Manchmal stelle ich mir vor, freundliche Außerirdische besuchten die Erde. In meinen Tagträumen sind diese Aliens galaktische Anthropologen, die versuchen, Kulturen, Rituale, Beschäftigungen und Gottheiten verschiedener fühlender Wesen zu verstehen. Sie würden auf der Erde sorgfältige Feldforschung betreiben und uns beobachten. Sie würden ergebnisoffene, unvoreingenommene Fragen stellen, etwa: »Was oder wer wäre es eurer Ansicht nach wert, dass man ihm Opfer bringt?« Oder: »Welche kollektiven Ziele sollte die Menschheit haben?« Ich hoffe, dass uns diese außerirdischen Anthropologen mögen würden. Trotz allem sind wir schließlich eine charismatische Spezies.
Mit der Zeit würden die Außerirdischen fast alles an uns verstehen — unsere unstillbare Sehnsucht, unseren Mobilitätsdrang, dass wir gern die Sonne auf der Haut spüren. Schließlich bliebe nur noch eine Frage zu klären: »Wir haben bemerkt, dass es einen grünen Gott gibt, den ihr vor und hinter euren Häusern habt, und wir haben gesehen, mit welcher Hingabe ihr diesen Zierpflanzengott pflegt. Ihr nennt ihn Kentucky Bluegrass (Wiesen-Rispengras), obwohl er weder blau noch aus Kentucky ist. Deshalb fragen wir uns Folgendes: Warum verehrt ihr diese Spezies? Warum bedeutet sie euch mehr als alle anderen Pflanzen?«
Poa pratensis, wie es der wissenschaftlichen Gemeinde bekannt ist, findet man auf der ganzen Welt. Wenn man eine weiche, grüne Rasenfläche sieht, handelt es sich häufig wenigstens teilweise um Kentucky Bluegrass. Die Pflanze ist in Europa, Nordasien und Teilen Nordamerikas heimisch, doch dem Invasive Species Compendium zufolge kommt sie inzwischen auf allen Kontinenten vor, sogar in der Antarktis.
Ein typisches Exemplar von Poa pratensis hat drei bis vier Blätter, und wenn man nicht mäht, wird es knapp einen Meter hoch und bildet blaue Blütenköpfe aus. Man lässt das Gras aber nur selten stehen, wenigstens nicht in meinem Viertel, wo es illegal ist, das Gras mehr als 30 Zentimeter hoch wachsen zu lassen.
Wenn Sie jemals durch meinen Heimatstaat Indiana gefahren sind, haben Sie kilometerweit Maisfelder gesehen. Diese goldgelben Wellen aus Getreide sind in dem Lied »America the Beautiful« verewigt. In den Vereinigten Staaten wird jedoch mehr Land und mehr Wasser für die Kultivierung von Rasengras verwendet als für den Mais- und den Weizenanbau zusammen. Die gesamte Rasenfläche in den USA beträgt etwa 163.000 Quadratkilometer und ist somit größer als Ohio oder ganz Italien. Fast ein Drittel des privaten Wasserverbrauchs in den USA — sauberes, trinkbares Wasser — wird für die Rasenpflege verwendet. Um zu gedeihen, benötigt das Kentucky Bluegrass häufig Dünger und Pestizide und komplexe Bewässerungssysteme. All das bieten wir der Pflanze im Überfluss, wenngleich diese für den Menschen ungenießbar ist und nur dazu dient, betreten oder bespielt zu werden. Die am weitesten verbreitete und arbeitsintensivste Kulturpflanze der USA ist also eine reine Zierpflanze.*29
Das englische Wort für Rasen, »lawn«, existiert erst seit dem 16. Jahrhundert. Damals bezeichnete man mit »lawn« gemeinschaftlich genutzte Weideflächen — im Gegensatz zu Feldern, auf denen Pflanzen für den menschlichen Verzehr angebaut wurden. In England kamen im 18. Jahrhundert Zierrasenflächen auf, die unseren heutigen ähnelten. Damals wurde der Rasen noch mit Sicheln und Scheren von Hand gepflegt. Wenn man also ohne die Hilfe grasender Tiere einen Rasen unterhielt, war das ein Zeichen von Reichtum: Man konnte es sich leisten, eine Schar Gärtner zu beschäftigen, und besaß zudem Land, das einfach nur hübsch anzusehen war.
Die Zierrasenmode verbreitete sich in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten, wo die Menschen, die für Thomas Jefferson als Sklaven schufteten, den Rasen auf Jeffersons Anwesen Monticello stets ordentlich kurz hielten.
Mit der Zeit wurde die Rasenqualität in einem Viertel offenbar zum Qualitätsmerkmal des Viertels selbst. In Der große Gatsby bezahlt Jay Gatsby seine Gärtner dafür, dass sie den Rasen seines Nachbarn mähen, bevor Daisy Buchanan zu Besuch kommt. Ein anderes, persönlicheres Beispiel: Als ich 2007 nach Indianapolis zog, war ich plötzlich Eigentümer eines Rasens, dessen Pflege mir ungeheuer schwerfiel. Obwohl wir nur auf etwa 1300 Quadratmetern Land lebten, brauchten mein kleiner Elektromäher und ich zwei Stunden, um das ganze Gras zu mähen. Eines Sonntagnachmittags unterbrach mich mein Nachbar mitten im Mähen und bot mir ein Bier an. Als wir auf meinem halb gemähten Rasen standen, sagte er: »Weißt du, als die Kaufmanns hier lebten, war das der hübscheste Rasen im Viertel.«
»Na ja«, entgegnete ich nach einer Weile. »Die Kaufmanns leben nicht mehr hier.«
Es ist wirklich verblüffend, welch hohen Anteil unserer Ressourcen wir dem Kentucky Bluegrass und seinen Cousins widmen. Um gegen das Unkraut anzukämpfen und den Rasen möglichst zur Monokultur zu machen, verwenden die Amerikaner pro Quadratmeter Rasenfläche zehnmal soviel Dünger und Pestizide wie auf Mais- oder Weizenfeldern. Damit der Rasen überall in den USA ganzjährig schön grün ist, werden einer NASA-Studie zufolge pro Person und Tag mehr als 750 Liter Wasser ausgebracht. Fast das gesamte Wasser aus den Berieselungsanlagen ist gereinigtes Trinkwasser. Grasschnitt und andere Gartenabfälle machen zwölf Prozent aller Materie aus, die auf den Deponien der USA landet. Hinzu kommt der direkte finanzielle Aufwand: Jahr für Jahr geben wir zig Milliarden Dollar für die Rasenpflege aus.
Natürlich kriegen wir auch etwas dafür. Ein Rasen aus Kentucky Bluegrass bietet einen guten Untergrund fürs Fußball- oder Fangenspielen. Rasengras kühlt den Boden und bietet einen gewissen Schutz vor Erosion durch Wind und Wasser. Es gibt jedoch bessere, wenngleich weniger konventionell schöne Alternativen. Man könnte auf der Freifläche vor dem Haus beispielsweise auch Pflanzen anbauen, die für den menschlichen Verzehr geeignet sind.
Ich weiß das alles, aber ich habe immer noch einen Rasen. Ich mähe ihn immer noch oder bezahle jemanden dafür. Ich verwende keine Pestizide und betrachte Klee und wilde Erdbeeren als willkommene Bestandteile des Rasens, aber trotzdem gibt es auf unserem Grundstück noch eine ganze Menge Kentucky Bluegrass, obwohl Poa pratensis eigentlich gar nichts in Indianapolis verloren hat.
Ich finde es interessant, dass die Rasenpflege — im Gegensatz zum richtigen Gärtnern — nur wenig physischen Kontakt mit der Natur erfordert. Hauptsächlich berührt man die Maschinen, die das Gras mähen oder trimmen, nicht die Pflanzen selbst. Und wenn man die Art von Gatsby-Rasen hat, nach der wir angeblich alle streben sollen, dann sieht man unter der dichten Matte aus Gras nicht einmal die Erde. Kentucky Bluegrass zu mähen, ist also eine Begegnung mit der Natur, bei der man sich die Hände nicht schmutzig macht.
Ich gebe Poa pratensis zwei Sterne.