FÜNF JAHRE UND VIER MONATE ZUVOR
JASPER, 15 JAHRE ALT
Mit starrer Miene sehe ich auf meine Schuhspitzen, während die Vorsitzende des Gremiums die Entscheidung vorliest. Mein Dad sitzt hinter mir, neben ihm meine Mom. Quentin atmet erleichtert aus, als feststeht, dass ich nicht der Schule verwiesen werde.
Zufrieden klopft er mir auf die Schulter. »Da hast du wohl noch mal Glück gehabt«, sagt er und steht von seinem Stuhl auf, sobald die vier Menschen, die gerade über meinen Verbleib an der Wycliffe School entschieden haben, mit einem kurzen Nicken den Raum verlassen.
Glück? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es weniger damit zu tun hat. Das, was ich getan habe, ist in meinen Augen kein Unrecht gewesen. Allerdings haben das einige Leute anders gesehen. Nur deswegen sitze ich in einem Saal, der nach Bohnerwachs und eingestaubtem Holz riecht.
»Danke, Quentin, das war gute Arbeit.«
Bei dem Klang der Stimme meines Dads zucke ich zusammen.
»Wenn Sie mich entschuldigen, ich habe noch einen Termin und bin etwas spät dran.«
»Natürlich. Vielen Dank.«
Der Anwalt bedenkt mich mit einem freundlichen Lächeln. »Auf Wiedersehen, Jasper. Grüß Maxwell von mir.« Quentin arbeitet für meinen Großvater und ist der Bitte nachgekommen, seinem Enkel aus der Patsche zu helfen. Mal wieder.
»Werde ich«, antworte ich verhalten und sehe ihm nach, als er den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen entlanggeht und schließlich durch die massive Eichenholztür verschwindet.
»War es das wert?«, richtet mein Dad das Wort schroff an mich. Ich hatte gehofft, er würde nicht hier auftauchen. Aber ich hätte es besser wissen müssen. Elijah Anderson lässt keine Gelegenheit für eine Standpauke aus. Selbst dann nicht, wenn er dafür stundenlang in einem Flieger von Boston nach London sitzt. Es ist jetzt ein bisschen mehr als fünf Jahre her, dass meine Eltern sich in die Staaten abgesetzt haben und ich in ein Internat verfrachtet wurde. Natürlich nur zu meinem Besten. Vor drei Jahren war ich bereits von der Stowe School geflogen, weil ich mich meines Hobbys bedient hatte, um einem Lehrer eins auszuwischen.
Ich sehe zu Mom, die zaghaft lächelt und mich im nächsten Moment fest in die Arme nimmt. Das macht sie immer. Sie hat mich nicht hier zurückgelassen, weil sie es wollte, sondern weil man Elijah nicht widerspricht. Sie liebt mich, das sagt sie jedes Mal. Und ich glaube ihr. Weil ich es in ihrem Blick erkenne, wenn sie sich von mir verabschiedet. Aber ich bemerke auch die Angst, die sie überkommt, sobald mein Dad seine Macht demonstriert. So wie in diesem Augenblick, als er auf mich herabsieht, als hätte ich nicht eine Sekunde seiner Aufmerksamkeit verdient.
Mit ausdrucksloser Miene stehe ich von dem Stuhl auf und stelle mich vor ihn. Inzwischen befinden wir uns größentechnisch auf Augenhöhe, aber gewachsen fühle ich mich ihm dennoch nicht. Er hat diese Art von Autorität, deren Arroganz Übelkeit in mir hervorruft. Anders lässt es sich nicht beschreiben.
»War es das wert, Jasper?«, wiederholt er.
»Was hätte ich deiner Meinung nach sonst tun sollen?«, erwidere ich mit fester Stimme.
»Du hast einem Mitschüler die Nase gebrochen und einem anderen den Arm ausgekugelt«, erinnert er mich.
»Sie haben es verdient.« Der Dritte ist mit einem blauen Auge davongekommen, weil er sich aus dem Staub gemacht hat, bevor ich ihn zu packen bekam.
»Hast du eine Ahnung, wie viel Geld mich dein unüberlegtes Handeln kosten wird?«
Vermutlich schickt er einen fetten Scheck an alle Beteiligten, damit sie die Füße stillhalten, und spendiert der Schule eine neue Bibliothek oder so was in der Art. Ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann, der mir aber in der Vergangenheit mehrfach den Arsch gerettet hat. Oder mich in den Käfig steckte, aus dem ich seit Jahren versuche auszubrechen. Vergebens. Was nützt der goldene Löffel, wenn er so groß ist, dass er dich erstickt?
»Hätte ich zusehen sollen, wie sie Noah verprügeln?«
Noah Gibson ist im Jahrgang über mir. Einige mögen ihn nicht, weil er nicht in ihre Vorstellung von cool passt. Bis vor zwei Jahren habe ich mir kaum Gedanken über ihn gemacht. Er war einfach nur ein Typ. Ich bin nicht unbedingt das, was man als kontaktfreudig bezeichnen kann. Am liebsten bin ich für mich allein. Außerhalb des Cricketteams habe ich kaum Kontakt zu den anderen Kids.
Noah hat sich eines Nachmittags zu mir an den Tisch gesetzt, als ich in der Bibliothek eine Runde Schach gegen mich selbst gespielt habe. Von da an haben wir hin und wieder eine Partie bestritten, wenn wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind. Wir hatten also nie viel miteinander zu tun. Das änderte sich, als ich mitangesehen habe, wie ihn zwei Jungs in die Mangel genommen haben. Das war das erste Mal, dass ich dazwischengegangen bin. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir mit einer blutigen Nase im Büro der Rektorin saßen. Mit jeder Tracht Prügel, die wir eingesteckt haben, sind wir mehr zu einer Einheit zusammengewachsen. Inzwischen ist Noah mein bester Freund und wir teilen uns ein Zimmer im Internat.
»Der Junge ist nicht dein Problem, also hör auf, seine für ihn lösen zu wollen.«
Nein, ist er nicht, aber ich würde immer wieder die Schuld auf mich nehmen, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Weil man bei mir eher ein Auge zudrückt. Weil mein Dad eben ist, wer er ist. Nicht ich habe Connor die Nase gebrochen, es war Noah. Und ich habe ihm das Versprechen abgenommen, die Klappe zu halten.
Ich erinnere mich noch, dass es an dem Tag geregnet hat und ich gerade vom Crickettraining kam. Für Oktober war es erstaunlich warm. Vom Sportplatz bis zum Wohnheim braucht man höchstens fünf Minuten. Es lag bereits in Sichtweite, als ich Gebrüll aus Richtung der Gewächshäuser hörte. Zwar konnte ich die Stimmen nicht zuordnen, aber es klang nicht nach einer amüsanten Unterhaltung. Also beschloss ich herauszufinden, was da los ist, und sah Noah auf dem Boden liegen. Bedeckt mit Blumenerde. Einer der drei Typen war gerade dabei, einen Sack über Noahs Gesicht auszukippen.
Plötzlich war ich wieder zehn Jahre alt. Ich musste in Stowe so viel einstecken. Weil ich kleiner als die Jungs in meinem Alter war. Weil ich Bücher mochte statt Sport. Weil ich lieber Schach als Minecraft spielte. Im Grunde war egal, was ich tat oder wofür ich mich interessierte. Sie hassten mich, weil ich war, wie ich war. Noah so zu sehen, war wie ein Déjà-vu. Mit dem Unterschied, dass ich inzwischen wusste, wie man sich wehrt.
»Ich schicke dich nicht auf die besten Schulen des Landes, damit du dich wie ein unterprivilegierter Teenager prügelst, weil dir die Rangordnung nicht gefällt.«
Damit meint er, dass Noah finanziell betrachtet auf der Stufe unter mir steht und meine Aufmerksamkeit nicht wert ist. Ich frage mich, wie renommiert sind diese Schulen, wenn sie zulassen, dass solche Dinge auf der Tagesordnung stehen?
»Also ist es okay, wenn drei Jungs einen Schwächeren demütigen, verprügeln und dazu zwingen, ihre Hausaufgaben zu machen, weil das Vermögen ihrer Familien größer ist? Ist das die Lektion, die jeder fürs Leben lernen muss, damit er in der Gesellschaft besteht?«