PROLOG

JASPER

BE-MY-DATE-BALL, ANFANG DEZEMBER IN WATERBURY, CONNECTICUT

Mit dem Zeigefinger schiebe ich den Ärmel des Jacketts ein Stück nach oben, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Neun, acht, sieben, sechs , zähle ich die Sekunden herunter. Eins …

Showtime.

In dem Augenblick, als ich aus der dunklen Ecke des Ballsaals trete und durch die Seitentür verschwinde, schießt das Adrenalin wie Starkstrom durch meine Adern und verursacht eine latente Übelkeit in meiner Magengegend. Irgendwo einzubrechen, steht bei mir nicht unbedingt auf der Tagesordnung. Dennoch werde ich es durchziehen.

Den Grundriss des Hauptgebäudes kann ich inzwischen im Schlaf aufzeichnen. Durch das Treppenhaus gelange ich eine Etage tiefer und biege nach rechts ab. Gedämpft dringt Musik aus dem Saal über mir durch die Wände. Der Maskenball ist in vollem Gange. Einen Doppelgänger zu haben, erweist sich in diesem Augenblick als äußerst nützlich. Als ich vor wenigen Monaten in Cincinnati bei einer Veranstaltung von Anderson Real Estate über Cameron gestolpert bin, war es, als hätte ich das Puzzleteil gefunden, das mir für mein Vorhaben gefehlt hat.

Habe ich seinen finanziellen Engpass zu meinem Vorteil genutzt? Ja, das streite ich auch gar nicht ab. Habe ich diesbezüglich ein schlechtes Gewissen? Nein, nicht einmal ansatzweise. Der Deal, den ich ihm angeboten habe, ist fair. Allein deswegen, da ich noch ein anständiges Sümmchen obendrauf gelegt habe, als ich herausgefunden habe, wofür er das Geld wirklich benötigt. Nicht weil ich gerne den Samariter spiele, sondern weil er einen Nerv in mir getroffen hat. Falsche Schuld ist ein Parasit, den man nur loswird, indem man den eigenen Verstand anständig durchspült und eine neue Perspektive schafft.

Das Leben ist eine endlose Situation-Aktion-Reaktion-Gleichung. In Camerons Fall sieht sie wie folgt aus: Er hat rebelliert – seine Eltern haben überreagiert – zwei Menschen sind tot. Nichts davon lässt sich ungeschehen machen. Dem gegenüber stehen Geldprobleme, Angst und Schuld. Das sind keine Konstanten, sie lassen sich verändern. Streicht man die Variablen, schafft man eine neue Ausgangssituation und das Spiel beginnt von vorn. Genau das habe ich getan. Ich habe ein wenig an den Parametern gedreht, die Camerons Leben beeinflussen. Weil ich ihn brauche, damit der Plan funktioniert. Über meine Methoden lässt sich streiten, aber sie sind äußerst effektiv.

Während ich durch die spärlich beleuchteten Gänge des Waterbury College schleiche, geht mir der Arsch auf Grundeis. Dabei sollte sich inzwischen so etwas wie Routine eingestellt haben. Immerhin bin ich in den vergangenen Monaten mehr als nur einmal nachts durch die alten Gemäuer und die unterirdischen Gänge geschlichen und habe alles ausgespäht. Habe einen Plan B geschmiedet, nachdem Aspen meinen ursprünglichen vereitelt hat. Cameron war das perfekte Trojanische Pferd und sie hat dafür gesorgt, dass es vom Spielfeld genommen wurde.

Ich gebe zu, mein Ego ist nach wie vor angekratzt, weil mich jemand eliminiert und mir den virtuellen Mittelfinger gezeigt hat, indem die Person meine Backdoor unbrauchbar gemacht hat, wodurch mir der Zugang zum Server verwehrt blieb. Aber das eigentliche Problem ist, dass ich dadurch keine Möglichkeit mehr habe, von außerhalb zu agieren, und mir die Zeit davonrennt. Statt also entspannt mit einer Tasse Tee vor meinem Laptop zu sitzen, bin ich gezwungen, mir die benötigten Daten direkt zu beschaffen. Konkret bedeutet das, ich breche in das Büro der Collegeleitung ein. Das ist auch für mich eine Premiere. Normalerweise greife ich nicht auf physische Methoden zurück, sondern bin der Schatten, dessen Existenz verborgen bleibt. Unbemerkt rein und unbemerkt wieder raus. Das Risiko, auf frischer Tat ertappt zu werden, hätte ich gerne vermieden.

Cameron gibt mir das nötige Alibi, indem er an dem heutigen Event teilnimmt und die Gelegenheit nutzt, um Aspen zurückzuerobern. Wir haben heute Abend beide eine Mission, die in ihrem Grundgedanken nicht unterschiedlicher sein könnte, dennoch profitieren wir voneinander.

Mit zittrigen Fingern ziehe ich die Handschuhe aus der Innentasche meines Smokings und streife sie über. Die vergangenen Wochen habe ich damit verbracht, mir Wissen über das Knacken von Schlössern anzueignen. Im Traum hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Fähigkeit einmal beherrschen müsste. Ein Kinderspiel hingegen war es, die Überwachungskameras auszutricksen und eine Zeitschleife einzubauen.

Bevor ich auf die verschlossene Tür zugehe, die sich am Ende des Ganges befindet, blicke ich mich ein letztes Mal um. Der Flur ist leer. Dann atme ich tief durch, hole das Werkzeug aus meiner Hosentasche und mache mich an die Arbeit. Nur wenige Sekunden später springt die Tür mit einem leisen Klicken auf. Im Grunde ist es recht simpel, ein Schloss zu knacken. Es gleicht einem Computerprogramm. Hat man erst mal die Schwachstelle gefunden, kommt man auch rein. Und es gibt immer eine.

Ich schlüpfe in den Raum. So weit, so gut. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und ich schemenhaft die Umrisse der Einrichtung erkenne. Mein Ziel ist der Computer. Mit wenigen Schritten durchquere ich das Büro und ziehe die Vorhänge zu, dann stelle ich die Taschenlampe an meinem Smartphone an und fahre den Rechner hoch.

Passwort. Damit habe ich gerechnet. Auf dem Schreibtisch suche ich danach. Die meisten Menschen sind in dieser Hinsicht extrem naiv. Entweder schreiben sie es auf und platzieren es an Stellen, die leicht zugänglich sind, oder sie wählen eine Kombination, die man mit etwas Recherche knackt. Geburtstag. Haustier. Name rückwärts. Der Klassiker: eine Zahlenfolge wie 12345 sex. Möglicherweise noch ein Sonderzeichen davor, zum Beispiel # oder @, weil man das aus dem täglichen Gebrauch kennt. Ich bräuchte wahrscheinlich nicht länger als drei Minuten, um es auf die altmodische Art herauszufinden. Allerdings kann ich mir die Mühe sparen, denn es klebt mit Tesafilm unter der Tastatur. Idiot.

walls 5664 . Das ist viel zu einfach. Auf den gegenteiligen Fall wäre ich auch vorbereitet gewesen. Auf meinem Handy befindet sich eine Software zum Entschlüsseln von Passwörtern.

Erneut werfe ich einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten, dann springen die Überwachungskameras auf Echtzeit um. Ich öffne das Studierendenverzeichnis und klicke die Akten an, auf die ich es abgesehen habe. Aus der hinteren Hosentasche hole ich den Stick, um sie darauf zu speichern, dann widme ich mich meinem nächsten Ziel.

Walls, du Trottel. Ehrlich, irgendwer sollte den Kerl mal über Cybersicherheit aufklären. Erstaunlich, dass Waterbury von außen eine digitale Festung und von innen das reinste Schlaraffenland für Hacker ist. Es ist fast schon beleidigend, wie leicht er es mir macht. Er hat ernsthaft seine Zugangsdaten beim Controlling hinterlegt.

Über die Suchfunktion gebe ich den Firmennamen ein. Bingo! Hier ist es, Camerons Ticket, um am Waterbury College zu bleiben. Ich halte meine Versprechen. Glücklicherweise verfügen Arschlöcher wie Walls über ausreichend Überheblichkeit, zu glauben, mit Macht und Geld ließe sich alles regeln. In diesem Fall soll er das auch. Jedenfalls so lange, bis ich die Zulassungspapiere für Cam habe. Danach breche ich ihm und allen anderen mit dem größten Vergnügen das Genick und lasse sie gemeinsam in der Hölle schmoren.

Ungeduldig sehe ich auf die Uhr. Noch knapp zwei Minuten. Allmählich werde ich nervös. Das Blut rauscht in meinen Ohren, während ich die Finanzberichte des Colleges ebenfalls auf den Stick ziehe. Immer wieder huscht mein Blick zur Tür. Die Loading-Anzeige bewegt sich in Zeitlupe von links nach rechts. Die Sekunden auf meiner Uhr hingegen scheinen doppelt so schnell herunterzuzählen.

Als die Übertragung abgeschlossen ist, atme ich einmal tief durch. Anschließend fahre ich den Computer herunter, ziehe die Vorhänge wieder auf und schleiche zum Ausgang. Bevor ich das Büro verlasse, lausche ich durch die Tür. Stille. Also dann, nichts wie weg hier.

Noch eine Minute.

Ich haste den Flur entlang und biege nach rechts in Richtung Ausgang ab. Das Vibrieren an meinem Handgelenk informiert mich in dem Augenblick darüber, dass die Zeit abgelaufen ist, als ich durch die Sicherheitstür schlüpfe.

Geschafft!