räumten meine Wohnung aus. Meine Ex-Freundin war freundlicherweise bereit, die Katze zu sich zu nehmen. Nun blieb nur noch, dass ich meinen Job kündigen musste.
Ich liebte die Arbeit bei Booklist, und ich mochte meine Kollegen, aber ich wusste auch, dass mein Leben in Gefahr war. Unter Tränen sagte ich meinem Vorgesetzten, dass ich gehen müsse. Er umarmte mich, während ich weinte, dann sagte er, ich solle mit dem Herausgeber Bill Ott sprechen.
Für mich war Bill wie eine Figur aus einem klassischen Kriminalroman. Sein präziser Scharfsinn ist gleichermaßen beeindruckend und einschüchternd. Als ich sein Büro betrat, war er von Druckfahnen der Zeitschrift umgeben und blickte nicht auf, bis ich die Tür schloss. Ich sagte ihm, dass etwas mit meinem Kopf nicht stimme, dass ich seit ein paar Wochen keine feste Nahrung zu mir genommen hätte und dass ich kündigte, um wieder heim zu meinen Eltern nach Florida zu ziehen.
Als ich fertig war, schwieg er lange Zeit. Bill war ein Meister der Pause. Dann sagte er: »Also, warum gehst du nicht einfach ein paar Wochen lang nach Hause und schaust, wie es dir dann geht.«
Ich sagte: »Du wirst aber jemanden brauchen, der die Arbeit erledigt.«
Erneut machte er eine Pause. »Versteh das nicht falsch, mein Junge, aber ich glaube, das kriegen wir hin.«
Irgendwann an jenem Nachmittag musste ich mich erbrechen — vielleicht lag es an dem exzessiven Sprite-Konsum —, und als ich an meinen Schreibtisch zurückkehrte, um meine Siebensachen zu packen, fand ich dort eine Notiz von Bill. Ich habe sie immer noch. Sie lautet:
John, ich war da, um Auf Wiedersehen zu sagen. Hoffe, alles wird gut, und Du bist in zwei Wochen wieder hier und hast einen Appetit, der einen Hafenarbeiter beschämen würde. Und vor allem: Schau Dir endlich Mein Freund Harvey an. — Bill
Seit Jahren hatte mich Bill damit genervt, ich solle mir Mein Freund Harvey ansehen, doch ich hatte dagegengehalten, dass Schwarz-Weiß-Filme grässlich seien, weil die Qualität der Spezialeffekte schlecht sei und nie etwas passiere, außer, dass Menschen redeten.
Ich war zurück in Orlando, wo ich aufgewachsen bin, und kam mir vor wie ein Versager. Ich wohnte bei meinen Eltern und war kaum in der Lage, irgendetwas zu tun. Ich fühlte mich wie eine Last. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich konnte mich nicht genug konzentrieren, um zu lesen oder zu schreiben. Ich war in der Tagestherapie und bekam neue Medikamente, aber ich war mir sicher, dass es nicht helfen würde, weil ich nicht glaubte, dass das Problem chemischer Natur war. Ich glaubte, dass ich das Problem war, etwas tief in meinem Innern. Ich war wertlos, nutzlos, hilflos, hoffnungslos. Ich wurde von Tag zu Tag weniger.
Eines Abends liehen meine Eltern und ich den Film Mein Freund Harvey aus. Da es sich um eine Theaterverfilmung handelt, ist Harvey, wie ich befürchtet hatte, ein Film, in dem viel geredet wird. Die Handlung findet größtenteils an wenigen Schauplätzen statt — in dem Haus, das Elwood P. Dowd mit seiner älteren Schwester und seiner Nichte bewohnt, in dem Sanatorium, in das Elwood, wie viele finden, eigentlich gehört, weil sein bester Freund ein großes weißes Kaninchen ist, und in der Bar, in der er gerne abhängt und trinkt.
Die Dialoge von Mary Chase sind durchweg fantastisch, aber ganz besonders gefallen mir Elwoods Selbstgespräche. In einer Szene spricht Elwood über Unterhaltungen mit Fremden in der Bar: »Sie erzählen mir von den großen, schrecklichen Dingen, die sie getan haben, und von den wundervollen Dingen, die sie tun werden. Von ihren Hoffnungen und ihrer Reue, ihrer Liebe und ihrem Hass. Alles ist sehr wichtig, weil niemand je mit etwas Kleinem in eine Bar kommt.«
In einer Szene sagt Elwood zu seinem Psychiater: »Ich habe fünfunddreißig Jahre lang mit der Wirklichkeit gekämpft, Herr Doktor, und ich bin froh, dass ich heute sagen kann, dass ich am Ende gewonnen habe.«
Elwood ist psychisch krank. Er leistet keinen großen Beitrag zur Gesellschaft. Es wäre leicht, ihn als wertlos oder hoffnungslos darzustellen. Aber er ist eben auch ein außergewöhnlicher Typ, selbst in schwierigen Situationen. Einmal sagt sein Psychiater: »Ihre Schwester steckt hinter einer Verschwörung gegen sie. Sie versucht mich zu überreden, dass ich Sie einsperre. Heute hat sie sich rechtsverbindliche Papiere ausstellen lassen. Sie besitzt jetzt die Vollmacht über Sie.« Elwood erwidert: »Meine Schwester hat das alles an einem Nachmittag erledigt. Vera ist ein ganz schöner Wirbelwind, nicht wahr?«
Auch wenn er alles andere als ein Held im herkömmlichen Sinne ist, ist Elwood doch zutiefst heldenhaft. Meine Lieblingsstelle im Film ist, wenn er sagt: »Vor vielen Jahren sagte meine Mutter immer zu mir, sie sagte … ›In dieser Welt musst du entweder sehr, sehr schlau oder sehr, sehr freundlich sein.‹ Nun, ich war jahrelang schlau. Ich empfehle freundlich.«
Im Dezember 2001 gab es auf der ganzen Welt vermutlich kein lebendes menschliches Wesen, das es nötiger hatte, diese Worte zu hören, als mich.
Ich glaube nicht an Erleuchtung. Meine Geistesblitze erweisen sich meistens als flüchtig. Aber eines kann ich sagen: Seitdem ich Mein Freund Harvey gesehen habe, habe ich mich nie wieder so hoffnungslos gefühlt wie davor.
Ein paar Monate nachdem ich Harvey gesehen hatte, konnte ich nach Chicago zurückkehren und wieder bei Booklist arbeiten. Auch wenn mein Genesungsprozess stockend und häufig unsicher war, ging es mir immer besser. Wahrscheinlich lag es an der Therapie und an den Medikamenten, sicher, aber Elwood spielte ebenfalls eine Rolle. Er zeigte mir, dass man verrückt und trotzdem ein Mensch sein konnte, dass man trotzdem wertvoll war und geliebt werden konnte. Elwood bot mir eine Form der Hoffnung, die kein Blödsinn war, und half mir dadurch, zu erkennen, dass Hoffnung die richtige Antwort auf das seltsame und oft erschreckende Wunder des Bewusstseins ist. Hoffnung ist nicht einfach oder billig. Sie ist wahr. Oder, wie Emily Dickinson es formulierte:
Die »Hoffnung« ist ein Federding —
Das in der Seele hockt —
Und Lieder ohne Worte singt —
Sich niemals unterbricht —
Manchmal kommt es mir immer noch so vor, als würde ich die Melodie nicht mehr hören. Ich lasse mich immer noch von dem extremen Schmerz der Hoffnungslosigkeit einhüllen. Doch die Hoffnung singt die ganze Zeit weiter. Ich muss nur immer und immer und immer wieder neu lernen, sie zu hören.
Ich hoffe, dass Sie niemals auf dem Küchenboden liegen. Ich hoffe, dass Sie nie vor Ihrem Chef weinen müssen, weil Sie so verzweifelt sind. Falls aber doch, dann hoffe ich, dass man auch Ihnen ein paar Tage Urlaub gibt und Ihnen rät, was Bill mir riet: Schau Dir endlich Mein Freund Harvey an.
Ich gebe Mein Freund Harvey fünf Sterne.