Jedes Jahr Ende Mai versammeln sich 250.000 bis 350.000 Menschen in der kleinen Enklave Speedway, Indiana, um dem Indianapolis 500 beizuwohnen. Es ist das weltweit größte nicht religiöse jährliche Treffen menschlicher Wesen.
Speedway ist von Indianapolis umschlossen, aber technisch gesehen unabhängig, vergleichbar mit dem Vatikan in Rom. Das ist nicht die einzige Ähnlichkeit mit dem Vatikan. Sowohl Speedway als auch der Vatikan sind kulturelle Zentren, die Besucher aus der ganzen Welt anziehen; in beiden gibt es ein Museum; und die Rennstrecke von Speedway, gemeinhin bekannt als »Ziegelei«, wird bisweilen auch »Kathedrale der Geschwindigkeit« genannt. Natürlich greift die ganze Vatikan-Analogie nur sehr begrenzt. Bei meinen zugegebenermaßen seltenen Besuchen im Vatikan hat mir noch nie ein Fremder ein eiskaltes Miller Lite angeboten, was bei meinen Besuchen in Speedway dagegen häufig vorkommt.
Auf den ersten Blick kann man sich leicht über das Indianapolis 500 lustig machen. Ich meine, es geht ausschließlich um im Kreis fahrende Autos. Die Fahrer gelangen nirgendwohin. Die Veranstaltung ist proppenvoll, und meistens ist es sehr heiß. In einem Jahr wurde das Gehäuse meines Telefons in meiner Tasche weich, als ich auf der Haupttribüne an Kurve 2 saß. Laut ist es in der Regel auch. In jedem Mai höre ich die Autos beim Probefahren, wenn ich in meinem Garten arbeite — obwohl die Rennstrecke acht Kilometer von meinem Haus entfernt liegt.
Als Zuschauersport lässt das 500 einiges zu wünschen übrig. Ganz gleich, wo man sitzt oder steht, hat man nirgends einen Überblick über die gesamte Strecke, sodass wichtige Ereignisse stattfinden, die man nicht verfolgen kann. Da manche Autos anderen um Runden voraus sind, ist es so gut wie unmöglich, einen Sieger auszumachen, wenn man sich nicht übergroße Kopfhörer mitbringt und die parallele Radioübertragung mithört. Die weltweit größte Zuschauermenge eines jährlichen Sportereignisses kann das Sportereignis größtenteils nicht richtig sehen.
Meine Erfahrung hat mich allerdings gelehrt, dass alles, worüber man sich leicht lustig machen kann, bei näherer Betrachtung interessant ist. Das Indy 500 ist ein Open-Wheel-Rennen — soll heißen, die Räder der Fahrzeuge sind nicht mit Kotflügeln verkleidet, und in der Fahrerkabine ist man den Elementen ausgesetzt. Damit diese Autos mit Geschwindigkeiten von mehr als 350 Stundenkilometern über die vier Kilometer lange Strecke rasen, sind echt umwerfende Ingenieursleistungen nötig. Die Autos müssen schnell sein, aber nicht so schnell, dass die Fahrer durch die g-Kraft in den Kurven bewusstlos werden. Die Autos müssen gut reagieren, berechenbar und zuverlässig sein, denn sie fahren nicht nur mit 350 Stundenkilometern, sondern sind oft auch nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Seit 100 Jahren geht das Indianapolis 500 einer Frage nach, die den Menschen des Anthropozäns äußerst wichtig ist: Was ist das angemessene Verhältnis von Mensch und Maschine?
Heute ist die Strecke bis auf einen Streifen roter Ziegel an der Ziellinie vollständig asphaltiert, doch als am 30. Mai 1911 das erste Indianapolis 500 stattfand, war noch die gesamte Strecke mit Ziegelsteinen gepflastert — insgesamt 3,2 Millionen Stück. Sieger dieses ersten 500-Meilen-Rennens war Ray Harroun, der ein Auto mit einer von ihm selbst ersonnenen Vorrichtung fuhr — dem Rückspiegel. Tatsächlich finden sich im Umfeld des Indianapolis 500 viele frühe Innovatoren der motorisierten Mobilität. Louis Chevrolet, später Gründer des gleichnamigen Autoherstellers, hatte ein eigenes Rennteam. Sein Bruder Gaston gewann 1920 das Indianapolis 500, starb aber bereits im Jahr darauf in einem Rennen auf dem Beverly Hills Speedway.
Natürlich sind Autorennen ein außergewöhnlich gefährlicher Sport: In der Geschichte des Indianapolis Motor Speedway sind 42 Todesfälle zu beklagen. Viele Fahrer wurden verletzt, manche davon schwer. Im Jahr 2015 kam der IndyCar-Fahrer James Hinchcliffe beinahe ums Leben, weil bei einem Unfall eine Femoralarterie durchtrennt worden war. Man kann der unangenehmen Tatsache nicht aus dem Weg gehen, dass der Reiz von Autorennen zum Teil darin liegt, wie nahe sich die Fahrer an den Rand der Katastrophe wagen. Der legendäre Fahrer Mario Andretti drückte das so aus: »Wenn alles unter Kontrolle scheint, fährst du einfach nicht schnell genug.«
Ich glaube aber auch, dass Autorennen etwas leisten — sowohl der Mensch als auch die Maschine gehen bis an die Grenze des Möglichen, und dabei werden wir als Spezies insgesamt schneller. Für die ersten 500 Meilen auf dem Indianapolis Motor Speedway benötigte Ray Harroun sechs Stunden und 42 Minuten, der 2018er-Sieger Will Power nur noch knapp drei Stunden.
Das ist übrigens sein richtiger Name. Will Power — wie »Willenskraft«. Netter Kerl. Einmal stand ich neben ihm an der Theke eines PValetservices, und als der Angestellte mit meinem 2011er Chevrolet Volt auftauchte, sagte Will Power: »Wissen Sie, ich fahre auch Chevrolet.«
Beim Indy 500 geht es aber eigentlich gar nicht ums Schnellfahren; es geht darum, schneller zu fahren als alle anderen. Genau darin spiegelt sich eine meiner größten Sorgen um die Menschheit wider: Wir können der Versuchung nicht widerstehen, zu gewinnen. Ob wir nun den El Capitan erklimmen oder ins Weltall aufbrechen, wollen wir das nicht nur tun, sondern wollen es möglichst vor allen anderen oder schneller als alle anderen tun. Dieser Drang hat uns als Spezies seit jeher angetrieben — aber ich fürchte, er hat uns auch noch ganz andere Dinge beschert.
Am Tag des Indy 500 mache ich mir über die tiefere Bedeutung des Rennens keine Gedanken. Ich denke nicht an die zusehends verwischte Grenze zwischen Menschen und ihren Maschinen oder an die stete Beschleunigung von Veränderungen im Anthropozän. Stattdessen freue ich mich einfach nur.
Mein bester Freund Chris Waters nennt es Weihnachten für Erwachsene. Mein Renntag beginnt um 5.30 Uhr morgens. Ich mache mir eine Tasse Kaffee, sehe nach dem Wetter und packe meine Rucksack-Kühltasche mit Eis, Wasser, Bier und belegten Broten. Um sechs überprüfe ich mein Fahrrad, um sicherzugehen, dass die Reifen aufgepumpt sind und ich mein Flickzeug dabeihabe. Dann radle ich zu Bob’s Food Mart, wo ich mich mit meinen Freunden treffe und zu unserer wundervollen morgendlichen Radtour auf dem Central Canal Towpath aufbreche. Manchmal ist es regnerisch und kalt, in anderen Jahren unerträglich heiß. Aber es macht immer Spaß, mit meinen Freunden und deren Freunden zu radeln und herumzualbern. Viele sehe ich nur einmal im Jahr.
Wir fahren zur Leichtathletikbahn der Butler University, wo sich jedes Jahr zwei meiner Freunde morgens um sieben einen Wettlauf über eine Meile liefern. Die IndyCars werden jedes Jahr schneller, aber das Wettrennen verlangsamt sich. Wir wetten auf einen Sieger, dann gewinnt der eine oder der andere. Danach besteigen wir wieder unsere Räder und fahren ein paar Kilometer, bis wir vor dem Indianapolis Museum of Art erneut haltmachen, um uns mit weiteren Menschen zu treffen. Schließlich ist unsere Reisegruppe auf etwa 100 Radler angewachsen. Alle winken, wenn wir vorbeifahren. »Schönes Rennen«, wünschen wir einander, oder, »Sicheres Rennen!«
Wir fahren also alle zusammen. Wir bleiben auf dem Radweg, bis dieser an der Sixteenth Street abrupt endet, dann fahren wir lange in Richtung Westen und mischen uns dabei in den Autoverkehr, der sich bereits staut, obwohl das Rennen erst in fünf Stunden beginnt. Wir fahren zehn nervenaufreibende Blocks in Einzelreihe, bis wir die Stadt Speedway erreichen. Dort sitzen die Menschen draußen auf ihren Veranden. Gelegentlich erschallt von irgendwoher ein Beifallsruf. Alle vermieten ihre Vorhöfe als Parkplätze und rufen die Preise aus. Die Lautstärke steigt jetzt. Ich mag keine Menschenmassen, aber diese schon, weil ich mich in einem Wir befinde, das kein Sie erfordert.
Schließlich erreichen wir die Rennstrecke, schließen unsere Fahrräder in der Nähe von Kurve 2 an einen Zaun an, dann gehen wir alle unserer Wege. Manche von uns sehen sich das Rennen gern von Kurve 2 aus an, andere lieber an der Start- /Ziellinie. Es folgen weitere Traditionen: Man singt »Back Home Again in Indiana«, eine zweitklassige Berühmtheit sagt, »Fahrer, werft die Motoren an«, dann kommen die Paraderunden und schließlich beginnt das Rennen selbst. Traditionen bringen Menschen zusammen, und zwar nicht nur die Menschen, mit denen man die Traditionen gerade praktiziert, sondern auch all jene, die sie je praktiziert haben.
Ich kann all das im Präsens schreiben, weil diese Traditionen eine Art Kontinuität darstellen — sie fanden statt, ja, aber sie finden immer noch statt und werden auch weiterhin stattfinden. Es war nicht zuletzt die Unterbrechung dieser Kontinuität, die den Mai 2020 so schwierig für mich gemacht hat. Als die Pandemie um sich griff, kam es mir vor, als würde ich aus dem gerissen, was ich für die Wirklichkeit gehalten hatte. Vieles davon, was in letzter Zeit außergewöhnlich gewesen war — eine Maske zu tragen, möglichst keine Oberflächen zu berühren und Abstand zu Passanten zu halten —, wurde nun alltäglich. Und vieles, was bislang Alltag gewesen war, wurde auf einmal außergewöhnlich.
Am Sonntag vor dem Memorial Day 2020 packte ich wie gewöhnlich meinen Rucksack, und Sarah und ich bestiegen wie gewöhnlich unsere Fahrräder. Bei Bob’s Food Mart trafen wir uns mit unseren Freunden Ann-Marie und Stuart Hyatt. Wir trugen Masken auf dem Weg zum Speedway, dessen Tore verschlossen waren. Wir saßen auf einem riesigen, leeren Parkplatz, und es war still, unvorstellbar still. Als das Rennen im August endlich nachgeholt wurde, fand es zum ersten Mal ohne Fans statt. Ich sah es mir im Fernsehen an und fand es unendlich langweilig.
Aber ich denke zurück an das Jahr 2018. Zu Dutzenden schließen wir unsere Fahrräder an dem Maschendrahtzaun fest und eilen zu unseren jeweiligen Plätzen auf den übervollen Tribünen. In vier oder fünf Stunden werden wir uns wieder an dem Zaun treffen und unsere Heimwegsrituale pflegen. Wir werden über dieses oder jenes Ereignis sprechen und uns für Will Power freuen, der ja so ein netter Kerl ist und endlich seinen Sieg beim Indy 500 eingefahren hat. Ich werde meine Will-Power-Geschichte erzählen, nur um zu erfahren, dass viele meiner Freunde ebenfalls eine Will-Power-Geschichte zu erzählen haben. Letzten Endes ist Speedway eine Kleinstadt, selbst an diesem Tag, und wir sind alle gemeinsam dort.
Ich gebe dem Indianapolis 500 vier Sterne.