2.

JASPER

Sie hat mir zehn Minuten gegeben. Ich brauche elf, um geduscht und mit frischer Kleidung die Küche zu betreten. Dennoch bin ich zu früh. Cam ist gerade dabei, den Tisch zu decken. Unaufgefordert gehe ich ihm zur Hand.

»Und, hast du die Gegend ausgespäht?«

»Wenn du damit meinst, ob ich laufen war, dann ja.«

»Bei den Temperaturen würden mich keine zehn Pferde vor die Tür bekommen.«

»Die bekommen dich auch bei Plusgraden nicht von der Couch hoch«, merke ich an, dass seine Motivation in dem Punkt deutlich nachgelassen hat.

Cam brummt etwas Unverständliches vor sich hin.

»Wo sind die drei Damen, die uns den Abend versüßen?«, frage ich gedehnt, während ich die Gläser auf dem Tisch abstelle.

Mit den Fingern zeichnet er Anführungszeichen in die Luft. »Machen sich noch frisch.«

»Sie führen also ein Gespräch über uns. Interessant. Was glaubst du, wie wir dabei wegkommen?« Im Grunde ist es mir völlig egal, was Aspens Freundinnen von mir denken. Warum ich mich von ihr zu der Aktion habe überreden lassen, ist mir schleierhaft. Den Sinn dahinter verstehe ich durchaus. Wenn man eine Bindung zu jemandem hat, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass derjenige Geheimnisse für einen bewahrt. Ein gemeinsames Wochenende in den Hamptons hätte ich dafür dennoch nicht gebraucht. Meine Methode, damit die beiden den Mund halten, wäre eine andere gewesen. Aber ich mag Aspen, also gebe ich dem Quatsch hier widerwillig eine Chance.

Cameron bleibt mir eine Antwort schuldig, weil sich in diesem Augenblick Stimmengewirr aus dem Flur nähert. Solange noch freie Platzwahl herrscht, setze ich mich an den Tisch. Cam tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.

»Entspann dich«, sage ich leise.

Aspen kommt als Erste in die Küche, gefolgt von einer mürrisch guckenden Dion. Abbie sieht flüchtig in meine Richtung, während mein Blick ihr folgt. Die Anspannung, die herrscht, ist greifbar. Das verspricht ein anstrengender Abend zu werden. Würde ich Cam damit nicht in den Rücken fallen, würde ich aufstehen und die Veranstaltung ohne mich stattfinden lassen. Aber ihm ist es wichtig, dass Aspens Freundinnen ihn akzeptieren, und mir ist Cam wichtig, also reiße ich mich zusammen. Hoffentlich zieht sich der Blödsinn nicht unnötig in die Länge.

Dion setzt sich auf die Stirnseite und somit auf den Stuhl, der am weitesten von mir entfernt ist. Die Abneigung, die sie für mich empfindet, ist nicht zu übersehen. Meine Anwesenheit im Ferienhaus ihrer Familie duldet sie nur, weil Aspen sie darum gebeten hat. Cam wählt den Platz mir gegenüber, Aspen den neben ihm. Somit bleibt Abbie nur der Stuhl an meiner Seite.

»Was möchtet ihr trinken?«, fragt Cam und macht Anstalten aufzustehen.

»Wir sind durchaus in der Lage, uns selbst zu bedienen.«

Verwundert sieht er mich an. Mit einem Nicken gebe ich ihm zu verstehen, dass er sich wieder hinsetzen soll. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass ausgerechnet er den Kellner spielt. Weil ich genau weiß, warum er in die Rolle schlüpft. Cam denkt, dies wäre sein Platz in der Hierarchie. Und ich hasse es, dass er nach wie vor glaubt, er würde weit unter den hier Anwesenden stehen. Demonstrativ greife ich nach der Wasserflasche und schenke erst Cam und dann mir etwas ein. Als ich die Flasche wieder abstellen will, hält mir Aspen ihr Glas entgegen.

»Wenn du einmal dabei bist.« Zuckersüß lächelt sie mich an. Damit wurde ich gerade zum Kellner degradiert. Aber das ist mir tausendmal lieber, als wäre es Cam.

»Sehr gern«, antworte ich und fülle ihr Glas, anschließend sehe ich herausfordernd zu Dion, die wortlos nach dem Pinot greift. Ihre Aussage war demzufolge kein Scherz. Sie wird versuchen, sich mich erträglich zu trinken. Diese Art von Humor macht sie beinahe sympathisch.

Ich wende mich Abbie zu, die mächtig verkrampft wirkt, meinem Blick aber dennoch standhält. Dunkelbraune Augen mit einem aufrichtigen Funkeln, umrahmt von tiefschwarzen Wimpern mit einem Schwung, der ihnen etwas Verträumtes verleiht. Aber es ist dieser braungrüne schmetterlingsähnliche Fleck in ihrer linken Iris, der mich für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Konzept bringt. Weil er dort nicht hingehört. Wie ein Fehler in der Matrix. Gleichzeitig fasziniert mich dieses kleine Detail in seiner Perfektion. Heterochromie. Zu gerne würde ich mich ihr entgegenbeugen und einen genaueren Blick darauf werfen.

Abbie blinzelt, als sie bemerkt, was ich gerade entdeckt habe. Abrupt beendet sie unseren Blickkontakt, nimmt mir die Flasche aus der Hand und schenkt sich selbst ein.

»Ich sterbe vor Hunger«, sagt Aspen und beginnt die Suppe auf den Tellern zu verteilen.

Die nächsten Minuten herrscht unangenehmes Schweigen, was nicht verwunderlich ist, wenn man Menschen gemeinsam an einen Tisch setzt, die nicht mehr gemeinsam haben als das Geheimnis, das sie zusammengebracht hat.

»Das schmeckt wirklich toll«, lobt Abbie und lächelt Cameron an. Die Sorte Mensch ist sie also. Nett, höflich, zuvorkommend und hübsch. Sie versprüht eine Unschuld, die in mir den Wunsch weckt, das brave Mädchen herauszufordern, um herauszufinden, ob da noch etwas anderes in ihr lauert. Dennoch steht sie auf meiner Annäherungsblacklist. Weil Aspen mir die Hölle heißmachen würde. Sie mag mich. Aber nicht so sehr, dass sie mir es verzeihen würde, sollte ich ihre Freundin ohne aufrichtige Absichten flachlegen.

»Danke.« Als Cameron zurücklächelt, unterdrücke ich ein Augenrollen. Meine Zeit könnte ich für Besseres nutzen.

»Cameron, ist da etwa Zimt drin?«

Cam setzt sich augenblicklich aufrechter hin, als ausgerechnet Dion das Wort an ihn richtet.

»Ja, ich mag Zimt.«

Er kann ihn nicht ausstehen. Mehr als einmal hat er erwähnt, dass er Granny Els Apfelkuchen nur ihr zuliebe isst und den darübergestreuten Zimt heimlich herunterkratzt. Mein erster Impuls ist, ihm für seine Lüge einen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen.

»Immerhin hat dein Freund Geschmack und kann kochen.« Zumindest bringt ihm das Geflunker ein paar Sympathiepunkte ein, die ich ihm gönne. Dion Carmichael auf seiner Seite zu haben, schadet nicht. Die Frau ist mindestens so giftig, wie sie schön ist. Allerdings weckt nichts an ihr meine Neugier. Sie ist nicht mein Typ. Und das liegt nicht an ihrem Aussehen, sondern an den Werten, die sie auslebt. Wir könnten nicht unterschiedlicher sein.

Aus dem Augenwinkel sehe ich zu Abbie. Hier würden wir schon eher ins Geschäft kommen.

Sie nackt auf mir wäre durchaus etwas, das mich reizt. Sehr sogar. Erneut schlage ich mir den Gedanken aus dem Kopf, den ich vorhin bereits einmal hatte, als sie überraschend im Gästezimmer stand.

Am Ende ist es Aspen, die eine Unterhaltung beginnt, indem sie ihre Freundinnen nach deren Ausflug in die Skihalle fragt. Wann habe ich mich zuletzt in einer Unterhaltung befunden, die sich so unangenehm anfühlt, obwohl sie sich nicht um mich dreht? Alles wirkt erzwungen und ich gebe zu, ich bin genervt. Cam und ich tauschen immer wieder Blicke aus, ohne uns in das Gespräch einzubringen. Er schweigt, weil er unsicher ist, und ich, weil ich schlichtweg nicht an einem Gespräch interessiert bin.

Gedanklich klinke ich mich aus der Konversation aus. Mir entgeht allerdings nicht, dass Abbie mir immer wieder einen Blick von der Seite zuwirft, was ich geflissentlich ignoriere. Jedenfalls so lange, bis sie das Gespräch auf Camerons Zeit in Waterbury lenkt. Geschickt weicht er Fragen zu den Gründen aus. Weder seine finanzielle Notlage noch meine Absichten erhalten Raum, stattdessen erzählt er, wie es für ihn gewesen ist, ich zu sein. Wie sehr er mich für den Sportkurs und Modernes Schauspiel gehasst hat.

Weder hatte ich die Kurse nach meinen Interessen ausgewählt noch um Cam zu ärgern. Die Kurse standen bereits fest, bevor ich Cam begegnet bin. Ich hatte mich in die Fächer eingeschrieben, die den wenigsten Aufwand bedeuten und die meiste Freizeit garantieren würden, um meinen Plan zu finalisieren. Die klassischen Natur- oder Geisteswissenschaften hätten beispielsweise eine doppelte Stundenzahl bedeutet. Auch bei der Anzahl der zu belegenen Kurse habe ich auf das Minimum gesetzt. Im Grunde hatte Cam einen entspannten Alltag. Nur er allein hat es kompliziert gemacht, als er plötzlich auf mehr als die fünfzigtausend Dollar scharf war.

Mein Blick wandert zu Aspen, die Cam verliebt ansieht, als er einen Arm auf der Stuhllehne hinter ihr ablegt und mit den Fingerspitzen immer wieder ihren Oberarm auf und ab fährt. Vielleicht ist mein Plan nicht ganz aufgegangen, aber mit dem Ergebnis bin ich durchaus zufrieden. Zumindest mit dem, was ich gerade vor Augen habe. Tatsächlich empfinde ich so etwas wie Stolz, wenn ich die beiden ansehe. Nein, wie ein Verlierer fühle ich mich keineswegs.

»Was hast du eigentlich getrieben, als Cameron für dich in Waterbury war?«

Schlagartig herrscht Ruhe am Tisch und alle Augenpaare sind auf mich gerichtet, als Abbie mich in die Unterhaltung miteinbezieht. Die Suppe ist inzwischen kalt und ich habe kaum was gegessen. Kürbis ist nicht mein Fall. Ich schiebe den Teller ein Stück von mir, bevor ich mich Abbie zuwende.

»Ich hatte privat ein paar Differenzen, die ich klären musste«, antworte ich kühl. Cam verschluckt sich an seinem Wasser.

»Was für welche?«, hakt sie nach. Ihre Augen weiten sich, als ich missbilligend eine Braue hochziehe. »Du musst nicht antworten, wenn das zu persönlich ist«, rudert sie kurzerhand zurück.

So ganz werde ich noch nicht schlau aus ihr. Während ihre Freundin Dion ein offenes Buch ist, passt bei Abbie vieles nicht zusammen. Auf der einen Seite strahlt sie Zurückhaltung aus und auf der anderen plappert sie ungehalten drauflos. So wie vorhin. Ich mache sie nervös. Stellt sich nur die Frage, welche Art von Nervosität ich in ihr auslöse. In mir weckt sie den Spieler und es wäre ein Leichtes zu gewinnen. Bevor ich mich auf das Abenteuer hier eingelassen habe, habe ich beide durchleuchtet. Wenn Aspen davon wüsste, würde sie mir den Hals umdrehen, aber sie hat es mir nicht untersagt. Ein Wort von ihr und ich hätte den Laptop nicht aufgeklappt.

»Wenn ihr mich entschuldigt, ich bin kein Fan von erzwungenen Unterhaltungen.«

Dion stößt laut den Atem aus. Sie mag weder Cam noch mich und daran wird sich auch nichts ändern, solange Dion nicht von dem Podest herabsteigt, auf das sie ihre Eltern gestellt haben. Was sie hier versucht, wird niemals funktionieren. Ich weiß das und sie weiß es ebenfalls.

Weil ich es hier keine Sekunde länger aushalte, stehe ich auf. Ein letztes Mal schaue ich zu Abbie, die mich ansieht, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst. Hat sie meine Antwort verletzt? Die Worte waren an Dion gerichtet. Abbie habe ich bei meiner kurzen Ansprache nicht einmal angesehen.

Als sie kaum merklich trotzig das Kinn in die Höhe reckt, kenne ich die Antwort. Und sie stört mich mehr, als ich für möglich gehalten hätte.

Bevor ich die Küche verlasse, räume ich meinen Teller in die Spülmaschine. Das Glas Wasser nehme ich mit.

Nach meinem Abgang schicke ich Cam eine kurze Nachricht, dass er nicht mehr mit mir rechnen soll und wir uns zum Frühstück sehen. Er antwortet mit einem einfachen Okay und verlangt keine weitere Erklärung. Weil er genau weiß, wie wenig Lust ich auf dieses Wochenende habe.

***

Es ist zwei Uhr morgens, als ich das Buch beiseitelege. Meine Kehle fühlt sich trocken an, also stehe ich auf, um mir aus der Küche etwas zu trinken zu holen.

Als ich in den Flur trete, lausche ich kurz, ob von unten Geräusche zu hören sind, aber es herrscht absolute Stille. Einen Moment sehe ich den dunklen Flur hinunter, dann gehe ich auf die Treppe zu. Das automatische Licht schaltet sich ein, bevor ich den Fuß auf die erste Stufe setze. Mein Weg führt mich direkt in die Küche. Jemand hat die Beleuchtung an der Abzugshaube angelassen, was dafür sorgt, dass der Raum im Halbdunkel liegt.

Ich nehme die Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, fülle mein Glas und trinke es in einem Zug aus. Anschließend stelle ich es in die Spüle. Anstatt direkt wieder nach oben zu gehen, öffne ich das Tiefkühlfach. Zufrieden grinse ich, als ich die Eisbecher von Ben & Jerry’s entdecke. Ich inspiziere die Sorten. Apple-y Ever After. Irgendwer in diesem Haus teilt eindeutig meinen Geschmack.

Ohne zu zögern, nehme ich den Becher heraus und ziehe eine Schublade nach der anderen auf. Sobald ich einen Löffel gefunden habe, öffne ich die Packung und lehne mich gegen die Arbeitsfläche der Kücheninsel. Immer wieder wandert der Löffel voll Eiscreme in meinen Mund. Das Fatale an dem Zeug: Hat man erst mal angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich morgen früh Ersatz auftreiben muss, liegt bei hundert Prozent.

Nach wenigen Minuten habe ich das erste Drittel verdrückt. Der Löffel steckt ein weiteres Mal im Becher, als ein Geräusch meine Aufmerksamkeit erregt.

Ich sehe in Richtung Tür. Keine zwei Atemzüge später taucht Abbie in meinem Blickfeld auf und schaltet das Deckenlicht ein. Sie trägt einen gepunkteten Schlafanzug, der sie um einiges jünger wirken lässt. Die Haare, die ihr eigentlich bis knapp unter das Kinn reichen, hat sie achtlos zu einem Knoten zusammengebunden. Einzelne Strähnen hängen heraus.

Zielstrebig geht sie zum Kühlschrank und öffnet genau wie ich zuvor das Tiefkühlfach. Sie wühlt darin herum und seufzt laut, als sie nicht findet, wonach sie sucht. Mit etwas zu viel Schwung schließt sie es wieder. Ignoriert sie mich absichtlich oder hat sie nicht bemerkt, dass sie nicht allein im Raum ist? Kurz sehe ich auf den Becher in meiner Hand und dann erneut zu Abbie. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie danach gesucht hat?

Sie dreht sich um und gibt einen schrillen Laut von sich.

»Herrje, hast du mich erschreckt. Kannst du dich nicht bemerkbar machen?« Währenddessen legt sie eine Hand auf ihr Herz und lenkt damit meine Aufmerksamkeit für einen winzigen Augenblick auf ihre Brüste. Sofort sehe ich ihr wieder ins Gesicht, als in meinem Verstand die Information ankommt, dass sie unter dem Trägertop keinen BH trägt.

»Ich wollte dich nicht bei deinem Beutezug stören«, antworte ich und grinse sie an.

Ihr Blick bleibt an dem Becher in meiner Hand hängen.

»Wie ich sehe, bin ich zu spät.« Sie atmet einmal tief durch und sieht mich dabei sehnsüchtig an. Nicht mich, die Eiscreme, um genau zu sein. Da ich kein egoistischer Mensch bin, strecke ich den Arm nach der Besteckschublade aus, ziehe sie auf und nehme einen weiteren Löffel heraus. Als ich ihn ihr entgegenhalte, beäugt sie mich misstrauisch.

»Ich beiße nicht.«

»Sicher?«

»Okay, wenn du mich darum bittest, vielleicht schon.«

In ihrem Blick flackert etwas auf, das ich nicht klar deuten kann. Neugier oder Vorsicht. Vielleicht beides zu gleichen Teilen. Lass es , ermahne ich mich selbst.

Es dauert ein paar Sekunden, bis sie die Distanz zwischen uns überbrückt und sich den Löffel schnappt. Sie stellt sich neben mich und ich halte ihr den Becher entgegen. Zu meiner Verwunderung nimmt sie ihn mir nicht ab, sondern lässt lediglich den Löffel in die Eiscreme wandern. Schweigend teilen wir uns das Eis. Und mit jeder Portion, die in unseren Mündern landet, fühlt es sich an, als würde sich der Abstand zwischen uns verringern. Nicht körperlich. Es ist die Barriere in meinem Kopf, die sich zunehmend auflöst, je leerer der Becher wird. Was fatal ist, weil es meine Konzentration stört.

Aus dem Augenwinkel sehe ich sie an und frage mich, was genau hier gerade passiert. Nach meinem Abgang beim Abendessen hätte ich erwartet, dass sie einen Bogen um mich macht. Entweder lässt sie sich nicht so einfach in die Flucht schlagen oder sie war extrem scharf auf die Eiscreme und nimmt mich notgedrungen als Gesellschaft in Kauf.

»Das, was ich vorhin gesagt habe, habe ich nicht so gemeint«, beende ich die Stille zwischen uns.

»Doch hast du«, widerspricht sie mir, und damit hat sie recht. Weil die Worte nie unüberlegt meinen Mund verlassen.

»Erwischt.«

»Die Situation ist für uns alle seltsam. Aber du kannst nicht erwarten, dass niemand Fragen hat.«

»Wenn ich nicht erwarten darf, dass niemand Fragen stellt, warum erwartet ihr dann, von mir Antworten zu erhalten?« Denn genau so ist es. Nur deswegen haben sie dem gemeinsamen Wochenende zugestimmt. Aber weder Cameron noch ich haben ihnen Schaden zugefügt. Und ich sehe mich auch nicht in der Pflicht, ihre Neugier zu stillen. Es wäre ein Kinderspiel, mir eine glaubhafte Story aus den Fingern zu ziehen, warum Cameron meinen Platz eingenommen hat. Die Wahrheit ist, mir ist egal, was eine Dion Carmichael oder Abbie Westing denken.

»Bist du deswegen so miesepeterig, weil du denkst, wir fesseln dich an einen Stuhl und kitzeln die Wahrheit aus dir heraus?« Ihr Lachen trifft mich völlig unvorbereitet, genau wie die Berührung, als ihr Arm meinen streift. Nicht länger als für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, damit ich von ihr abrücke, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.

»Ich bin nicht kitzlig, ihr werdet euch also etwas anderes überlegen müssen«, sage ich. Nur mit Mühe kann ich mir ein Grinsen verkneifen, als ich es mir bildlich vorstelle.

»Wie stehen meine Chancen, wenn ich zu unserer nächsten Unterhaltung einen Apfelkuchen mitbringe?«, fragt sie amüsiert.

Skeptisch sehe ich sie an. »Wie kommst du darauf?«

Sie klopft mit dem Löffel zweimal leicht auf den Becher. »Du hast Appel-Pie-Geschmack gewählt.«

Ungläubig ziehe ich eine Augenbraue hoch. Die Antwort nehme ich ihr nicht ab.

»Vielleicht hat Cameron mir einen kleinen Tipp gegeben.«

»Hat er das?« Ich sollte ihm einen Maulkorb verpassen, wenn er sich zu einer Plaudertasche entwickelt.

»Er meinte, du würdest dich damit eventuell bestechen lassen, ein bisschen netter zu sein.«

Als meine Mundwinkel verdächtig zucken, lächelt sie siegessicher. »Es stimmt also.« Das begeisterte Funkeln in ihren Augen trifft bei mir eindeutig einen Nerv, der gefährlich für meine Selbstbeherrschung ist. Sie blinzelt verlegen, weil ich sie unbeirrt ansehe. Mir jedes Detail in ihrem Gesicht einpräge. Hohe Wangenknochen, Stupsnase, vereinzelte Sommersprossen. Mein Blick fixiert ihren Mund. Als sie es bemerkt, presst sie die vollen Lippen aufeinander, als würde sie ihre Worte gerne zurücknehmen. Zu spät, meine Gedanken sind bereits ein Szenario weiter.

Die Wahrheit ist, sie braucht ganz gewiss keinen Apfelkuchen, um mich davon zu überzeugen, etwas netter zu ihr zu sein. Sie müsste mich nur darum bitten.

Im nächsten Moment stoße ich mich von der Arbeitsfläche ab und positioniere mich vor ihr.

»Wie nett hättest du mich denn gerne?«, fordere ich sie heraus, als sie zu mir aufsieht.

Sie schluckt sichtlich.

Diese Art von nett. Dachte ich mir.

Ich stelle den Becher auf der Kücheninsel ab, bevor ich die Hände rechts und links von ihr auf der Arbeitsplatte platziere und Abbie somit zwischen meinen Armen gefangen nehme. Ungeniert sehe ich sie an. Warte darauf, dass sie das Weite sucht. Was sie nicht tut. Die Vernunft, die mir vorhin noch entgegengebrüllt hat, dass es eine bescheuerte Idee ist, mich ihr zu nähern, hat sich zu einem erstickten Wimmern entwickelt. Denn wäre es anders, würde ich nicht die Lücke zwischen uns schließen, bis ich ihren Körper an meinem spüre. Und nicht nur das. Meine Lippen streifen ihr Ohrläppchen.

Sie erstarrt. Sofort halte ich inne und rücke von ihr ab, weil ich das als unausgesprochenes, aber klares Nein deute.

»Nicht so nett«, presst sie hervor, schlüpft unter meinem Arm hindurch und verlässt die Küche, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen.