Die deutsche Übersetzung dieses Buches heißt Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?. Ich kann kein Deutsch, finde aber, dass der Titel allein schon wunderbar aussieht. Wie hat Ihnen also das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Ja, wie.
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Schon als Kind fragte ich meinen Bruder Hank, was der Sinn des Lebens ist. Es ist für uns so eine Art Dauerscherz — wir sprechen über unser Leben und was wir damit anfangen wollen oder über unsere Familien oder die Arbeit, und wenn dann eine kurze Pause im Gespräch entsteht, sage ich: »Was ist überhaupt der Sinn des Lebens?«
Hank passt seine Antwort immer dem Gespräch an oder dem, was ich seiner Meinung nach brauche. Manchmal sagt er, der Sinn des Lebens sei, für Mitmenschen da zu sein. Bei anderen Gelegenheiten meint er, dass wir hier sind, um Zeugnis abzulegen und achtsam zu sein. In einem Song mit dem Titel »The Universe is Weird«, den er vor Jahren geschrieben hat, singt er davon, am merkwürdigsten sei, dass das Universum mit uns ein Instrument geschaffen habe, »mit dem es sich selbst erkennt«.
Er erinnert mich gern daran, dass ich aus der Materie des Universums bestehe, und zwar ausschließlich. »Du bist wirklich nur ein Klumpen Erde«, sagte er einmal, »der versucht, sich vom chemischen Gleichgewicht abzuheben.«
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In »Selbstporträt im konvexen Spiegel« schreibt John Ashbery:
Das Geheimnis liegt zu offen da.
Das Traurige daran schmerzt,
Lässt heiße Tränen hervorschießen:
daß die Seele nicht eine Seele ist,
Kein Geheimnis birgt, klein ist und nahtlos
In ihre Höhlung paßt: ihr Raum,
unser Moment der Aufmerksamkeit.
»Nahtlos in ihre Höhle passt. Ihr Raum, unser Moment der Aufmerksamkeit.« Ich flüstere diese Worte manchmal vor mich hin, ermahne mich zur Achtsamkeit, zur Wahrnehmung der nahtlos gefüllten Höhlungen um mich herum.
Mir fällt auf, dass dieses Buch voll mit Zitaten ist — vielleicht sogar übervoll. Ich bin auch übervoll mit Zitaten. Lesen und Wiederlesen ist für mich eine nie endende Lehrzeit. Ich will wissen, was Ashbery zu wissen schien: wie man den Raum der Aufmerksamkeit öffnet, der die Seele enthält. Ich will wissen, was mein Bruder weiß: wie man Sinn herstellt. Ich will wissen, was ich mit meinem winzigen Beitrag zur Vergrößerung der weltgrößten Farbkugel tun soll.
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Es ist endlich Frühling und ich lasse Karottensamen in die Erde fallen. Sie sind so winzig, dass ich natürlich viel zu viele säe, vier oder fünf Samen pro Zentimeter Erde. Ich fühle mich zwar wie ein Mensch, der Karottensamen in die Erde sät, aber in Wirklichkeit bin ich, wie mein Bruder sagen würde, Erde, die Erde in Erde steckt.
»Füllt die Erde und unterwerft sie«, sagt Gott im ersten Kapitel der Genesis. Aber wir sind selbst die Erde, die wir füllen und unterwerfen.
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Wie hat mir das Anthropozän bis jetzt gefallen? Es ist voller Wunder! In der Highschool sind mein bester Freund Todd und ich jeden Mittwoch für einen Dollar ins Kino gegangen. Wir haben uns angesehen, was gerade auf der einzigen Leinwand des ungeheizten Kinos lief. Einmal wurde ein Werwolf-Film mit Jack Nicholson und Michelle Pfeiffer an acht aufeinanderfolgenden Mittwochen gezeigt, also haben wir ihn acht Mal angesehen. Der Film war schrecklich, wurde aber besser, je öfter wir ihn sahen. Beim achten Mal saßen wir allein im Kino und heulten mit Jack Nicholson, während wir Mountain-Dew-Limonade mit Bourbon tranken.
Wie hat mir das Anthropozän bis jetzt gefallen? Es ist schrecklich! Ich habe das Gefühl, dass ich nicht dafür geschaffen bin. Ich bin erst seit Kurzem hier, habe aber schon erlebt, wie meine Art die letzten noch lebenden Vertreter vieler anderen Arten ausgerottet hat — von Vögeln wie dem Schuppenkehlmoho, der zum letzten Mal gesehen wurde, als ich zehn war, bis zu Bäumen wie der St.-Helena-Olive, von der das letzte Exemplar einging, als ich sechsundzwanzig war.
»Ich rieche die Wunde und sie riecht wie ich«, schreibt Terry Tempest Williams in Erosion. Ich lebe in einer verwundeten Welt und ich weiß, dass ich die Wunde bin: Erde, die Erde mit Erde zerstört.
Was bedeutet es, in einer Welt zu leben, in der wir die Macht haben, Arten zu Tausenden auszurotten, in der aber auch ein einzelner RNA-Strang uns in die Knie zwingen oder sogar vernichten kann? Ich habe versucht, einige der Orte zu kartografieren, an denen mein kleines Leben an die großen Kräfte stößt, die die menschliche Erfahrung gegenwärtig prägen, aber ich kann daraus nur einen einzigen, ganz einfachen Schluss ziehen: Wir sind einfach so ungeheuer klein und zerbrechlich, in so überwältigendem und erschreckendem Maß vorübergehend.
Wenn ich daran denke, wie mir das Anthropozän bis jetzt gefallen hat, denke ich an Robert Frost, der geschrieben hat: »Wie ein Stück Eis auf einem heißen Herd muss das Gedicht auf seiner Schmelze schwimmen.« So ist es mit Gedichten und so ist es mit uns. Wie Eis auf einem heißen Herd schwimmen wir auf einer schmelzenden Erde und wissen die ganze Zeit, wer sie zum Schmelzen bringt. Eine Art, die immer nur den Weg zu mehr gesucht hat, muss jetzt den Weg zu weniger finden.
Manchmal frage ich mich, wie ich in dieser Welt überleben kann, in der, wie Mary Oliver es ausgedrückt hat, »alles / Früher oder später / Teil von allem anderen ist«. Dann fällt mir wieder ein, dass ich ja sowieso nicht überleben werde. Ich werde früher oder später das »alles« sein, das Teil von allem anderen ist. Aber bis dahin: was für eine erstaunliche Erfahrung, auf diesem atmenden Planeten zu atmen. Was für ein Segen, Erde zu sein, die Erde liebt.