Ich habe Schwierigkeiten, mir die Größe von Viren vorzustellen. Für sich genommen, sind sie winzig: Ein rotes Blutkörperchen ist etwa tausend Mal so groß wie ein SARS-CoV-2-Virus. Aber als Gruppe sind sie unvorstellbar zahlreich. Ein einziger Tropfen Meerwasser enthält etwa zehn Millionen Viren. Auf jedes Sandkorn der Erde kommen Billionen von Viren. Laut Philipp Dettmers Buch Immune gibt es auf der Welt so viele Viren, »dass sie aneinandergereiht über 100 Millionen Lichtjahre lang wären — so viel wie etwa 500 Milchstraßengalaxien nebeneinander«.*32
Viren bestehen im Grunde nur aus überall herumliegenden RNA- oder DNA-Strängen. Vermehren können sie sich erst, wenn sie eine Zelle kapern. Sie sind also nicht lebendig, sie sind aber auch nicht nicht lebendig. Wenn ein Virus in eine Zelle eindringt, tut es, was das Leben tut — es nutzt Energie dazu, mehr von sich selbst herzustellen. Viren erinnern mich daran, dass das Leben mehr Kontinuum als Gegensatz ist. Sicher, Viren sind keine Lebewesen, weil sie zu ihrer Vermehrung Wirtszellen brauchen. Andererseits können auch viele Bakterien nicht ohne Wirt überleben und, noch merkwürdiger, viele Wirte nicht ohne Bakterien. Kühe beispielsweise sterben ohne die Darmflora, die ihnen bei der Verdauung der Nahrung hilft. Alles Leben hängt von anderem Leben ab, und je genauer wir darüber nachdenken, was Leben ist, desto schwieriger wird es, Leben zu definieren.
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Im Jahr 2014 drang ein RNA-Strang, ein sogenanntes Enterovirus, in meine Hirnhaut ein, also die Schicht, die mein Gehirn und mein Rückenmark umgibt. Das Virus benutzte die Maschinerie meiner Zellen, um sich zu vermehren, und die neuen Viruspartikel befielen weitere Zellen. Ich war schon bald extrem krank. Die Symptome einer viralen Meningitis können variieren, aber oft gehören dazu ein steifer Nacken, Fieber, Übelkeit und die feste Überzeugung, dass Viren durchaus lebendig sind.
Und da wären noch die Kopfschmerzen.
Virginia Woolf schrieb in ihrem Essay »Über das Kranksein«, es sei »wahrlich seltsam, daß nicht die Krankheit mit der Liebe und dem Kampf und der Eifersucht zusammen ihren Platz eingenommen hat unter den Hauptthemen der Literatur. Romane, würde man denken, wären der Grippe, epische Dichtungen dem Typhus gewidmet worden; Oden der Lungenentzündung; lyrische Verse dem Zahnweh. Aber nein.« Und weiter: »Und schließlich ist da als weiteres Hindernis, Krankheit literarisch zu beschreiben, die Armut der Sprache. Das Englische, das die Gedanken Hamlets und die Tragödie des Lear ausdrücken kann, hat keine Worte für den Fieberschauer und das Kopfweh.«
Woolf hatte Migräne, sie kannte diese sprachliche Armut also aus erster Hand, aber jeder, der schon einmal Schmerzen gehabt hat, weiß, wie allein man sich damit fühlen kann — zum Teil deshalb, weil man sie nur selbst spürt, und zum Teil, weil man sie nicht beschreiben kann und einen das rasend macht und ängstigt. Elaine Scarry schreibt in ihrem Buch The Body in Pain, der körperliche Schmerz entziehe sich nicht nur der Sprache, sondern zerstöre sie. Wenn die Schmerzen wirklich stark seien, könnten wir schließlich nicht mehr sprechen, sondern nur noch stöhnen und weinen.
»Was Schmerzen bewirken«, schreibt Scarry, »bewirken sie zum Teil dadurch, dass man andere nicht an ihnen teilnehmen lassen kann, weil sie sich der Sprache widersetzen.« Ich kann anderen Menschen natürlich mitteilen, dass man bei einer Meningitis Kopfschmerzen hat, aber das beschreibt kaum die bewusstseinszerstörende Allgegenwart dieser Kopfschmerzen. Ich kann lediglich sagen, dass ich bei meiner viralen Meningitis solche Kopfschmerzen hatte, dass ich daneben nichts mehr anderes haben konnte. Was weniger an den Kopfschmerzen lag als daran, dass mein Selbst durch sie lahmgelegt wurde.
Aber ich glaube, dass man die Art und Heftigkeit solcher Schmerzen nicht mitteilen kann. Wie Scarry schreibt: »Wer starke Schmerzen hat, hat Gewissheit. Wer hört, dass jemand anders Schmerzen hat, hat Zweifel.« Von Schmerzen zu hören, die wir nicht spüren, bringt uns an die Grenzen der Empathie, den Ort, an dem alles zusammenbricht. Ich kann nur meine eigenen Schmerzen kennen und du nur deine. Es gibt alle möglichen Überlegungen, wie man dieses Gesetz des Bewusstseins umgehen könnte. Wir bitten Patienten, ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn zu bewerten, oder wir sagen, sie sollen auf ein Gesicht zeigen, das am ehesten wie ihre Schmerzen aussieht. Wir fragen sie, ob die Schmerzen scharf oder stumpf sind, ob sie brennen oder stechen — aber das sind alles nur Umschreibungen, nicht die Sache selbst. Wir bemühen schwache Vergleiche und sagen, die Schmerzen seien wie ein Presslufthammer an der Schädelbasis oder eine heiße Nadel im Auge. Wir können endlos darüber sprechen, wie Schmerzen sich anfühlen, aber niemals vermitteln, was sie sind.
Im Unterschied zur durch Bakterien verursachten Meningitis ist eine virale Meningitis selten tödlich und klingt innerhalb von sieben bis zehn Tagen gewöhnlich von selbst ab. Das klingt nach einer erträglichen Zeit des Krankseins, solange man sie nicht durchstehen muss. Krankentage vergehen nicht wie gesunde Tage, also wie Wasser, das durch die hohle Hand rinnt. Krankentage bleiben. Als ich die Kopfschmerzen hatte, war ich überzeugt, dass sie nie enden würden. Die Schmerzen im jeweiligen Moment waren schrecklich genug, aber was mich verzweifeln ließ, war das Wissen, dass sie im nächsten Moment und übernächsten immer noch da sein würden. Sie sind so umfassend, dass man allmählich glaubt, sie würden nie enden, sie könnten gar nicht mehr enden. Psychologen nennen das Schwarzmalerei, aber der Begriff drückt nicht aus, dass Schmerzen tatsächlich eine Katastrophe sind. Die Katastrophe im Grunde.
Bei vielen Menschen einschließlich mir folgen auf die erste Phase der viralen Meningitis einige Monate gelegentlicher Kopfschmerzen, ähnlich den Nachbeben eines Erdbebens. Im Verlauf eines Jahres wurden meine Kopfschmerzen immer seltener und inzwischen sind sie fast vollständig weg. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie sie sich angefühlt haben. Ich weiß noch, dass sie schrecklich waren, dass sie mich in meinem Leben eingeschränkt haben, aber ich kann nicht zu ihnen zurückkehren und sie spüren. Obwohl ich die Schmerzen ja selber hatte, kann ich mich nicht mehr voll in das Ich versetzen, dass sie spürte, weil ich jetzt ein anderer bin, mit anderen Leiden und Beschwerden. Ich bin froh, dass mir der Kopf nicht mehr wehtut, aber nicht so, wie ich damals dankbar gewesen wäre, wenn die Schmerzen plötzlich verschwunden wären. Vielleicht vergessen wir, um weitermachen zu können.
An Meningitis erkrankte ich kurz nach meiner Rückkehr nach Indianapolis von einer Reise, auf der ich in Äthiopien und Orlando, Florida, gewesen war. Mein Neurologe meinte, ich hätte mir das Virus wahrscheinlich in Orlando eingefangen, denn, Zitat: »Sie wissen schon, Florida.«
Ich verbrachte eine Woche im Krankenhaus, obwohl die Ärzte nicht viel tun konnten, außer meinen Körper mit Flüssigkeit zu versorgen und mir etwas gegen die Schmerzen zu geben. Ich habe viel geschlafen. Wenn ich wach war, hatte ich Schmerzen. Nichts als Schmerzen.
Abgesehen davon, dass sie einen im Normalfall nicht umbringt, spricht natürlich nichts für eine virale Meningitis. Wie Susan Sontag schrieb: »Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen.« Das Virus, das sich in meinem Gehirnwasser ausbreitete, hatte keine Bedeutung. Es hat sich nicht vermehrt, um mir eine Lektion zu erteilen, und die Erkenntnisse durch meine nicht teilbaren Schmerzen hätte ich woanders auf weniger schmerzhafte Weise gewinnen können. Die Meningitis war wie das Virus, das sie verursacht hat, keine Metapher oder ein erzählerisches Mittel. Sie war nur eine Krankheit.
Aber wir sind nun mal so veranlagt, dass wir nach Mustern suchen, dass wir aus Sternen Sternbilder machen. Eine Geschichte muss eine innere Logik haben, das Elend einen Grund. Als ich krank war, haben die Leute zu mir gesagt: »Wenigstens hast du jetzt eine Pause von der vielen Arbeit«, als hätte ich das gewollt. Oder sie sagten: »Wenigstens wirst du wieder ganz gesund«, wo ich vor lauter Schmerzen doch nur im Jetzt, im gegenwärtigen Moment leben konnte. Ich weiß, dass sie mir (und sich) eine konsistente, thematisch stimmige Geschichte erzählen wollten, aber solche Geschichten sind kein Trost, wenn man verdammt genau weiß, dass sie nicht stimmen.
Erzählen wir solche Geschichten Menschen, die chronische Schmerzen haben oder mit unheilbaren Krankheiten leben, läuft das oft darauf hinaus, dass wir ihre Erfahrungen herunterspielen. Wir bringen unsere Zweifel angesichts ihrer Gewissheit zum Ausdruck, was nur das Ausmaß verschärft, in dem Schmerzen diejenigen, die sie erleiden, vom Rest der Gesellschaft trennen. Die Herausforderung und Verantwortung des Menschseins, so scheint es mir, besteht darin, das Menschsein auch in anderen zu erkennen — auf die Schmerzen der anderen zu hören und sie ernst zu nehmen, auch wenn man sie nicht spüren kann. Dass wir zuhören können, unterscheidet das menschliche Leben meiner Meinung nach nun wirklich vom Pseudo-Leben eines Enterovirus.
Ich gebe der viralen Meningitis einen Stern.