Im Winter 2018 reisten Sarah und ich nach Wendover. Die Kleinstadt liegt zu beiden Seiten der Grenze zwischen Utah und Nevada. Dort, als eine Art Nebenprogramm, besuchten wir die Bonneville Salt Flats, ein unwirtliches Tal salzverkrusteten Landes am Westufer des Great Salt Lake.
Sarah ist mit Abstand mein Lieblingsmensch. Nach dem Tod der Dichterin Jane Kenyon schrieb deren Ehemann Donald Hall: »Wir verbrachten unsere Tage nicht damit, einander in die Augen zu sehen. Wir taten das, wenn wir uns liebten, oder, wenn einer von uns Sorgen hatte, aber meistens trafen sich unsere Blicke und trennten sich wieder, weil sie sich auf etwas Drittes richteten. Dritte Dinge sind in einer Ehe unverzichtbar — Objekte oder Praktiken oder Gewohnheiten oder Institutionen oder Spiele oder menschliche Wesen, die Raum für gemeinsame Begeisterung oder Zufriedenheit bieten. Jedes Mitglied eines Paares ist ein Mensch für sich; durch doppelte Aufmerksamkeit kommen die beiden zusammen.« Hall ergänzt, dass dritte Dinge etwa John Keats, das Boston Symphony Orchestra, holländische Innenräume oder Kinder sein können.
Unsere Kinder sind eine entscheidende Quelle gemeinsamer Begeisterung für Sarah und mich, aber wir haben noch weitere dritte Dinge — das Kreuzworträtsel der New York Times, die Bücher, die wir gemeinsam lesen, die Fernsehsendung The Americans und so weiter.
Unser erstes drittes Ding war jedoch die Kunst.
Sarah und ich besuchten dieselbe Highschool in Alabama. Wir kennen uns also schon von Kindesbeinen an, sprachen aber eigentlich kaum miteinander. Das änderte sich erst 2003, als wir beide in Chicago lebten. Sarah arbeitete damals in einer Kunstgalerie. Nachdem wir uns einige Male über den Weg gelaufen waren und ein paar E-Mails geschrieben hatten, lud sie mich zu einer Vernissage mit Skulpturen der Künstlerin Ruby Chishti in die Galerie ein.
Ich war zuvor noch nie in einer Kunstgalerie gewesen und hätte damals keinen einzigen lebenden Künstler namentlich nennen können, doch ich war fasziniert von Chishtis Skulpturen. Als sich Sarah an jenem Abend etwas Zeit nahm, um mit mir über Chishtis Kunst zu sprechen, spürte ich zum ersten Mal eins meiner Lieblingsgefühle auf dieser Welt — das Gefühl, wenn sich Sarahs und meine Blicke treffen und vereinen, während wir etwas Drittes betrachten.
Ein paar Monate und Dutzende E-Mails später beschlossen wir, einen Zwei-Personen-Buchklub zu gründen. Als erste Lektüre wählte Sarah Der menschliche Makel von Philip Roth. Als wir uns trafen, um darüber zu diskutieren, stellten wir fest, dass wir beide dieselbe Passage unterstrichen hatten: »Aber die Lust ist nicht, einen anderen zu besitzen. Die Lust ist das hier. Dass im selben Raum wie du noch ein anderer Bewerber ist.«
Fünfzehn Jahre später waren wir in Wendover, um für The Art Assignment zu drehen, eine Serie, die Sarah für PBS Digital Studios produzierte.*30 Wir sahen eine Installation des Künstlers William Lamson und daneben einige Beispiele der monumentalen »Land-Art« des amerikanischen Westens, darunter Nancy Holts Sun Tunnels und Robert Smithsons Spiral Jetty. Wir übernachteten im Casino-Hotel auf der in Nevada gelegenen Seite der Stadt. Das Kommando, das später die Atombombe über Hiroshima abwarf, übte während des Zweiten Weltkriegs in Wendover. Doch die Air Force hat den Standort längst aufgegeben, und heute kommen die meisten Menschen wegen der Casinos oder der nahe gelegenen Salzseen.
Aus irgendeinem Grund mag ich Casinos sehr. Es ist mir klar, dass sie labile Menschen ausnutzen und suchtfördernd wirken, dass sie laut und verräuchert, widerlich und grässlich sind. Aber ich kann mir nicht helfen. Ich sitze gern mit Fremden an einem Tisch und spiele Karten. Am fraglichen Abend spielte ich mit einer Frau aus der Texas Panhadle namens Marjorie. Sie erzählte mir, dass sie seit 61 Jahren verheiratet sei. Ich fragte, was ihr Geheimnis sei, und sie entgegnete: »Getrennte Girokonten.«
Ich fragte, was sie nach Wendover geführt habe, und sie sagte, sie wolle die Salzseen sehen. Und natürlich das Casino besuchen. Ihr Mann und sie spielten jedes Jahr ein Wochenende lang. Ich fragte, wie es denn so laufe, und sie sagte: »Sie stellen aber viele Fragen.«
Das tue ich tatsächlich, wenn ich spiele. In jedem anderen Kontext sind mir Begegnungen mit Fremden meist zuwider. Ich unterhalte mich nicht gern mit Sitznachbarn im Flugzeug oder mit Taxifahrern, und auch sonst bin ich als Gesprächspartner eher gehemmt und gestresst. Aber man setze mich an einen Blackjack-Tisch mit Marjorie, und plötzlich bin ich Perry Mason.
Mit uns am Tisch saß noch die 87-jährige Anne aus Central Oregon, die ebenfalls nicht gerade gesprächig war, also hielt ich mich an den Kartengeber, der von Berufs wegen verpflichtet war, sich mit mir zu unterhalten. Er hatte einen breiten Schnauzbart und ein Namensschildchen mit der Aufschrift »James«. Es war schwer zu sagen, ob er 21 oder 41 Jahre alt war. Ich fragte ihn, ob er aus Wendover stamme.
»Geboren und aufgewachsen«, antwortete er.
Ich fragte ihn, wie ihm die Stadt gefalle, und er erwiderte, sie sei ein hübscher Flecken. Ausgezeichnete Wandermöglichkeiten. Großartig, wenn man gern jage und angle. Besonders cool seien natürlich die Salt Flats, wenn man schnelle Autos möge, was bei ihm der Fall sei.
Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Allerdings kein besonders toller Ort für Kinder.«
»Haben Sie Kinder?«, fragte ich.
»Nein«, sagte er. »Aber ich war mal eins.«
Ich habe so meine Art, über die Dinge zu sprechen, über die ich nicht sprechen möchte. Das geht vermutlich jedem so. Wir wissen, wie wir ein Gespräch beenden müssen, damit wir nicht direkt danach gefragt werden, was wir nicht beantworten wollen. Die Stille, die auf James’ Satz über die Kindheit folgte, erinnerte mich daran und auch daran, dass ich selbst einmal ein Kind gewesen war. Natürlich ist es möglich, dass sich James nur auf die wenigen Spielplätze in Wendover bezog — aber das bezweifelte ich. Ich begann zu schwitzen. Die Geräusche des Casinos — das Klingeln der Spielautomaten, die Rufe am Würfeltisch — waren plötzlich überwältigend. Ich dachte an den alten Satz von Faulkner, dass das Vergangene nicht tot und nicht einmal vergangen sei. Eine der seltsamen Sachen am Erwachsensein ist, dass man sein momentanes Selbst ist, aber gleichzeitig auch alle Personen, die man je war, diejenigen, denen man zwar entwachsen ist, die man aber nie ganz loswerden konnte. Ich spielte mein Blatt aus, gab dem Kartengeber ein Trinkgeld und wechselte die restlichen Chips ein.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit Sarah und einigen ihrer Kolleginnen zu den Bonneville Salt Flats. Bis vor 14.500 Jahren lag das heutige Wendover tief unter dem Wasser des Lake Bonneville, eines riesigen, mehr als 52.000 Quadratkilometer bedeckenden Salzsees, der somit fast die Größe des heutigen Lake Michigan besaß. Der Lake Bonneville ist während der vergangenen 500 Millionen Jahre ein paar Dutzend Mal verschwunden und neu entstanden; was im Augenblick an ihn erinnert, ist der Great Salt Lake, der allerdings kaum ein Zehntel so groß ist, wie der Lake Bonneville einst war. Der jüngste Rückzug des Sees hinterließ die Salzwüste, die sich über 12.000 Hektar ausdehnt, absolut leer und noch flacher als ein Pfannkuchen.
Der schneeweiße Boden war rissig wie trockene Lippen und knackte unter meinen Füßen. Ich konnte das Salz riechen. Ich versuchte angestrengt, die Szenerie in Worte zu fassen, aber mein Gehirn kam nur auf höchst bildliche Vergleiche. Es sieht dort aus wie das Gefühl, nachts allein nach Hause zu fahren. Es sieht aus wie alles, was man laut auszusprechen fürchtet. Es sieht aus wie der Augenblick, in dem das Wasser vom Strand abfließt, kurz bevor die nächste Welle heranrollt. Herman Melville bezeichnete Weiß einmal als »farblose Allfarbe«. Er schrieb, dass Weiß »die Schatten und herzlosen Leeren und Unermesslichkeiten des Universums vorauswirft«. Die Bonneville Salt Flats sind sehr, sehr weiß.
Natürlich ist alles auf der Erde geologisch, aber in der Salzwüste spürt man die Geologie. Es ist leicht vorstellbar, dass dieses Land einmal 150 Meter unter Wasser lag. Man hat das Gefühl, als könnte das salzige, grün-schwarze Wasser jeden Augenblick zurückkehren und alles unter sich begraben — einen selbst, seine Traumata, die Stadt und den Hangar, wo das Flugzeug mit dem Namen Enola Gay auf seine Atombombe wartete.
Als ich zu den in der Ferne aufragenden Gebirgszügen aufblickte, erinnerte mich das daran, was mir die Natur stets sagt: Die Menschen sind in der Geschichte dieses Planeten nicht die Protagonisten. Wenn es eine Hauptfigur gibt, dann ist es das Leben selbst, das aus Erde und Sternenlicht mehr macht als Erde und Sternenlicht. Im Anthropozän glauben wir Menschen trotz aller offensichtlichen Gegenbeweise gern, wir hätten einen Anspruch auf die Erde. Die Bonneville Salt Flats müssen also von Nutzen für uns sein; wozu wären sie sonst da? Auf dem trockenen, salzigen Boden wächst nichts, aber wir haben dennoch eine Nutzungsmöglichkeit gefunden — während der vergangenen hundert Jahre wurde auf den Salzebenen Kali abgebaut, das als Düngemittel Verwendung findet. Ein langer Abschnitt der Flats erlangte zudem als Dragracing-Bahn Berühmtheit. 1965 wurde dort ein Landgeschwindigkeitsrekord aufgestellt: Mit einem düsengetriebenen Fahrzeug erreichte Craig Breedlove dort ein Tempo von knapp 997 Stundenkilometern.
In der Rennsaison ziehen die Flats immer noch Tausende Menschen an, doch meist ist die Landschaft vor allem ein beliebter Hintergrund — für Filme von Independence Day bis Der letzte Jedi, für Modefotografien und Instagram-Schnappschüsse. Als ich dort war, gehörte ich zu einer ganzen Gruppe von Menschen, die versuchten, ein Selfie so zu knipsen, dass es aussah, als wären sie gerade allein in der Einöde.
Nachdem ich eine Weile gegangen war und mich vom Ende der Straße entfernt hatte, die zu den Salt Flats führt, begann ich mich jedoch wirklich ganz allein zu fühlen. Einmal glaubte ich, in der Ferne eine gleißende Wasserfläche zu sehen, doch als ich mich ihr näherte, erwies sie sich als Luftspiegelung — eine echte Luftspiegelung. Ich hatte sie immer für ein erzählerisches Mittel gehalten. Als ich weiterging, dachte ich an den Blackjack-Kartengeber und wie abgrundtief entsetzlich es ist, ein Kind zu sein und zu wissen, dass man nicht darüber entscheiden kann, was Erwachsene mit einem machen.
Da rief Sarah nach mir. Ich wandte mich um. Sie war so weit entfernt, dass ich zunächst nicht hörte, was sie sagte, doch sie winkte mir zu, also ging ich zurück, bis ich sie verstehen konnte: Ich stünde einer Drohnen-Aufnahme im Weg, die sie für die Sendung benötigten; ob ich ein bisschen in ihre Richtung ausweichen könne? Also tat ich das. Ich stand neben ihr und sah zu, wie die Drohne über der Salzebene schwebte. Unsere Blicke trafen sich. Ich fühlte mich ruhiger. Ich dachte an die Menschen, die ich gewesen war, und wie sie für Augenblicke wie diesen gekämpft und gerackert und überlebt hatten. Als ich mit Sarah über die Salzwüste blickte, schien sich diese zu verändern — die bedrohliche Gleichgültigkeit wich von ihr.
Ich gebe den Bonneville Salt Flats dreieinhalb Sterne.