Am 3. Oktober 2000 betrat ein 21-jähriger Werfer namens Rick Ankiel im ersten Spiel einer Play-off-Serie im Major League Baseball die Abwurfstelle. Möglicherweise sind Sie mit den Regeln des Baseball nicht vertraut, aber für unsere Zwecke genügt das grundlegende Wissen, dass Profispieler ihre Bälle sehr schnell — bisweilen über 160 Kilometer pro Stunde — und mit erstaunlicher Zielgenauigkeit werfen. Über Werfer, die ihre Würfe regelmäßig innerhalb weniger Quadratzentimeter platzieren können, sagt man, dass sie eine »gute Kontrolle« haben. Rick Ankiel verfügte über großartige Kontrolle. Er konnte den Ball platzieren, wo immer er wollte. Schon auf der Highschool bewunderten die professionellen Talentsucher seine Kontrolle. Sie meinten, der Junge sei eine Maschine.
Doch nach etwa einem Drittel der Spielzeit jenes Play-offs im Jahr 2000 warf Rick Ankiel einen sehr tiefen Ball, so tief, dass der Fänger ihn nicht erwischte — ein sogenannter »Wild Pitch«. Ankiel hatte in der gesamten Saison erst drei Wild Pitches geworfen, doch diesmal gelang es ihm nicht mehr, die Kontrolle wiederzuerlangen. Er warf einen weiteren Wild Pitch, diesmal über den Kopf des Fängers hinweg. Dann noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Schnell nahm man ihn aus dem Spiel heraus.
Eine Woche später eröffnete Ankiel ein weiteres Play-off-Spiel. Bei 20 Versuchen warf er fünf Wild Pitches. Danach gelang es ihm nicht mehr, die Strike-Zone zuverlässig zu erreichen. Ankiel gewann noch ein paar Spiele als Major-League-Werfer, gewann die Kontrolle aber nie mehr vollständig zurück. Er versuchte es mit allen möglichen medizinischen Behandlungen und fing sogar an, während der Spiele große Mengen Wodka zu trinken, um seine Nervosität zu betäuben. Aber seine Wurfsicherheit kehrte nicht zurück. Er hatte sich die Yips eingefangen. Es zeigte sich, dass der Junge keine Maschine war. Das sind sie nie.
Rick Ankiel war nicht der erste Baseballspieler, der das Werfen verlernte — tatsächlich bezeichnet man das Phänomen gelegentlich als »Steve-Blass-Krankheit« oder »Steve-Sax-Syndrom«, nach anderen Baseballspielern, die unter plötzlich einsetzenden Wurfstörungen litten. Das Phänomen tritt auch nicht nur im Baseball auf. Im Jahr 2008 gewann die introvertierte Tennisspielerin Ana Ivanovic mit 21 Jahren die French Open und führte damit in jenem Jahr die Weltrangliste an. Kommentatoren prophezeiten, sie werde »eine ganze Reihe Grand Slams« gewinnen und vielleicht sogar der ewigen Größe Serena Williams ernsthaft Konkurrenz machen.
Doch kurz nach jenem Sieg bei den French Open bekam Ivanovic die Yips — nicht beim Schlagen des Balls oder beim Ausholen mit dem Schläger, sondern beim Werfen des Balls vor dem Aufschlag. Von der Beinarbeit bis zu den Schwungtechniken erfordert Tennis zahllose präzise Bewegungen und hundertprozentige körperliche Koordination. Den Ball vor dem Aufschlag gerade in die Höhe zu werfen, ist dabei eigentlich der einzige Teil, der nicht schwierig ist. Doch als Ivanovic die Yips bekam, zuckte ihre Hand mitten in der Wurfbewegung, und der Ball wich nach rechts oder zu weit nach vorne ab.
Der ehemalige Tennisprofi Pat Cash bezeichnete es als »schmerzvoll«, Ivanovics Aufschlag zuzusehen. Wenn allein das bloße Zusehen schon schmerzvoll war, wie schmerzvoll musste es dann für die Spielerin sein, die nicht mehr in der Lage war, den Ball so zu werfen, wie sie es ihre gesamte Karriere über getan hatte, seit sie als Fünfjährige in Belgrad mit dem Tennis begonnen hatte. Man sah die Qualen in ihrem Blick. Zu beobachten, wie jemand mit den Yips kämpft, ist, wie ein Schultheaterstück anzuschauen, bei dem die Kinder ihren Text vergessen. Die Zeit steht still. Versuche, das Unbehagen zu lindern — ein kleines Lächeln, ein entschuldigendes Winken —, steigern nur das Bewusstsein aller für die Angst. Man weiß genau, sie wollen kein Mitleid, aber man zeigt es trotzdem, was die Blamage nur verschlimmert.
»Sie hat absolut kein Selbstvertrauen«, sagte Tennisgröße Martina Navratilova über Ivanovic, was zweifellos stimmte. Aber woher sollte sie dieses Selbstvertrauen auch nehmen?
Alle ernsthaften Sportler wissen, dass die Yips möglich sind, dass manche Leute sie bekommen. Aber es ist ein Unterschied, etwas abstrakt zu wissen oder es zu erfahren. Hat man die Yips einmal am eigenen Leib erfahren, kann man sie nicht mehr vergessen. Für den Rest des Lebens weiß man bei jedem Tennisball, den man wirft, was passieren könnte. Wie soll man sein Selbstvertrauen zurückerlangen, wenn man weiß, dass dieses Selbstvertrauen nur eine dünne Lackschicht über menschlicher Schwäche ist?
Ivanovic sagte über die Yips einmal: »Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, wie man eine Treppe heruntergeht, und überlegt, wie jeder einzelne Muskel funktioniert, dann kann man die Treppe nicht mehr heruntergehen.« Aber wenn man einmal die Treppe heruntergefallen ist, wird es unmöglich, nicht darüber nachzudenken, wie man die Treppe heruntergeht. »Ich bin ein Mensch, der zu viel über alles nachdenkt und zu viel analysiert«, fuhr Ivanovic fort. »Wenn ich erst mal einen Gedanken habe, entsteht daraus viel mehr.«
Die Yips mögen viele Namen haben — Whiskyfinger, Wackeln, Einfrieren. Mir gefällt aber »Yips« am besten, weil es so ein angespanntes Wort ist. Man kann fast spüren, wie der Muskel im Innern des Wortes selbst zuckt. Am weitesten verbreitet sind die Yips unter Golfspielern. Mehr als ein Drittel aller ernsthaften Golfer hat damit zu kämpfen. Golf-Yips treten in der Regel beim sogenannten Putten auf, und die Leute haben schon alles Mögliche gegen die Zuckungen ausprobiert. Rechtshändige Spieler putten linkshändig, versuchen unkonventionelle Griffe, nehmen lange Putter oder kurze oder beugen sich über den Schläger und sichern ihn gegen die Brust. Die Yips beeinträchtigen aber nicht nur das Putten. Einer der führenden Golftrainer der Welt kann einen Driver nur dann wirkungsvoll schwingen, wenn er vom Ball wegschaut.
Die Yips scheinen keine Folge sportlichen Lampenfiebers zu sein, auch wenn Angst das Problem verschlimmern kann — wie sie vom Durchfall bis zum Schwindel viele körperliche Probleme verschlimmert. Manche Golfer etwa bekommen die Yips, wenn sie auf einem Platz spielen, aber nicht, wenn sie auf einem Putting-Green üben. Ich bekomme die Yips, wenn ich mit der Vorhand Tennis spiele — kurz bevor der Schläger den Ball trifft, zucken meine Armmuskeln, und wie jener Golftrainer habe ich nur einen Weg gefunden, dies zu vermeiden, nämlich, indem ich beim Ausholen vom Ball wegsehe.
Seltsamerweise bekomme ich die Yips nicht, wenn ich mich aufwärme oder mit Freunden spiele, sondern nur, wenn nach Punkten gespielt wird. Diese Situationsbedingtheit hat manchen vermuten lassen, man könne die Yips durch Psychotherapie kurieren, insbesondere durch die Verarbeitung traumatischer Ereignisse im Leben eines Sportlers. Ich bin zwar ein großer Fan der Psychotherapie und habe ungemein von ihr profitiert, aber ich habe keine traumatischen Tennis-Erinnerungen. Ich spiele gern Tennis. Ich kann nur eben keine Vorhand spielen, wenn ich den Ball dabei ansehe.
So, wie Angst psychische Probleme auslösen kann, können psychische Probleme natürlich auch Angst auslösen. Für Profisportler sind die Yips nicht nur eine Bedrohung ihrer Existenzgrundlage, sondern auch für ihre Identität. Die Antwort auf die Frage »Wer ist Ana Ivanovic?« lautete ohne Ausnahme: »Ana Ivanovic ist eine Tennisspielerin.« Rick Ankiel war ein Werfer. Bis er die Yips bekam.
Dieses komplizierte Zusammenspiel der sogenannten Physis und der sogenannten Psyche erinnert uns daran, dass die Trennung von Körper und Geist nicht nur eine Vereinfachung ist, sondern totaler Blödsinn. Immer entscheidet der Körper darüber, worüber das Gehirn nachdenkt, und das Gehirn entscheidet ständig darüber, was der Körper tut und fühlt. Unser Gehirn besteht aus Fleisch, und unser Körper spürt Gedanken.
Wenn wir über Sport sprechen, sprechen wir fast immer über das Gewinnen als Maßstab für Erfolg. Vince Lombardi sagte bekanntlich einmal: »Gewinnen ist nicht alles; es ist das Einzige.« Ich finde diese Weltsicht zweifelhaft, sowohl im Sport als auch außerhalb. Ich glaube, ein Großteil der Freude, die einem der Sport bereiten kann, entsteht durch gute Leistungen. Anfangs ist das Gewinnen ein Zeichen dafür, dass man sich verbessert, und wenn man älter wird, wird es zu einem Beweis dafür, dass man es noch draufhat — es im Sinne von Körperbeherrschung und Können. Man kann nicht darüber entscheiden, ob man krank wird, geliebte Menschen sterben oder ein Tornado das eigene Haus in Stücke reißt. Aber man kann darüber entscheiden, ob man einen Curveball oder einen Fastball wirft. Das zumindest kann man entscheiden. Bis man es nicht mehr kann.
Doch selbst, wenn man aufgrund des Alters oder der Yips die Körperbeherrschung verliert, braucht man nicht aufzugeben. In Wer die Nachtigall stört definiert Atticus Finch Mut folgendermaßen: »Mut heißt von vornherein zu wissen, dass man geschlagen ist, und trotzdem den Kampf — ganz gleich, um was es geht — aufnehmen und ihn durchstehen.«
Ana Ivanovic konnte den Ball nie wieder so werfen wie vor den Yips. Doch mit der Zeit entwickelte sie einen neuen Aufschlag. Er war weniger kraftvoll und berechenbarer, aber sie wurde wieder eine Top-5-Spielerin und gewann 2014 vier Turniere. Ein paar Jahre später beendete sie im Alter von 29 Jahren ihre Karriere.
Rick Ankiel stieg bis in die unterste Minor League des professionellen Baseball ab. Verletzungsbedingt musste er in der Saison 2002 aussetzen, dann zog er sich 2003 eine üble Armverletzung zu. Als er sich von der Operation erholt hatte, kehrte er kurzzeitig in die Major League zurück, erlangte aber seine Kontrolle nicht wieder. Mit fünfundzwanzig beschloss er 2005, kein Werfer mehr zu sein. Er wollte nun im Outfield spielen.
Im professionellen Baseball werden Werfer nicht einfach so zu Outfieldern. Dafür ist das Spiel viel zu spezialisiert. Der letzte Spieler, dessen Karriere mehr als zehn Spielgewinne als Werfer und über 50 Homeruns als Schlagmann umfasste, war Babe Ruth, der seine aktive Laufbahn 1935 beendete.
Wie Ivanovic war auch Rick Ankiel am Ende, bevor er begann, aber er begann trotzdem. Er spielte als Outfielder in der Minor League und verbesserte sich dabei kontinuierlich als Schlagmann. Und dann eines Tages im Jahr 2007 — sechs Jahre nach dem Wild Pitch, der ihn dauerhaft seiner Kontrolle beraubt hatte — holten die St. Louis Cardinals Rick Ankiel als Outfielder zurück in die Major League. Als Ankiel zum ersten Mal den Ball schlagen sollte, musste das Spiel unterbrochen werden, weil die stehenden Ovationen der Menge so lange anhielten und so laut waren. In diesem Spiel gelang Rick Ankiel ein Homerun. Zwei Tage später folgten weitere zwei. Seine Würfe aus dem Outfield waren phänomenal genau — unter den besten im gesamten Baseball. Danach spielte er noch weitere sechs Jahre als Center Fielder in der Major League. Der letzte Spieler, der als Werfer mehr als zehn Spiele gewann und als Schlagmann über 50 Homeruns verbuchte, ist heute Rick Ankiel.
Ich gebe den Yips anderthalb Sterne.