Mein Freund Alex gehört zu diesen unfassbar entspannten, nicht aus der Ruhe zu bringenden Menschen, die sich augenblicklich neu kalibrieren können, wenn sie mit veränderten Umständen konfrontiert sind. Aber wenn Alex es sehr eilig hat, sieht man auch ihm den Stress an, und er gibt Sätze von sich wie: »Jetzt aber mal dalli, dalli.« Seine Frau Linda nennt ihn dann »Airport Alex«.
Zu meinem Leidwesen bin ich immer Airport Alex. Ich kann einfach nicht damit aufhören, mir darüber Sorgen zu machen, dass die Kinder womöglich zu spät zur Schule kommen, das Restaurant unsere Reservierung aufheben, mein Psychiater mich wegen Verspätung rausschmeißen wird und so weiter. Für mich ist Pünktlichkeit eine Tugend, aber an meiner Art der Pünktlichkeit ist rein gar nichts tugendhaft. Sie wird von Angst befeuert und durch genervtes Geschrei durchgesetzt.
Eines Morgens war Sarah gerade auf Dienstreise und ich saß mit meiner damals dreijährigen Tochter am Frühstückstisch. Sie ist niemals Airport Alex. Kleine Kinder messen Zeit nicht mit Uhren, deshalb sehe ich mich zu Hause verpflichtet, das Amt des Zeitplan-Einhalters und Pünktlichkeitsapostels zu übernehmen.
Es war 8.37 Uhr. In dreiundzwanzig Minuten würden wir zu spät zur Kita kommen. Wir hatten Henry schon zur Schule gebracht und waren noch einmal nach Hause zurückgekehrt, um vor Beginn der Kita zu frühstücken. Und dieses Frühstück dauerte eine Ewigkeit. Meine Tochter legte vor jedem wohlüberlegten Bissen Toast eine Pause ein, in der sie sich dem Bilderbuch widmete, das sie an jenem Morgen mit nach unten gebracht hatte. Ich drängte sie wieder und wieder dazu, endlich fertig zu essen. »Du hast noch genau acht Minuten«, sagte ich zu ihr, als hätte dieser Zeitrahmen für sie irgendeine Bedeutung.
Ich versuchte, alles für unseren Aufbruch vorzubereiten — Schuhe, Jacke, den Rucksack, in dem nur ihre Vesperdose steckte. Hast du die Autoschlüssel? Ja. Geldbeutel? Ja. Handy? Ja. Nur noch sechs Minuten. Mein Stresslevel stieg wie ein Fluss, der nach der Schneeschmelze seine Ufer zu überschwemmen droht. Meine Tochter reagierte auf diese höchst dringliche Situation damit, dass sie so vorsichtig an ihrem Toasteckchen knabberte, wie eine Maus, die Angst hat, sich zu vergiften. Ich fragte mich, wie ich ihr Essen für sie noch appetitlicher hätte machen können. Ich hatte die Rinde des Toasts abgeschnitten, ihn gebuttert und mit Zucker und Zimt bestreut. Iss deinen Toast, um Gottes willen! Noch vier Minuten. Okay, das war’s, die Zeit ist um. Jetzt aber Schuhe an! Und genau in dem Moment, in dem meine Panik den Höhepunkt erreicht hatte, sagte Alice zu mir: »Daddy, kann ich dir ein Geheimnis sagen?«
Ich beugte mich zu ihr herunter, sie legte die Hände wie einen Trichter um den Mund, und obwohl wir allein im Haus waren, flüsterte sie. Ich kann Ihnen natürlich nicht verraten, was sie gesagt hat, schließlich war es ein Geheimnis. Es war auch wirklich nichts Weltbewegendes.
Was mich bis ins Mark traf, war ihr Flüstern. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie flüstern konnte oder überhaupt wusste, was Geheimnisse sind. Es ging nicht darum, was genau sie sagte. Wichtig daran war, dass sie mich dadurch daran erinnerte, dass alles in Ordnung war und ich mich nicht wie Airport Alex benehmen musste. Geschäftigkeit und Eile sind im Grunde genommen nur andere Arten, laut zu sein. Und was meine Tochter brauchte, war ein ruhiger Ort, an dem ihre kleine Stimme gehört werden konnte.
Beim Flüstern vibrieren die Stimmbänder nicht, aber die Luft, die dabei durch den Kehlkopf streicht, wird stark genug verwirbelt, um hörbar zu werden — zumindest aus nächster Nähe. Deshalb ist Flüstern schon definitionsgemäß ein intimer Akt. Alle Sprache besteht aus Atem, aber wenn jemand flüstert, kann man diesen Atem hören. Menschen flüstern manchmal auch, weil sie Rachenentzündung oder andere gesundheitliche Probleme haben. Aber meistens flüstern wir, weil wir mit einer Person sprechen wollen, ohne zu riskieren, dass alle es hören. Wir flüstern Geheimnisse, aber auch Gerüchte, Gemeinheiten und Ängste.
Unsere Spezies flüstert wahrscheinlich schon, seit es Sprache gibt — und wir sind auch nicht die einzigen Tiere, die das tun. Einige Erdhörnchenarten flüstern, und auch einige Affen wie zum Beispiel der stark gefährdete Lisztaffe.
Aber in letzter Zeit habe ich nicht sehr viel geflüstert. Anfang März 2020 gaben mein Bruder und ich in Columbus, Ohio, eine Live-Performance unseres Podcasts. Bevor wir auf die Bühne gingen, flüsterte meine Kollegin Monica Gaspar mir etwas zu. Ich glaube, sie wollte mir sagen, welches Mikrofon ich benutzen sollte. Aber ich erinnere mich aus einem anderen Grund an jenen Moment: Es sollte das letzte Mal sein, dass ich das Flüstern einer Person hören würde, die nicht zu meiner engsten Familie gehörte. Und zwar für … Jahre? Es kann schon sein, dass ich seit Beginn der Pandemie ein, zwei Mal jemanden während eines Videoanrufs oder eines Telefongesprächs flüstern gehört habe, aber nicht sehr oft. Es fehlt mir, das Flüstern. Ich war schon lange vor der Pandemie ein Hygienefanatiker, und ich weiß, dass der Atem einer anderen Person auf meiner Haut ein Garant für Tröpfchenübertragung ist. Aber es fehlt mir trotzdem.
Wenn meine Kinder mir in letzter Zeit etwas zuflüstern, dann meistens, weil sie mir Sorgen oder Ängste anvertrauen wollen, die ihnen ein bisschen peinlich sind. Es erfordert Mut, diese Ängste auszusprechen, und sei es nur im Flüsterton, und ich bin unendlich dankbar für dieses Vertrauen. Auch wenn ich nicht recht weiß, was ich antworten soll. Ich würde ihnen gerne sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, aber das stimmt nun mal leider nicht. Ich würde ihnen auch gerne sagen, dass ihnen keine Gefahr droht, aber es gibt durchaus gute Gründe, Angst zu haben. Als ich selbst noch ein Kind war, dachte ich, Eltern wüssten immer genau, was sie sagen und wie sie es sagen müssten. Aber ehrlich gesagt ist genau das Gegenteil der Fall. Ich habe keine Ahnung. Ich kann nur den Mund halten und zuhören, und das tue ich auch. Sonst überhört man die wirklich wichtigen Dinge.
Ich gebe dem Flüstern vier Sterne.