Es gibt ein Gedicht von Kaveh Akbar, das so anfängt: »es ist seit Monaten Januar in beiden Richtungen«, und das stimmt wirklich. Ich kann mich zwar noch abstrakt daran erinnern, wie es sich anfühlt, ein T-Shirt zu tragen, oder wie mir beim Unkrautjäten im Garten der Schweiß über den Nasenrücken läuft. Aber ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie die Sonne sich auf meiner Haut anfühlt, während ich jetzt die verwelkten Paprika- und Tomatenstauden aus der Erde ziehe, möglichst mit dem Rücken zum Wind, von dem mir die Lippen aufspringen. Ich hätte das schon vor Monaten tun sollen, als es noch wärmer war und die Pflanzen genauso verwelkt. Aber ich habe alles hinausgeschoben, sogar die angeblich so entspannende Gartenarbeit.
Hier in Indianapolis lautet die Antwort auf die Frage »Warum ist der Himmel blau?« schon seit einer ganzen Weile, dass er gar nicht blau ist. Ich muss immer wieder an einen Vers aus einem Song der Mountain Goats denken: »The gray sky was vast and real cryptic above me.«
In der Literaturkritik gibt es einen Begriff für unsere Gewohnheit, Nichtmenschlichem menschliche Gefühle zuzuschreiben: pathetic fallacy, Vermenschlichung der Natur. Das Innenleben einer Person wird in der Außenwelt gespiegelt, etwa wenn John Keats in seiner »Ode auf die Melancholie« von einer »weinenden Wolke« schreibt und Shakespeare im Julius Caesar von »bedrohlichen Wolken«. Wordsworth schreibt, er sei »einsam wie eine Wolke« gewandert. In den Gedichten von Emily Dickinson sind die Wolken manchmal neugierig und dann wieder gemein. Wolken trennen uns von der Sonne, wenn wir Schatten brauchen, sie trennen uns aber auch von ihr, wenn wir Licht brauchen. Sie sind, wie der Rest von uns, vom jeweiligen Zusammenhang abhängig.
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Ich habe mit der Gartenarbeit angefangen, weil meine Therapeutin es empfohlen hat. Sie meinte, Gartenarbeit könnte mir helfen, und das hat sie auch. Zwar bin ich kein besonders guter Gärtner (eine Tomate, die ich erfolgreich ernte, kostet im Schnitt etwa 17 Dollar), aber ich habe die Hände gern in der Erde und sehe den Samen dabei zu, wie sie keimen. Das Wertvollste daran ist für mich allerdings, dass ich, bevor ich damit begonnen habe, Gemüse anzubauen, immer davon geträumt habe, einen richtigen Feind zu haben, und jetzt habe ich einen. Es handelt sich um ein Waldmurmeltier — ein erstaunlich rundliches Geschöpf, das nach Belieben in meinen Garten gewatschelt kommt und eine Vielzahl von Früchten von der Paprikaschote bis zur Sojabohne verspeist. Laut Wikipedia haben Waldmurmeltiere in freier Wildbahn eine Lebenserwartung von höchstens sechs Jahren, aber meine Nemesis lebt und frisst das, was ich für sie anbaue, nun schon seit mindestens acht Jahren.
Sie wohnt etwa acht Meter vom Rand des Gartens entfernt unter einem kleinen Holzschuppen, in dem ich Gartengeräte aufbewahre. Manchmal beobachte ich von der Veranda hinter meinem Büro aus, wie sie sich unter dem Zaun durchgräbt, den mein Vater und ich aufgestellt haben, um Waldmurmeltiere abzuhalten. Ich schreie sie dann von dem lindgrünen Adirondack-Gartensessel aus an, auf dem ich zu schreiben versuche, und stehe auf und gehe auf sie zu. Sie hebt nur den Kopf, betrachtet mich mit abgrundtiefer Verachtung und kehrt in aller Gemütsruhe unter dem Zaun hindurch in ihr Zuhause zurück.
Und wenn ich dann fünf oder zehn Minuten später aufblicke, tut sie sich an den Sojabohnen gütlich. Sie weiß, dass ich nicht bereit bin, sie zu töten, und auch nicht intelligent genug, den Garten murmeltiersicher zu machen, deshalb lebt sie immer weiter und wird aufgrund einer wunderbaren Diät von frischem Bio-Obst und -gemüse steinalt.
Man braucht ein Ziel, wenn man durchs Leben kommen will. Das Waldmurmeltier hat mir eins gegeben. Aber jetzt ist Winter, Anfang 2020, und es macht Winterschlaf. Es ist seit Monaten Januar in beiden Richtungen und ich weiß natürlich nicht, was noch kommt.
Verspätet hole ich Tomatengitter und Bohnenstangen aus dem Garten und verstaue sie im Schuppen. Ich achte darauf, möglichst laut aufzutreten, in der Hoffnung, dass ich dadurch den Schlummer des Waldmurmeltiers störe. Es dauert eine Ewigkeit, die Tomatengitter mit meinen kältestarren Fingern aufeinanderzustapeln, und ich fluche und schimpfe in mich hinein, warum ich das nicht schon im November getan habe, dann wäre ich jetzt nicht hier.
Warum verschiebst du es dann nicht einfach noch einmal?, überlege ich. Warum gehst du nicht einfach rein, machst dir Kaffee und guckst etwas herrlich Anspruchsloses im Fernsehen, während die Kinder durchs Haus toben? Weil ich Zeit für mich wollte und in meinem Alter ist das hier der Weg.
Nachdem ich die Rankgitter aufeinandergestapelt habe, kehre ich in den Garten zurück. Vom Himmel fällt Eisregen — oder eigentlich nicht wirklich Eisregen. Es gibt hier in Indianapolis ein verbreitetes Wetterphänomen, das »Wintermix« genannt wird. Niederschlag wechselt von Eisregen zu Schnee und zu Regen und wieder zurück. Manchmal bekommen wir auch diese seltsamen kleinen Schneekügelchen, die man Graupel nennt.*34
Schnee ist wunderschön und fast schon kitschig, wenn er herunterschwebt, den Boden bedeckt und eine himmlische Stille verbreitet. Der Wintermix ist dagegen radikal unromantisch, wie es das Wort »Graupel« gut ausdrückt. Der Wintermix ist eine für den Mittleren Westen typische Form des Niederschlags: praktisch, unschön und anspruchslos.
Während ich verwelkte Bohnenstauden in den Schubkarren schichte, ist mir, als spucke der Himmel auf mich herunter. Ich denke an Wilson Bentley, den Hobbyfotografen aus Vermont, der 1885 als Erster eine Nahaufnahme von einer Schneeflocke machte. Bentley hat dann noch über 5000 Schneeflocken fotografiert, die er »Eisblumen« und »kleine Wunder der Schönheit« nannte.
Niemand ist je auf die Idee gekommen, Graupel ein kleines Wunder der Schönheit zu nennen, und natürlich mag ich es nicht, wenn kleine Eiskügelchen auf mich niederprasseln oder Graupelschauer über die endlose Ödnis eines Felds in Indiana fegen und mich aus allen möglichen und unmöglichen Richtungen anfallen. Und doch … irgendwie mag ich den Wintermix. Unter anderem daran erkenne ich, dass ich zu Hause bin.
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Ich liebe Indianapolis, gerade weil es nicht leicht zu lieben ist. Man muss schon eine Zeit lang hier verbringen, um seine Schönheit zu erkennen. Man muss lernen, dass Wolken mehr sind als nur bedrohlich oder trostlos. Der Ausdruck pathetic fallacy klingt abschätzig und war ursprünglich auch so gemeint, als der Kritiker John Ruskin ihn prägte. Über romantische Dichter wie Scott und Wordsworth schrieb Ruskin: »Die Liebe zur Natur hängt mehr oder weniger mit ihrer Schwäche zusammen.« Und im Anschluss erklärt er, Gefühle in die Natur hineinzulesen sei »immer ein Zeichen für einen ungesunden Gemütszustand und einen vergleichsweise schwächlichen«.*35
Vielleicht liegt es ja an meinem vergleichsweise schwächlichen und ungesunden Gemütszustand, aber ich finde diese Art der Vermenschlichung oft passend. Ich mag es, wenn Wordsworth einsam wie eine Wolke wandert oder Scott vom »warmherzigen Leuchten« der Natur schreibt. Manchen Menschen macht das Wetter wirklich zu schaffen, besonders in den Wintertagen mit wenig Licht. Das Wetter hat vielleicht keine menschlichen Gefühle, aber es löst welche aus. Außerdem können wir nicht anders, als die Welt um uns im Zusammenhang mit uns und vor allem unseren Gefühlen zu sehen. Das ist kein Defekt des menschlichen Bewusstseins, sondern eine Eigenschaft.
Aber ja, natürlich sind wir dem Regen vollkommen egal. Wie E. E. Cummings es ausgedrückt hat: »Den schnee schert es einen weichen, weißen / dreck, Wen er berührt.« Und ja, wir sind den Modernisten ja so dankbar, wenn sie unsere Türen einschlagen und uns mitteilen, dass Wolken nicht drohen oder weinen und dass das einzige Verb, das eine Wolke je gebildet hat, »sein« war. Aber uns schert es einen weichen, weißen Dreck, wen der Schnee berührt.
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Während ich die Schubkarre mit entwurzelten toten Pflanzen zu unserem Komposthaufen schiebe, fallen mir ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Anne Carson ein. »Der erste Schnee des Winters / schwebte auf seine Lider herab und bedeckte die Äste um ihn und brachte / alle Spuren der Welt zum Schweigen.« Aber hier im Land des Wintermixes gibt es kein Schweigen, nur das misstönende Geprassel und weiße Rauschen, mit dem die Graupelkörner den Boden bombardieren.
Das Waldmurmeltier verschläft alles. Wenn es Ende März wieder in Schwung kommt, wird es sich noch genauso fühlen, ich dagegen ganz anders. In dem Monat, in dem es aufwacht, wird Sarahs Lesereise abgesagt werden. Die Schulen unserer Kinder werden schließen. Wir werden von Freunden und Familie getrennt sein, für vier oder vielleicht auch acht Monate, wie wir zunächst glauben.
Ich werde mich auf einmal viel mehr für den Garten interessieren als je zuvor und im Frühjahr mithilfe eines — ausgerechnet — Youtube-Videos eine Lösung für den großen Murmeltierkrieg finden. Wie sich herausstellt, bin ich nicht der Einzige, der in ständigem Konflikt mit einem Waldmurmeltier lebt, und ein anderer Gärtner schlägt eine radikale Lösung vor, die perfekt funktioniert. Ich grabe ein Stück Land beim Schuppen um. Anschließend säe ich Sojabohnen in meinem Garten und dann welche im Garten des Murmeltiers. Mit der Paprika und den Bohnen verfahre ich genauso.
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Ab Anfang März werde ich dann täglich die ganze Zeit draußen sein, voller Heißhunger auf eine Normalität, die ich nur draußen spüre, wo die Natur so rasch voranschreitet. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich verstehen, dass ich nicht nur für die Erde geschaffen bin, sondern auch aus ihr.
Aber noch sind wir nicht so weit. Noch hat der bedrohliche Frühling nicht ausgeschlagen. Ich kippe die toten Pflanzen auf einen Komposthaufen und stelle die Schubkarre wieder in den Schuppen. Am Abend werden Sarah und ich eine Lesung der Dichterin Paige Lewis besuchen. Ich liebe Lewis’ Buch Space Struck aus vielen Gründen, aber vor allem weil die Gedichte der Angst Stimme und Form geben, die einen so großen Teil meines Lebens beherrscht, der Panik vor bedrohlichen Wolken und höhnischen Waldmurmeltieren. In einem Gedicht schreibt Lewis von einem Erzähler, der sich fühlt
als sei ich auf dem Mond
und hörte die Luft zischend
aus meinem Raumanzug entweichen
und als könnte ich das Loch nicht finden.
Ich bin der Vizepräsident der Panik
und der Präsident ist nicht da.
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Im März 1965 stieg der Kosmonaut Alexei Leonow aus der Raumkapsel Mir aus und schwebte als erster Mensch frei im Weltall.*36 Am Ende seines ersten Weltraumspaziergangs stellte er fest, dass sein Raumanzug sich im Vakuum des Alls ausgedehnt hatte und er nicht mehr in die Kapsel hineinkam. Er hatte nur die Möglichkeit, ein Ventil des Anzugs zu öffnen und die darin enthaltene Luft in den Weltraum entweichen zu lassen. Dadurch schrumpfte der Anzug so stark, dass er sich, kurz bevor sein Sauerstoff verbraucht war, wieder in das Raumschiff zwängen konnte. Die Natur ist uns gegenüber gleichgültig, aber für Alexei Leonow hat sich das sicher nicht so angefühlt, als er spürte, wie die Luft entwich und die Leere hereinströmte.
Ich glaube, dass wir gar nicht anders können, als der Welt Bedeutung zu verleihen. Wir sind kleine Feen, die überall ihren Bedeutungsstaub verstreuen. Dieser Berg soll Gott bedeuten und dieser Niederschlag Ärger. Das Vakuum des Weltraums bedeutet Leere und das Waldmurmeltier den Spott der Natur angesichts der menschlichen Absurdität. Wir schaffen Bedeutung, wohin wir auch gehen, und aus allem, dem wir begegnen. Aber auch wenn wir nicht anders können, können wir meiner Meinung nach doch entscheiden, was für eine Bedeutung wir etwas geben.
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Vom Garten ging ich nach drinnen. Ich duschte und das Wasser prickelte auf meiner eisigen Haut. Ich zog mich an, scheitelte mit einem Kamm meine Haare und fuhr zusammen mit Sarah durch den tückischen Wintermix zu einer Dichterlesung. Wir unterhielten uns über Sarahs Buch und unsere Kinder. Dann schaltete Sarah das Radio ein. An einem anderen Abend wäre dasselbe Wetter gefährlich, bedrohlich oder trostlos gewesen. Nicht so an diesem Abend. Was man anschaut, ist wichtig, aber nicht so wichtig wie die Art und Weise, wie man es anschaut, und mit wem man es tut. An diesem Abend war ich mit genau der richtigen Person an genau dem richtigen Ort zusammen und ich will verdammt sein, wenn der Graupelschauer nicht wunderschön war.
Ich gebe dem Wintermix vier Sterne.