Meine Kinder spielen mit mir gern ein uraltes Spiel namens »Warum?«. Ich sage zum Beispiel, dass sie ihr Frühstück aufessen sollen, und sie fragen: »Warum?« Darauf sage ich, damit ihr genügend Nährstoffe und Flüssigkeit zu euch nehmt, und sie fragen: »Warum?« Darauf sage ich, dass ich mich als ihr Vater verpflichtet fühle, für ihre Gesundheit zu sorgen, und sie fragen: »Warum?« Darauf sage ich, einmal, weil ich euch lieb habe, und zum anderen, weil das Zwänge sind, die die Evolution in meiner Biologie verankert hat, und sie fragen: »Warum?« Darauf sage ich, weil die Art weiterbestehen will, und sie fragen: »Warum?«
Darauf mache ich eine lange Pause und sage schließlich: »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich glaube ich trotz allem, dass das Unternehmen Mensch es wert ist.«
Darauf folgt Schweigen. Ein wunderbares, gesegnetes Schweigen breitet sich am Frühstückstisch aus. Womöglich greift ein Kind sogar wieder zur Gabel. Und dann, als es gerade so aussieht, als wollte die Stille ihren Mantel ablegen und eine Weile bleiben, fragt eins meiner Kinder: »Warum?«
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Als Jugendlicher habe ich das Warum-Spiel dazu verwendet, festzustellen, dass es kein Warum gibt, wenn man nur tief genug gräbt. Ich schwelgte im Nihilismus, gefiel mir als überzeugter Nihilist. Überzeugt davon, dass alle, die glaubten, das Leben hätte einen Sinn, dumm waren. Und dass Sinn nur eine Lüge ist, die wir uns einreden, um den Schmerz der Sinnlosigkeit ertragen zu können.
Vor einiger Zeit begann mein Gehirn ein Spiel zu spielen, das dem Warum-Spiel ähnelt. Es heißt »Was hat das überhaupt für einen Sinn«.
Es gibt ein Gedicht von Edna St. Vincent Millay, das ich in zwei meiner Romane zitiere und jetzt wieder, weil ich keine andere Beschreibung kenne, die so perfekt auf meine depressiven Schneestürme zutrifft. »Ein Frösteln liegt in der Luft«, beginnt das Gedicht, »Das der Weise gut kennt und sogar zu ertragen gelernt hat. / Diese Freude, ich weiß, / Wird bald unter Schnee liegen.«
Ich sitze Ende 2018 in einem Flughafen, als ich plötzlich dieses Frösteln in der Luft spüre. Was hat das überhaupt für einen Sinn? Ich will an einem Dienstagnachmittag nach Milwaukee fliegen, werde mich gleich mit anderen mäßig intelligenten Affen in eine Röhre quetschen, die eine ganz erstaunliche Menge Kohlendioxid in die Atmosphäre spuckt, um uns von einem Bevölkerungszentrum zum anderen zu transportieren. Nichts von dem, das die Leute in Milwaukee zu tun haben, ist wirklich wichtig, weil nichts wirklich wichtig ist.
Wenn mein Kopf anfängt, »Was hat das für einen Sinn« zu spielen, kann ich keinen Sinn darin finden, Kunst zu machen, die doch nur als schmückendes Beiwerk die endlichen Ressourcen unseres Planeten verbraucht. Ich kann keinen Sinn darin finden, einen Garten anzupflanzen, der doch nur auf ganz ineffektive Weise Nahrung erzeugt, die unsere nutzlosen Gefäße noch eine Weile länger am Leben erhält. Und ich kann keinen Sinn darin sehen, sich zu verlieben, weil das doch nur der verzweifelte Versuch ist, die Einsamkeit zu vertreiben, für die es keine Lösung gibt. Denn du bist immer allein »tief unten in dem Dunkel, das du bist«, wie Robert Penn Warren es ausgedrückt hat.
Nur dass es kein Dunkel ist. Es ist etwas viel Schlimmeres. Was da in Wirklichkeit über mich hereinbricht, wenn mein Gehirn »Was hat das für einen Sinn« spielt, ist ein Blizzard von gleißend frostweißem Licht. Im Dunkeln zu sein tut nicht weh, aber das hier schon, als blickte man in die Sonne. Das Millay-Gedicht spricht von der »hellen Sorge des Auges«. Mir scheint, die helle Sorge ist das Licht, das man sieht, wenn man nach der Geburt zum ersten Mal die Augen öffnet, das Licht, das einen die ersten Tränen weinen lässt, das Licht, das deine erste Angst ist.
Was hat das überhaupt für einen Sinn? All diese Mühe und Anstrengung für etwas, das zu nichts wird, und zwar schon bald. Wie ich da im Flughafen sitze, ekeln mich meine Exzesse, mein Scheitern, meine erbärmlichen Versuche, aus dem Stoff einer sinnlosen Welt etwas Sinnvolles, Hoffnungsvolles zu machen. Ich habe mich selbst überlistet, als ich dachte, es gebe einen Grund für alles und das Bewusstsein sei ein Wunder, wo es doch nur eine Last ist, und zu leben sei wunderbar, während es in Wirklichkeit doch nur schrecklich ist. Tatsache ist doch, sagt mein Gehirn, wenn es dieses Spiel spielt, dass es dem Universum egal ist, ob ich existiere.
»Rasch fällt die Nacht«, schreibt Millay. »Heut’ ist schon vorbei.«
Das Besondere an diesem Spiel ist, dass ich, wenn mein Gehirn einmal damit angefangen hat, nicht mehr aufhören kann. Jede ernsthafte Gegenwehr meinerseits wird augenblicklich durch das sengende weiße Licht ausgelöscht und ich habe das Gefühl, als könnte man das Leben nur überleben, indem man sich ironisch davon distanziert. Wenn ich schon nicht glücklich sein kann, will ich wenigstens gelassen sein. Wenn mein Gehirn »Was hat das für einen Sinn« spielt, fühlt sich jede Hoffnung fadenscheinig und naiv an — zumal angesichts der endlosen Schrecken und Gräuel des menschlichen Lebens. Was wäre das für ein Dummkopf und Idiot, der angesichts dieses Zustands etwas anderes als tiefste Verzweiflung empfindet?
Ich höre auf, an die Zukunft zu glauben. In Jacqueline Woodsons Roman If You Come Softly gibt es einen Mann, der sagt, dass er, wenn er in die Zukunft blickt, nur »diese große Leere, wo ich sein sollte« sieht. Wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich nur die große Leere, den warum-losen blanken Terror. Und die Gegenwart tut weh. Alles tut weh. Der Schmerz kräuselt sich unter meiner Haut, erschüttert mich bis in die Knochen. Was für einen Sinn hat all dieser Schmerz und diese Sehnsucht? Warum?
Verzweiflung ist nicht sehr produktiv. Das ist das Problem mit ihr. Die Verzweiflung kann sich vermehren wie ein sich selbst replizierendes Virus. Wenn das Spiel »Was hat das für einen Sinn« mich zu einem leidenschaftlichen Verfechter der Gerechtigkeit oder des Umweltschutzes machen würde, wäre ich sofort dafür. Aber das weiße Licht der Verzweiflung macht mich träge und apathisch. Ich habe Mühe, überhaupt etwas zu tun. Ich habe Schwierigkeiten, zu schlafen, aber auch Schwierigkeiten, nicht zu schlafen.
Ich will mich der Verzweiflung nicht hingeben, mich nicht aus Selbstschutz von meinen Gefühlen lossagen und mich darüber lustig machen. Ich will nicht gelassen sein, wenn gelassen gleichgültig oder distanziert gegenüber wirklicher Erfahrung bedeutet.
Depressionen kosten Kraft. Es ist ermüdend, dem eigenen Gehirn dabei zuzuhören, wie es einem ausführlich erklärt, wie dumm es wäre, auch nur einen Versuch zu machen. Wenn mein Gehirn das Spiel spielt, bin ich überzeugt, dass es nie enden wird. Aber das stimmt nicht, wie die meisten Gewissheiten. Das Jetzt fühlt sich immer endlos an und ist es doch nie. Ich habe mich schon als Jugendlicher in der Sinnlosigkeit des Lebens geirrt und ich irre mich auch jetzt wieder. Die Wahrheit ist viel komplizierter als bloße Hoffnungslosigkeit.
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Believe, glauben. Meine Freundin Amy Krouse Rosenthal forderte mich einmal auf, mir das Wort anzusehen und mich von ihm in Staunen versetzen zu lassen. Mir klarzumachen, dass es sowohl be, sein, enthalte als auch live, lebendig. Wir aßen zusammen zu Mittag, und nachdem sie gesagt hatte, wie gut ihr das Wort gefalle, wandte sich das Gespräch der Familie und der Arbeit zu. Und dann sagte sie aus heiterem Himmel: »Believe! Be live! Was für ein Wort!«
In etymologischen Lexika lese ich, dass believe protogermanische Wurzeln hat, die »wertschätzen« und »lieb haben« bedeuten. Das gefällt mir fast genauso gut wie Amys Herleitung. Ich muss mich dafür entscheiden, etwas zu glauben, lieb zu haben, wertzuschätzen. Ich mache weiter. Ich gehe zur Therapie. Ich probiere andere Medikamente aus. Ich meditiere, obwohl ich eigentlich nichts von Meditation halte. Ich treibe Sport. Ich warte. Ich arbeite, um zu glauben, wertzuschätzen und weiterzumachen.
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Eines Tages ist die Luft dann tatsächlich ein wenig wärmer und der Himmel nicht mehr so blendend hell. Ich spaziere mit meinen Kindern durch einen bewaldeten Park. Mein Sohn zeigt mir zwei Eichhörnchen, die eine mächtige Amerikanische Platane hinaufrasen, deren weiße Rinde sich schält und deren Blätter größer sind als Teller. Ich denke: Gott, ist das ein schöner Baum. Er ist bestimmt hundert Jahre alt, vielleicht mehr.
Später, wieder zu Hause, werde ich über die Platane nachlesen und erfahren, dass es Platanen gibt, die über dreihundert Jahre alt sind, älter als das Land, das sie für sich beansprucht. Ich werde erfahren, dass George Washington einmal eine Platane vermessen hat, die einen Durchmesser von rund zwölf Metern hatte, und dass im 18. Jahrhundert die Brüder John und Samuel Pringle, die von der britischen Armee desertiert waren, über zwei Jahre im ausgehöhlten Stamm einer Platane im heutigen West Virginia gelebt haben.
Ich werde erfahren, dass Herodot vor 2400 Jahren schrieb, der Perserkönig Xerxes sei mit seiner Armee durch ein Platanenwäldchen gezogen und habe dort eine Platane gesehen, »die er ihrer Schönheit wegen mit goldenem Schmuck behängte und einen Mann beauftragte, über sie zu wachen«.
Doch jetzt blicke ich nur an diesem Baum hinauf, denke daran, wie er Luft, Wasser und Sonne in Holz, Rinde und Laub verwandelt hat, und spüre, dass ich in dem ausladenden dunklen Schatten des Riesen stehe. Ich fühle den Trost des Schattens, die Linderung, die er bringt. Und das ist das Wesentliche.
Mein Sohn fasst mich am Handgelenk und lenkt meinen Blick von dem Baumkoloss auf die dünnen Finger seiner Hand. »Ich hab dich lieb«, sage ich. Ich bringe die Worte kaum heraus.
Die Platane bekommt von mir fünf Sterne.