Ich leide nicht unter der Illusion, die Vereinigten Staaten seien ein vorbildliches oder auch nur irgendwie außergewöhnliches Land, aber wir haben tatsächlich viele der größten Kugeln der Welt. Die weltgrößte Kugel aus Stacheldraht befindet sich in den USA, genauso wie die weltgrößte Popcornkugel, die weltgrößte Stickerkugel, die weltgrößte Kugel aus Gummibändern und so weiter. Die weltgrößte Briefmarkenkugel befindet sich in Omaha, Nebraska — sie wurde von den Bewohnern des »Boys Town« genannten Waisenhauses zusammengesammelt.
Die Briefmarkenkugel habe ich vor zwanzig Jahren anlässlich einer Autofahrt mit meiner damaligen Freundin besucht, bei der wir auf der Suche nach Attraktionen an der Straße das Land kreuz und quer durchfahren haben. Unsere Beziehung war am Auseinandergehen und wir suchten nach einer geografischen Heilung. Wir besuchten Carhenge in Nebraska, eine aus schrottreifen Autos erbaute genaue Nachbildung von Stonehenge, und Corn Palace in South Dakota, ein riesiges Gebäude mit einer Fassade überwiegend aus Maiskörnern. Außerdem besichtigten wir die weltgrößte Zwirnkugel, geschaffen von einer Person in Darwin, Minnesota, und die weltgrößte Zwirnkugel, geschaffen von einer Gemeinde in Cawker City, Kansas.*42 Kurz darauf haben wir uns getrennt, aber Cawker City kann uns keiner mehr nehmen.
Ein Gedicht von Emily Dickinson beginnt so: »Durchs Hirn schritt mir ein Leichenzug.« Es ist eins der wenigen Gedichte, die ich auswendig kann. Es endet wie folgt:
Dann brach ein Balken im Verstand,
Ich stürzte ab und stieß
An immer neue Welten an,
Dann — war mit Wissen Schluss —
Vor einigen Jahren ist bei mir ein Balken im Verstand gebrochen und ich bin tief gefallen und habe bei jedem Sturz Welten angestoßen. Es passierte nicht zum ersten Mal, was ein schwacher Trost ist, wenn man das eigene Begräbnis vor Augen hat.
Während ich damit beschäftigt war, mich zu erholen oder wenigstens den Sturz zu verlangsamen, kehrten meine Gedanken zu der Autofahrt von damals zurück und ich beschloss, es wieder mit einer geografischen Heilung zu versuchen. Ich fuhr also los, um mir die größte Farbkugel der Welt anzusehen, was mir das Leben retten sollte, zumindest vorerst.
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Attraktionen an der Straße faszinieren mich, weil sie Orte sind, an denen sich das Wirken großer Systeme mit dem Wirken kleiner Individuen überschneidet. Wir haben so viele solcher Attraktionen, weil wir so viele Straßen haben — unser Autobahnnetz muss viele Menschen durch riesige Gebiete transportieren.*43 Ist man erst mal auf der Autobahn, kann man einfach immer weiterfahren, bis man Benzin oder etwas zu essen braucht. Will man den Tempomat-gesteuerten Fahrer von der kerzengeraden Fernstraße herunterholen, braucht es etwas Außergewöhnliches, etwas noch nie Dagewesenes. Eben die weltgrößte .
Es ist also der große Zusammenhang, der die Attraktion am Straßenrand notwendig macht, aber was jeweils gezeigt wird und warum, entscheiden einzelne Menschen. Man nehme etwa Joel Waul, den Schöpfer von »Megaton«, der weltgrößten Kugel aus Gummibändern. Als er sich daranmachte, die Kugel zu schaffen, schrieb er auf seiner Myspace-Seite: »Erstens brauchst du eine konkrete, praktisch durchführbare Idee, ein Ziel, eine Vorgabe. Zweitens brauchst du die zu Erreichung des Ziels notwendigen Mittel. Drittens musst du die Mittel auf dieses Ziel ausrichten. — Aristoteles.«*44 Für Waul bestand die konkrete, praktisch durchführbare Idee darin, die weltgrößte Kugel aus Gummibändern herzustellen, die letztendlich über 4500 Kilo wog. Mir ist nicht ganz klar, warum ich es so schön finde, sich so bedingungslos der Schaffung von etwas so Unwichtigem zu verschreiben, aber so ist es eben.
Die größte Farbkugel der Welt befindet sich in der kleinen Ortschaft Alexandria, Indiana. 1977 bemalte Mike Carmichael zusammen mit seinem dreijährigen Sohn einen Baseball. Und dann malten sie immer weiter. In Roadside America erzählt Carmichael: »Ich hatte vor, vielleicht tausend Schichten zu machen und den Ball dann vielleicht auseinanderzuschneiden, um ihn von innen zu sehen. Aber dann hatte er eine Größe, in der er richtig klasse aussah, und meine ganze Familie meinte, ich solle weitermalen.« Carmichael lud Freunde und Angehörige dazu ein und dann kamen auch Fremde und Mike ließ sie ebenfalls malen.
Heute, über vierzig Jahre später, trägt der Baseball mehr als 26.000 Farbschichten. Er wiegt zweieinhalb Tonnen und hat ein eigenes kleines Haus. Jährlich kommen etwa tausend Besucher und fügen neue Farbschichten hinzu. Der Besuch kostet nichts. Mike stellt sogar die Farbe zur Verfügung. Auch er und sein Sohn malen noch, aber die meiste Arbeit machen die Besucher.
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Als Kind stellte ich mir vor, dass der technische Fortschritt vor allem durch die genialen Erkenntnisse einzelner heroischer Persönlichkeiten vorangetrieben wurde, die für sich allein arbeiteten, genauso wie für mich Kunst die Geschichte einzelner Genies war. Shakespeare, Leonardo da Vinci und wer auch immer erweiterten durch ihre angeborene Genialität den kulturellen Horizont der Menschen und ich brauchte nur Leben und Werk dieser Personen zu studieren, um vollständig darüber Bescheid zu wissen, wie große Kunst entsteht. In der Schule lernte ich fast immer, egal ob in Geschichte, Mathematik oder Literatur, die großen Titanen stünden im Mittelpunkt. Michelangelo mit seiner Decke, Newton mit dem fallenden Apfel, Caesar, der den Rubikon überschreitet.
Manchmal, das muss ich gerechterweise dazusagen, wurde immerhin erwähnt, dass die Umstände bei der Entstehung von etwas Großem eine Rolle spielten. Bei der Besprechung der Abenteuer des Huckleberry Finn in der Highschool wies einer meiner Lehrer darauf hin, dass Mark Twain, um Mark Twain zu werden, während des Krieges, der Amerika im 19. Jahrhundert spaltete, an dem Fluss aufwachsen musste, der Amerika im 20. Jahrhundert spaltete. Aber meist bekam ich zu hören und glaubte es auch, dass die wichtigen Dinge nicht mit der Zeit oder durch die Zusammenarbeit vieler entstanden, sondern von einzelnen Heroen und Genies geschaffen wurden.
Ich glaube immer noch an das Genie. Von John Milton über Jane Austen bis zu Toni Morrison sind einige Künstler und Künstlerinnen einfach … besser. Aber heute sehe ich Genie mehr als Kontinuum und nicht einfach als Persönlichkeitsmerkmal. Mehr noch, ich glaube, dass der Kult um Genies in der Kunst und anderswo letztlich falsch ist. Isaac Newton hat die Schwerkraft nicht entdeckt. Er hat unser Bewusstsein davon zusammen mit vielen anderen zu einer Zeit und an einem Ort erweitert, als Wissen effizienter aufgebaut und mitgeteilt werden konnte. Julius Caesar wurde nicht Diktator, weil er mit seiner Armee den Rubikon überquerte. Er wurde es, weil die römische Republik im Lauf der Jahrhunderte in Sachen Staatsfinanzierung zunehmend von ihren erfolgreichen Feldherren abhängig geworden war und die Soldaten des Imperiums sich ihren militärischen Anführern stärker verpflichtet fühlten als den zivilen. Und Michelangelo profitierte nicht nur von verbesserten Kenntnissen der menschlichen Anatomie und davon, dass er in Florenz aufwuchs, damals einer reichen Stadt, sondern auch von der Arbeit verschiedener Gehilfen, die für ihn Teile der Sixtinischen Kapelle ausmalten.
Ähnlich lebten auch die Menschen, die für uns im Mittelpunkt jüngerer Revolutionen stehen, in einer Zeit und an einem Ort, wo sie zu einem schnelleren Mikrochip, einem besseren Betriebssystem oder einer funktionaleren Tastatur beitragen konnten. Selbst das größte Genie kann allein nur sehr wenig ausrichten.
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Ich habe mir — vor allem als ich jünger war — oft gewünscht, dass meine Werke besser, dass sie genial wären, dass ich so gut schreiben könnte, dass meine Werke in Erinnerung blieben. Aber ich denke, eine solche Vorstellung von Kunst übertreibt die Bedeutung des Einzelnen. Kunst und Leben sind letztlich vielleicht mehr wie die größte Farbkugel der Welt. Man wählt die Farben sorgfältig aus und dann fügt man eine Schicht hinzu, so gut man eben kann. Irgendwann wird diese Schicht übermalt. Es kommen immer mehr Schichten dazu, bis von deiner nichts mehr zu sehen ist. Und zuletzt weiß vielleicht niemand mehr davon außer dir.
Das heißt aber nicht, dass deine Farbschicht unwichtig wäre oder ein Misserfolg. Du hast die Kugel dauerhaft verändert, wenn auch nur ein wenig. Du hast sie schöner und interessanter gemacht. Die größte Farbkugel der Welt sieht überhaupt nicht mehr wie der Baseball aus, der sie einmal war, und dazu hast du beigetragen.
Das bedeutet Kunst letzten Endes für mich. Der eine malt den Ball an und beeinflusst dadurch den Nächsten, der den Ball ebenfalls anmalen will, und so weiter, bis ein von Kummer und Angst getriebener Typ nach Alexandria, Indiana, kommt, um sich anzusehen, was für einen wunderschönen Blödsinn Tausende von Menschen gemeinsam geschaffen haben, und dabei Hoffnung empfindet, die nur erklärt und vermittelt werden kann, indem er selbst mitmalt. Der Typ fügt der Kugel eine eigene Farbschicht hinzu, die nicht überdauert, aber deshalb trotzdem wichtig ist. Kunst ist nicht nur das fortschreitende Genie, das, wie James Joyce es ausgedrückt hat, aufbricht, um »in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden«. Kunst heißt auch, ein Hellblau für deine Schicht der größten Farbkugel der Welt auszuwählen und dann, obwohl du weißt, dass deine Schicht bald übermalt werden wird, trotzdem zu malen.
Ich gebe der größten Farbkugel der Welt vier Sterne.