5.
ABBIE
Es ist seltsam, ihm erneut gegenüberzustehen. Weil es sich anfühlt, als würde ich ihn kennen und irgendwie auch nicht.
Ich will ihn gerade fragen, warum er so plötzlich aus den Hamptons abgereist ist, als die Musik im Inneren des Hauses verstummt.
»Da hat wohl endlich jemand den Stecker der Soundanlage gezogen«, stellt Jasper fest und sieht zur Terrassentür. Mein Blick folgt seinem.
»Was ist da los?«, frage ich, als sich die Leute im Wohnzimmer scharen.
»Wir könnten nachsehen?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, geht Jasper auf die Tür zu, hält sie auf und lässt mir den Vortritt. Warme Luft und Stimmengewirr schlagen mir entgegen. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie kühl es auf der Terrasse ist. Für Ende Januar ist es dennoch erstaunlich mild.
»Wenn ich um eure Aufmerksamkeit bitten darf«, ertönt Henrys Stimme. Suchend schaue ich mich nach ihm um und entdecke ihn auf dem Couchtisch stehend.
Die Geräuschkulisse um uns herum verklingt. Schlagartig herrscht eine Stille, die in mir ein beklemmendes Gefühl hervorruft. Irgendwas passiert hier gleich. Und wenn ich in die Gesichter der Menschen im Raum blicke, scheint jeder außer mir zu wissen, was auf uns zukommt. Bitte lass es kein albernes Partyspiel sein. Ich hasse diese Art von Unterhaltung, denn ich bin extrem mies in solchen Dingen. Und Dion wird mich überreden, daran teilzunehmen. Das macht sie immer und ich gebe jedes Mal nach.
»Es ist wieder so weit, ein neues Jahr hat begonnen und ihr erhaltet die Chance, die Herrschaft über den Campus zu erlangen. Zu eurem Leidwesen müsst ihr auch in diesem Jahr gegen mich antreten –«
Ein Raunen geht durch die Menge.
»Wovon redet er da?«
Bevor Jasper darauf antworten kann, fährt Henry mit seiner Rede fort.
»Jaja, ich weiß. Nach drei Jahren wäre es an der Zeit für eine neue Führungsspitze. Aber was soll ich sagen, völlig unerwartet bin ich durch die Abschlussprüfung gefallen und mein Aufenthalt in Waterbury wird dadurch verlängert –«
»Komm zum Punkt, Walls«, brüllt jemand dazwischen.
»Sei nicht so ungeduldig, Perez!«, erwidert Henry.
»Wir verteilen nun die Zugänge zum Spiel.« Easton klettert zu Henry auf den Tisch, reißt feierlich die Arme in die Höhe und präsentiert eine dunkle Box, als wäre sie eine Trophäe. Applaus ertönt.
Was zum Teufel …
»Die meisten von euch wissen, wie es läuft, weil sie in den vergangenen Jahren bereits teilgenommen haben. Für die Neuen erkläre ich kurz den Ablauf.«
Easton hüpft wieder vom Tisch und verschwindet in der Menge.
»Es ist simpel: In den Umschlägen befindet sich ein Code, der bringt euch zur App. Nach erfolgreicher Registrierung und Zahlung der Teilnahmegebühr von dreihundert Dollar wird euch der Zugang zu Secret Enemy gewährt. Erfüllt die erste Aufgabe heute bis Mitternacht, um eine Runde weiterzukommen. Die Ergebnisse erhaltet ihr nächsten Sonntag. Aufgabe zwei lässt sich dann ab null Uhr für die darauffolgende Woche abrufen. Anschließend erhaltet ihr pro Woche eine Quest. Insgesamt gibt es sechs Aufgaben. Sobald ihr eine freigeschaltet habt, bleiben euch vierundzwanzig Stunden, um sie abzuschließen. Wer bis dahin nicht abliefert, fliegt aus dem Game. Mit jeder Runde erhöht sich der Schwierigkeitsgrad. Aussteigen könnt ihr jederzeit über den Exit-Button. Im März küren wir bei einer angemessenen Party den Gewinner oder die Gewinnerin dieses Jahres. Zusätzlich zu Ruhm und Ehre winken fünfundzwanzigtausend Dollar Siegesprämie.«
Hat Henry gerade wirklich gesagt, man kann einen Batzen Geld gewinnen? Fünfundzwanzigtausend sind vielleicht kein Vermögen, aber ich könnte damit meiner Mom etwas unter die Arme greifen. Allerdings müsste ich dreihundert Dollar investieren.
Kurz überlege ich, wie viel Geld sich auf meinem Konto befindet. Genügend für eine Teilnahme. Aber wenn ich verliere, bin ich dreihundert Dollar los. Wenn ich wiederum gewinne –
»Na, schöne Frau, bist du dabei?«
Ich sehe Easton an, der mir auffordernd eine Schachtel entgegenhält. Unschlüssig betrachte ich die Box, danach sehe ich erst Easton, dann Jasper an, der mich eindringlich mustert. Ich richte meinen Blick wieder auf die Umschläge.
»Also? Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit«, drängelt Easton.
Einen Versuch ist es wert. Ich atme tief durch, bevor ich einen der dunkelblauen Umschläge aus der Box nehme. Weil das hier meine beste Chance ist, schnell an viel Geld zu kommen.
»Was ist mit dir, verträgst du ein bisschen Action oder bist du eine Pussy?«, fordert Easton in seiner typisch charmanten Art Jasper heraus und mustert ihn abschätzig.
Dieser verkneift sich sichtlich ein Grinsen und greift kommentarlos nach einem Kuvert.
»Viel Erfolg.« Easton setzt seine Runde fort. Einen Moment sehe ich ihm hinterher, bis sein dunkler Haarschopf von der Menge verschluckt wird.
Ich wende mich wieder Jasper zu. Seine Miene ist nachdenklich, während er mich mustert. Lange und intensiver, als es angemessen ist, und ich lasse es über mich ergehen. Erwidere seinen Blick und versuche herauszufinden, was er gerade denkt. Vergebens. Seine Miene verrät absolut nichts. Sekunden vergehen, in denen wir einander ansehen. Plötzlich erscheint ein düsteres Funkeln in seinen braunen Augen, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es mir gilt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken und es beginnt in meinen Ohren zu rauschen, als mein Puls in die Höhe schießt.
»Haben alle einen Umschlag erhalten?«, unterbricht Henry unsere stumme Unterhaltung. Erneut geht ein Raunen durch das Wohnzimmer des alten Herrenhauses. Im Gegensatz zu den anderen Studierenden wohnt Henry nicht in einem der Bungalows, sondern im ehemaligen Haus seiner Familie, das sich etwas abgeschieden vom Campus befindet. Seine Eltern haben ihren Wohnsitz verlegt, seit Henry das College besucht, um ihm Freiraum zu lassen. Jetzt wohnt er allein in dem alten Herrenhaus. Und er wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass er eine Sonderstellung genießt.
Die Walls leiten in der vierten Generation das College. Als hätten sie ein Erbrecht auf den Posten. Und so wie es aussieht, folgt Henry der Familientradition. Wenn stimmt, was er sagt, ist er dank des Spiels ohnehin bereits King of the Campus. Mich wundert, dass Dion nie ein Wort darüber verloren hat. Das ist Gossip nach ihrem Geschmack. Ein Haufen Studierender, die um einen imaginären Thron kämpfen, um sich als College-Adel bezeichnen zu können.
Schon bei unserem Eintreffen habe ich mich gewundert, dass sich auf der Party viel mehr Menschen tummeln als auf den Partys, die hier für gewöhnlich stattfinden. Aber jetzt wird mir einiges klar. Der Andrang liegt einzig und allein an der Krone, die alle haben wollen. Stellt sich nur die Frage, warum? Ich habe beim besten Willen keine andere Erklärung, als dass es um Spaß geht, der den Collegealltag aufpeppt. Oder hat man davon irgendwelche Vorteile? Das Preisgeld wird es nicht sein, weil die kleine Finanzspritze niemand nötig hat. Niemand außer mir. Denn möglicherweise kann ich demnächst fünfundzwanzigtausend Dollar gut gebrauchen.
Entschlossen, mir die Siegesprämie zu sichern, straffe ich die Schultern. Auch wenn das bedeutet, aus meiner Komfortzone auszubrechen. Bye-bye langweilige Abbie, hello Action-Abbie.
Über meinen albernen Gedanken muss ich tatsächlich lachen, was zur Folge hat, dass Jasper mich verwirrt ansieht.
»Okay, dann los«, sage ich eher zu mir selbst, um keinen Rückzieher zu machen, und reiße das Kuvert auf.
»Du willst um den College-Thron spielen?«, fragt Jasper skeptisch.
»Angst vor etwas frischem Wind in der Hierarchie?«, antworte ich scherzhaft und grinse ihn an.
»Nein, ganz und gar nicht.« Wieder dieses düstere Funkeln, und noch etwas anderes erkenne ich in seiner Miene. Missbilligung.
»Aber?«, hake ich nach, weil ich aus seinem Ton eines heraushöre.
»Nichts aber«, rudert er nach kurzem Zögern zurück, öffnet den Briefumschlag in einer fließenden Bewegung und damit deutlich eleganter als ich zuvor.
»Es ist ein QR -Code«, stelle ich überrascht fest. Ich drehe die Karte herum. Die Rückseite ist leer.
Jasper hält bereits sein Handy über das Papier, um den Code zu scannen. Ich zögere und sehe stattdessen abwartend auf sein Display. Keine Sekunde später erscheint eine Loading-Anzeige, die besagt, dass die App heruntergeladen wird, bevor eine Registrierkarte aufploppt. Er tippt seine Studierenden-ID ein und legt ein Passwort fest. Als er auf Bestätigen klickt, halte ich die Luft an. Die Aufforderung zur Zahlung der Teilnahmegebühr erscheint. Jasper klickt auf den Button Zahlung abschließen . Er hat nicht einen Augenblick gezögert und einfach dreihundert Dollar via PayPal rübergeschoben.
»Sieht harmlos aus, oder?«
Ich rücke näher an Jasper heran, um einen genaueren Blick auf sein Display werfen zu können. »Ja, sieht ungefährlich aus. Aber Clowns wirken ebenfalls harmlos, und trotzdem werden sie gerne in Horrorfilmen eingesetzt«, merke ich an, dass es durchaus Tarnung sein könnte.
Ein Fenster ploppt auf und bittet ihn, einen Nickname einzugeben. Er hebt das Handy etwas höher, sodass ich nicht erkennen kann, welcher es ist. Dann lässt er es wieder sinken und zeigt mir diesmal freiwillig den Bildschirm.
»Keine Horrorclowns.« Er klingt amüsiert.
Ein Glücksrad dreht sich langsam, während es in bunten Farben blinkt.
»Nein, keine Horrorclowns«, wiederhole ich seine Worte.
»Hör zu, Abbie, niemand kann dich zu einer Teilnahme zwingen. Es ist deine Entscheidung. Du musst nichts beweisen. Wenn du nicht spielen willst, ist das in Ordnung.« Wie auf Knopfdruck wird der herausfordernde Ausdruck in seinen tiefbraunen Augen weicher.
»Wie kommst du darauf, dass ich jemandem etwas beweisen will? Vielleicht sind Partyspiele genau mein Ding?«, flunkere ich, aber so, wie er eine Augenbraue hochzieht, weiß er, dass ich damit nichts am Hut habe.
Mich lockt nur das Preisgeld und deswegen werde ich es durchziehen. Ihm würde es sicher ebenfalls nicht schaden, denn ich könnte mir vorstellen, dass seine Familie in noch viel größeren finanziellen Schwierigkeiten steckt. Hat er deswegen keine Sekunde gezögert? Vielleicht sollten wir teilen, falls einer von uns gewinnt? Oder Jasper lacht mich bei dem Vorschlag aus, weil sein Vater einer der reichsten Männer des Landes ist und für den Notfall statt eines löcherigen Sparstrumpfs einen Keller voller Geld besitzt. Denkbar wäre es. Ich würde ihn gerne danach fragen, aber –
»Wenn du möchtest, bringe ich dich nach Hause und du erzählst deiner Freundin, du seist längst weg gewesen, bevor die Umschläge ausgeteilt wurden«, schlägt er vor und unterbricht damit meinen Gedankengang.
Täusche ich mich oder will er mich davon abhalten teilzunehmen? Wenn ja, warum?
»Ich meine es ernst, wenn du immer noch von hier verschwinden willst, lass uns gehen.«
Ich weiß nicht, was dafür sorgt, dass mein Herz zwei, vielleicht auch drei Schläge überspringt und heftig gegen meinen Brustkorb poltert. Dass Jasper mir einen Ausweg anbietet, obwohl ich ihn nicht darum gebeten habe? Der sanfte Ton in seiner ohnehin schon weichen Stimme oder die Art, wie er mich ansieht? Am Ende ist es eine Mischung aus allem, das dafür sorgt, dass ich mich auf dieses ungewisse Abenteuer einlasse. Und damit meine ich nicht Secret Enemy , sondern Jasper Anderson.
Ich halte seinen Blick fest. Versinke in dem dunklen Braun. So lange, bis er ausweichend den Kopf senkt und konzentriert auf das Display sieht.
Leise räuspere ich mich, weil ich befürchte, meine Stimme könnte versagen. »Danke für das Angebot, aber nein. Ich bin gewillt, den Thron zu besteigen und mit dem Preisgeld rauszumarschieren«, teile ich ihm meine Entscheidung mit. Im selben Atemzug krame ich das Handy aus der winzigen zimtfarbenen Handtasche und scanne ohne weitere Verzögerung den QR -Code. Keine drei Minuten später habe ich mich erfolgreich unter dem Nickname BlackbirdShadow registriert und mein Konto um dreihundert Dollar erleichtert.
»Und jetzt drehen wir am Rad, oder was?«, frage ich und sehe ihn abwartend an.
»Auf das Spiel bezogen?« Er lacht leise.
Ich verdrehe die Augen, weil er seine helle Freude daran zu haben scheint, mich aufzuziehen.
»Packt die Umschläge bitte zurück in die Schachtel«, ertönt wie aus dem Nichts eine weibliche Stimme, die mir durchaus bekannt ist.
Ich sehe zu Trinity Burns, die mich mit einem abschätzigen Blick mustert und dann Jasper ins Visier nimmt. Ein hinreißendes Lächeln erscheint auf ihren vollen Lippen, das ihm nicht einmal ein Zucken seiner Mundwinkel entlockt. Trinity ist hübsch und bisher habe ich noch nie erlebt, dass ein Typ immun gegen sie ist. Jasper hingegen scheint unbeeindruckt von ihrer äußerlichen Attraktivität zu sein.
»Hey, und du bist?«, fragt sie zuckersüß.
Ich wende mich ab, weil ich möglicherweise ein Störfaktor bin, der Jasper daran hindert, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
»Mit ihr hier«, antwortet er kühl.
Mein Kopf schnellt in seine Richtung, als er ohne Vorwarnung einen Arm um meine Schultern legt. Blinzelnd sehe ich ihn an, während er mir den Umschlag und die Karte mit dem QR -Code aus der Hand nimmt und in die Box legt.
»Wirklich?«
Aus dem Augenwinkel schiele ich zu Trinity, die ungläubig zwischen Jasper und mir hin- und hersieht, als könnte sie nicht glauben, dass sich jemand wie Jasper für mich interessiert. Jemand, der sich auf der Attraktivitätsskala mit ihr auf Augenhöhe befindet, während ich mich drei Stufen darunter tummle.
»Du entschuldigst uns«, sagt Jasper, setzt sich in Bewegung, ohne von mir abzulassen, und zwingt mich somit, ihm zu folgen.
»Was war das gerade?«, frage ich verwundert und bleibe nach wenigen Schritten stehen. Jaspers Arm rutscht von meinen Schultern, als er Abstand zwischen uns bringt.
»Was genau?«, will er wissen, als verstünde er nicht, worauf ich anspiele.
»Wir sind nicht zusammen hier«, rutscht es mir heraus, aber ich würde wirklich gerne erfahren, warum er das Trinity gegenüber behauptet.
»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir meine Gesellschaft zugesichert.«
»Meinetwegen hättest du dir die Gelegenheit nicht entgehen lassen müssen«, erwidere ich zögerlich, weil ich nicht möchte, dass er sich mir gegenüber zu etwas verpflichtet fühlt. Aber der Gedanke, er könnte seine Meinung ändern und Trinity nachjagen, gefällt mir genauso wenig.
»Glaub mir, sie ist keine Gelegenheit, die mich reizt.« Ein Schmunzeln umspielt seine Lippen, aber in seinem Blick blitzt etwas auf, bei dem mir die Hitze in die Wangen schießt. Weil er mich ansieht, als wäre ich besagte Gelegenheit, die er sich keinesfalls entgehen lässt. In den Hamptons hat er mich genau mit diesem Verlangen angesehen und ich hielt es für ein Spiel. Aber was, wenn es keines ist? Wenn ich mich geirrt habe und er weniger berechnend ist, als ich angenommen habe?
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn jedoch wieder, als die Worte, die mir gerade in den Sinn gekommen sind, nicht meine Lippen verlassen. Welche reizt dich dann?
Für den Bruchteil einer Sekunde weiten sich seine Augen, als wüsste er genau, was ich denke.
»Okay, Leute, da das hier immer noch eine Party ist, habt Spaß, und viel Erfolg dabei, mich vom Thron zu schubsen«, brüllt Henry lachend und lässt damit die Blase, in der Jasper und ich uns befinden, platzen. »Nicht, dass ihr eine Chance hättet, aber versuchen könnt ihr es ja wenigstens.«
Wow, ich wusste, dass er über ein ausgeprägtes Ego verfügt. Wie groß es tatsächlich ist, beweist die Arroganz, mit der er vom Tisch aus auf das Fußvolk herabsieht.
Die Musik wird wieder eingeschaltet und schlagartig kommt Bewegung in die Studierenden. Ich sehe zu Jasper. Der feurige Ausdruck in seinen Augen ist erloschen und für einen kurzen Moment wünschte ich, es wäre nicht so. Ich habe keine Ahnung, woher dieser Gedanke kommt. Wir kennen uns kaum, und doch versetzt er etwas in mir in Schwingung, das mich eher auf ihn zu- statt von ihm wegtreibt.
»Du drehst zuerst«, fordere ich Jasper auf, mit dem Spiel zu beginnen, und erinnere uns daran, was wir vorhatten, bevor es seltsam zwischen uns wurde.
»Was bin ich, das Versuchskaninchen?«, erwidert er amüsiert.
»Ich halte nichts von Tierversuchen. Aber ich bin ein höflicher Mensch und überlasse dir gerne den Vortritt«, antworte ich, als wäre der Hauch von Verlangen, der noch immer zwischen uns in der Luft liegt, nicht der Rede wert. So ist es doch, oder?
Statt zu antworten, tippt er das Glücksrad an. Es legt an Tempo zu, bis es wieder langsamer wird und schließlich stoppt. Eine Nachricht erscheint auf dem Display.
Willkommen, 13 gamer11 .
Hier kommt deine erste Aufgabe.
Stecke dir zwei Erdnussflips in die Nase. Öffne 📷 , knipse ein Foto und lade es über 🌸 in der App mit folgenden Worten hoch: Flip Flip Hurray, ich bin ein Wal(nuss)ross. Markiere die Aufgabe auf dem Dashboard anschließend als abgeschlossen. Sobald die Erfüllung von den Admins überprüft und bestätigt wurde, erhältst du deine Punktzahl und einen weiteren Dreh am Rad.
Viel Erfolg!
Jasper lacht.
»Was?«
»Vergiss es«, antwortet er.
»Warum, bist du etwa allergisch gegen Erdnüsse?«
»Nein, aber ich mache mich nicht öffentlich zum Trottel.«
»Und jetzt?«
»Wirst du alleine um den Thron zocken müssen.« Sein Zeigefinger schwebt bereits über dem Exit-Button.
»Warte!«
»Worauf?«
»Ich denke nach«, rutscht es mir heraus. Ich denke nach? Worüber denn? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.
»Siehst du dabei immer so angestrengt aus?«
»Hör auf mich aufzuziehen.«
»Okay, sag Bescheid, sobald du fertig mit Denken bist. Ich organisiere mir in der Zeit einen Drink.«
Als er einen Schritt nach vorne macht, packe ich ihn am Arm und halte ihn auf. Verwundert sieht er mich an, dann heftet sich sein Blick auf die Stelle, an der meine Finger sich um sein Handgelenk schließen. Haut auf Haut. Sofort ziehe ich die Hand zurück.
»Denk nicht mal dran, dich aus dem Staub zu machen. Gekniffen wird nicht.« Was zur Hölle rede ich da?
Ein selbstgefälliges Grinsen erscheint auf seinen Lippen, das eindeutig verrät, was er denkt. Ich entscheide nicht, was er zu tun oder zu lassen hat. Und damit hat er absolut recht. Es ist eher so, dass ich nicht will, dass er geht und ich alleine zurückbleibe, um an dem Spiel teilzunehmen. Mein Gefühl sagt, dass ein Spielpartner beim Erfüllen nützlich sein könnte. Und Jasper ist vielleicht nicht die schlechteste Wahl. Er wirkt abgebrüht und wie jemand, der über den nötigen Ehrgeiz verfügt. Und wenn ich ihm verrate, dass ich das Geld brauche, hilft er mir möglicherweise sogar freiwillig. Eine Überlegung wäre es wert.
»Oder bist du doch eine Pussy?«, fordere ich ihn scherzhaft heraus, indem ich Easton imitiere.
Für einen Moment schließt er die Augen und atmet einmal tief durch. »Okay, unter einer Bedingung. Wir ziehen das Spiel gemeinsam durch.«
»Abgemacht«, sage ich zu schnell und viel zu euphorisch, weil er meiner Idee zustimmt, bevor ich sie ihm unterbreiten konnte.
»Gut, dann machen wir uns zum Affen.«
»Du meinst zum Walnussross«, verbessere ich ihn und muss lachen. Seine Mundwinkel zucken nicht einmal amüsiert. Dabei ist die Aufgabe durchaus witzig und weniger waghalsig, als ich befürchtet habe. Immerhin heißt das Spiel Secret Enemy .
»Hast du zufällig Erdnussflips in der Handtasche?«, will er wissen.
»Nein, aber in der Küche habe ich vorhin Schalen mit Knabberzeug gesehen.«
»Ich nehme an, wir gehen jetzt direkt dahin und ziehen den Unsinn durch?«
»Ja, genau das werden wir tun. Partner in crime. Sechs Aufgaben in sechs Wochen klingt machbar.« Ich sehe auf die Uhr. »Bis Mitternacht haben wir noch sechzehn Minuten und dreiunddreißig Sekunden.«
»Wow. Exakt so habe ich mir den Abend vorgestellt. Ich stecke mir wie ein Fünfjähriger Essen in die Nase und lasse die Welt daran teilhaben.«
»Klingt nach jeder Menge Spaß, wenn du mich fragst.«
Diesmal bin ich es, die keine Antwort abwartet und sich direkt in Bewegung setzt. Es dauert knapp vier Minuten, bis wir uns zur Küche durchgeschlagen haben. Offensichtlich ist Jasper nicht der Einzige, der die Aufgabe erspielt hat, denn es herrscht reger Andrang auf die Erdnussflips.
»Bereit?« Jasper hält mir eine Schüssel entgegen. Ich atme einmal kurz durch, dann greife ich hinein.
»Ja, aber wir müssen uns vor eine weiße Wand stellen.«
»Warum?«
»Weil laut Hausordnung das Verbreiten von Bildmaterial, das die Räumlichkeiten oder Studierende zeigt, untersagt ist.«
»Du kennst die Hausordnung des Colleges?«
»Natürlich.«
Amüsiert zieht er eine Augenbraue hoch und sieht sich anschließend in der Küche um. »Was hältst du von da drüben?«
Ich folge seinem Blick. »Wenn wir kurz das Stillleben abhängen, sollte es gehen.«
»Na dann, los.«
Jasper schnappt sich das Gemälde und stellt es auf den Boden. Sobald wir uns vor der Wand platziert haben, stecke ich mir die Erdnussflips in die Nase.
»Du siehst albern aus.« Ein verschmitztes Lächeln liegt auf seinen Lippen.
Erneut greife ich in die Schüssel und mache einen Schritt auf ihn zu. »Brauchst du Hilfe?« O Gott, ich klinge, als hätte ich einen fiesen Schnupfen.
Er stellt die Schale auf den Küchentisch, bevor er mir die beiden Flips abnimmt und sie sich mit einem Kopfschütteln in die Nase steckt. Ohne es zu beabsichtigen, lache ich los. Einer der Erdnussflips flutscht aus meinem Nasenloch, prallt gegen seinen sonnengelben Pulli mit Argyle-Muster und fällt schließlich zu Boden.
»Sorry«, sage ich, beuge mich herab und hebe ihn auf. Ich puste möglichen Schmutz von dem Flip und platziere ihn erneut in meinem Nasenloch.
Jasper zückt sein Handy und stellt sich dicht neben mich. Mein Blick schweift durch den Raum. Ein Typ mit blonden Locken macht einen Handstand. Zwei andere halten ihn an den Beinen fest, während er versucht einen Becher leer zu trinken. In der Ecke neben dem Kühlschrank steht Ruby aus meinem Spanischkurs. Auf ihrer Stirn prangt eine Zahlenkombination. Vermutlich mit Lippenstift geschrieben, denn der Farbton ähnelt dem auf ihrem Mund. Sie schießt ein Selfie und zeigt es der Person neben sich.
»Abbie?«
Ich bin schon wieder abgelenkt. Ein Grund, warum mich viele seltsam finden, ist, dass meine Gedanken ständig abschweifen. Dion sagt, ich hätte eine Aufmerksamkeitsspanne von fünf Sekunden. Wenn man also etwas Wichtiges mit mir besprechen will, muss man sich beeilen oder es in Etappen verpacken.
Los, Abbs, konzentrier dich! , höre ich Dions Stimme in meinem Kopf. Ich fixiere Jaspers Gesicht und er lässt es zu. Ein Wimpernschlag. Noch einer. Und zwei weitere. Für die nächsten Sekunden verliere ich mich in dem warmen Braun seiner Augen. Ganz automatisch beschleunigt sich mein Puls. Ein warmes Kribbeln breitet sich in meinem Körper aus.
»Ich will wirklich nicht drängeln, aber die Dinger reizen die Schleimhäute«, reißt Jasper mich aus meinem tranceähnlichen Zustand.
Ich blinzle hektisch. Verdammt, ich habe ihn angestarrt.
»Kann losgehen, versprochen«, versichere ich ihm, dass ich jetzt bereit bin. Wieder rückt er an mich heran, geht in die Knie, bis wir gemeinsam auf das Display passen. Dann knipst er ein Foto.
»So, das hätten wir.« Wenige Augenblicke später markiert er die Aufgabe als abgeschlossen. »Du bist dran.« Grinsend steckt er sein Handy weg.
»Hoffentlich muss ich keinen Kopfstand machen, so wie der Typ da drüben. Ich beherrsche gerade so die Rolle vorwärts.«
Als Jasper mich fragend ansieht, deute ich mit einer Kopfbewegung in die Richtung, wo der Kerl noch immer versucht einen Becher vollständig auszutrinken.
Mit zittrigen Fingern tippe ich das Rad an, damit es eine Aufgabe für mich ausspuckt. Gespannt sehe ich auf das Display, drehe es aber so, dass Jasper keinen Blick darauf werfen kann.
Willkommen, BlackbirdShadow!
Hier kommt die erste Aufgabe.
Küsse eine Person, die ein gelbes Kleidungsstück trägt. Öffne 📷 , knipse ein Foto und lade es über 🌸 in der App hoch. Markiere die Aufgabe als abgeschlossen. Sobald die Erfüllung von den Admins überprüft und bestätigt wurde, erhältst du deine Punktzahl und einen weiteren Dreh am Rad.
Viel Erfolg!
»Das war so klar«, entfährt es mir. Jemand Fremdes küssen ist mit Abstand das Letzte, was ich tun will. Jetzt würde ich doch die Kopfstandnummer bevorzugen.
»Was genau?«
Ich drehe das Display, damit Jasper die Aufgabe lesen kann. Er lacht leise.
»Das ist nicht lustig«, zische ich.
»Doch, irgendwie schon.«
»Was mache ich jetzt?«, frage ich und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Dunkelblau, Moosgrün, Pink, Bordeauxrot, aber weit und breit kein Gelb in Sicht.
»Du küsst jemanden, um die Aufgabe abzuschließen, sonst wirds nichts mit auf den Thron klettern.«
»Du bist nicht sehr hilfreich.«
»Soll ich wen für dich organisieren?«
Wie bitte?
»In vier Minuten lässt sich sicher jemand für zwangloses Lippenaufeinanderpressen auftreiben.«
Ich würde ihm wirklich gerne das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht wischen, auch wenn er recht hat. Dennoch werde ich nicht losrennen und meine Lippen auf die eines zufälligen anderen drücken. Davon mal abgesehen, hätte ich die Aufgabe damit auch nicht erfüllt. Ich meine, wer trägt im Winter Gelb? Niemand! Niemand, außer …
Auf gar keinen Fall.
Mein Blick heftet sich auf Jaspers Brust, die in Sonnengelb erstrahlt, dann sehe ich ihm kurz ins Gesicht und wieder auf seinen Pulli. Er bemerkt es, zupft mit den Fingern an dem Wollstoff herum, als müsste er erst mal selbst nachsehen, was meine Aufmerksamkeit erregt hat. Jaspers Lippen teilen sich.
»Nein«, platze ich heraus, bevor er es aussprechen kann.
»Was nein?« Das herausfordernde Funkeln in seinen Augen verrät, dass er genau weiß, dass ich weiß, worüber er gerade nachgedacht hat.
»Vergiss es!«
»Gekniffen wird nicht. Wir ziehen den Quatsch gemeinsam durch«, erinnert er mich.
»Ganz sicher nicht.« Diese Aufgabe werde ich keinesfalls ausgerechnet mit Jasper abhaken.
Erneut suche ich den Raum nach einer Möglichkeit ab. Warum unbedingt Gelb? Bei Schwarz hätte ich freie Auswahl.
Und genau deswegen ist es Gelb. Alles andere wäre zu einfach.
»Es ist nur ein Kuss«, erwähnt Jasper beinahe beiläufig. Für ihn ist es das vielleicht, für mich ganz gewiss nicht.
»Kann ich noch mal drehen, um eine anständige Aufgabe zu bekommen?«, frage ich und ignoriere bewusst sein Angebot.
»Ich fürchte, nicht.«
»Großartig. Ausgerechnet ich erwische eine Kussaufgabe und du erweist dich als geeigneter Kandidat. Das ist wirklich ein schlechter Scherz«, rutscht es mir spöttisch heraus.
Herrje, so habe ich es gar nicht gemeint. Aber Jasper scheint es genau so verstanden zu haben, denn der Ausdruck in seinem Gesicht wirkt verärgert. Oder gekränkt. Ich bin mir nicht ganz sicher. Dabei meinte ich eigentlich, dass es wirklich unklug ist, jemanden zu küssen, der dazu imstande ist, mit einem einzigen Blick ein flächendeckendes Kribbeln in mir auszulösen. Weil er mich ansieht, als wäre ich die Gelegenheit seines Lebens.
»Du hast noch drei Minuten, um nach einer Alternative Ausschau zu halten«, sagt er kühl. In diesem Augenblick würde ich meine Worte gerne zurücknehmen. Aber was sage ich ihm stattdessen? Dass ich ihn zu attraktiv finde, um ihn zu küssen? Das ergibt noch viel weniger Sinn. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Trinity Burns einen hellgelben Minirock an, oder zählt der Farbton eher zu Beige? Egal. Wir sind nicht unbedingt auf einer Wellenlänge. Sie würde mich auslachen, würde ich sie um Hilfe bitten. Und nachdem Jasper sie meinetwegen hat abblitzen lassen, stehe ich vermutlich ohnehin auf ihrer ganz persönlichen Schwarzen Liste.
»Augenscheinlich bist du der Einzige, der Gelb trägt. Das ist eine Sommerfarbe. Wir haben Winter. Modisch ist das, was du anhast, ein Fehltritt.« Was rede ich da schon wieder?
»Da hinten steht ein Typ, der trägt einen Pullover mit einem riesigen Minion drauf«, korrigiert Jasper meine Annahme, er wäre meine einzige Option.
»Wo?«, frage ich aus einem Impuls heraus und weniger aus ernstem Interesse.
»Da drüben. Er küsst gerade im Akkord. Könnte sein, dass er bis Mitternacht nicht alle schafft, weil er sich bei den Damen sichtlich Mühe gibt.«
Ich folge Jaspers Blick. »Igitt. Ich werde niemanden küssen, der bereits fünf vor mir geküsst hat.« Das ist ekelhaft.
»Hey, darf ich dich küssen, um meine Aufgabe zu erfüllen?«, unterbricht uns eine glockenklare Stimme.
Ich sehe zu der Person, die Jasper angesprochen hat. Jasper schaut nicht einmal in ihre Richtung, weil sein Blick auf mir ruht. Gott, der Kerl ist ein Magnet für überdurchschnittlich schöne Frauen. Egal wohin meine Gedanken bezüglich Jasper zuvor gewandert sind, in dieser Sekunde gehen sie in Flammen auf. Niemals. Ich bin eher die Notlösung als eine Gelegenheit.
»Nein, versuch es bei dem Typ dahinten«, lässt er sie zu meiner Überraschung genau wie Trinity abblitzen.
Sie seufzt hörbar. Ein Kerl in dem Minion-Pullover wäre auch nicht unbedingt meine erste Wahl. Der Kerl vor mir sollte es allerdings noch viel weniger sein.
»Okay, lass uns das hier abkürzen. Option eins: Du steigst aus dem Spiel aus. Option zwei: Wir ziehen die Nummer gemeinsam durch!«
»Ich werde dich nicht küssen.« Meine Worte sollten deutlich überzeugter klingen.
»Ich würde mich aber von dir küssen lassen.«
Meint er das ernst? Es gibt eine Million Gründe, warum es eine bescheuerte Idee ist, ausgerechnet Jasper Anderson zu küssen. Ob nun für ein Spiel oder mitten in der Nacht in einer Küche, ist da völlig egal. Ein Kuss verändert immer etwas. Und da ich mir sicher bin, dass sich unsere Wege durch Aspen und Cameron zwangsläufig auch in Zukunft kreuzen werden, könnte es kompliziert werden. Auf der anderen Seite will ich unbedingt die fünfundzwanzigtausend Dollar. Schließlich habe ich gerade dreihundert Dollar investiert, die ich sicher nicht erstattet bekomme, wenn ich den Exit-Button drücke.
Mein Blick huscht zwischen Jasper und dem Kerl im Minion-Pullover hin und her. Wenn ich nicht wegen eines unbedeutenden Kusses ausscheiden will, muss ich einen von beiden wählen. Ein Seufzen entfährt mir.
Jasper nimmt mir das Handy aus der Hand und plötzlich habe ich das Gefühl, seine Gegenwart überdeutlich zu spüren. Hat er gerade den Abstand zwischen uns verringert?
»Lass uns keine große Sache daraus machen«, sagt er sanft, bevor ich eine federleichte Berührung an meiner Wange wahrnehme. »Kurz und schmerzlos.« Dann streichen seine Fingerspitzen meinen Kiefer entlang. »Wir werden nie ein Wort darüber verlieren.«
Er meint das wirklich ernst. Kann ich bei so selbstlosem Einsatz überhaupt ablehnen? Ich sollte es definitiv.
Denk an das Preisgeld , rufe ich mir das Ziel ins Gedächtnis.
»Versprochen?«, frage ich entgegen jeder Vernunft.
»Versprochen«, versichert er todernst, als würden wir gerade einen Pakt schließen.
»Okay«, flüstere ich und verzichte auf weitere Überlegungen, warum ich das keinesfalls tun sollte. Es ist ein bedeutungsloses Lippenaufeinanderpressen. Keine große Sache. Warum fühle ich mich dann, als hätte ich unfreiwillig Bekanntschaft mit einem defekten Stromkabel gemacht?
Seine Finger wandern von meiner Wange zu meinem Nacken und ziehen mich sanft näher zu ihm heran, während er mir entgegenkommt, bis sein Gesicht vor mir verschwimmt. Kaum merklich streifen seine Lippen meine. Auch wenn ich nichts erkenne, starre ich ihn an, als er mit dem Mund leichten Druck ausübt.
Okay, das reicht, wir können jetzt aufhören. In der Aufgabe steht nicht, wie genau der Kuss ausgeführt werden muss.
Statt uns voneinander zu lösen, verharren wir einen winzigen Augenblick in dieser Position. Und dann passiert, womit ich niemals gerechnet hätte – wir küssen uns. Nicht platonisch, wie es für die Aufgabe ausreichen würde, sondern so, wie man jemanden küsst, weil man es will.
Mit der Zungenspitze streicht er über meine Unterlippe. Wie von selbst öffnet sich mein Mund, gewährt ihm Einlass. Mir fallen die Lider zu und ich höre gänzlich auf darüber nachzudenken, was alles gegen diese Annäherung spricht. Weil da auf einmal nur noch Jasper ist. Seine Finger auf meiner Haut. Seine Lippen auf meinen.
Zaghaft lockt er mich mit der Zunge, um den Kuss zu vertiefen. Im nächsten Moment liegen meine Hände an Jaspers Taille, krallen sich in den Kaschmirpullover und ziehen ihn gleichzeitig näher zu mir heran. Jasper schmeckt nach Schwarztee und Zitrone. Seine Lippen sind warm und weich. Für ein paar endlose Sekunden verliere ich mich in unserem Kuss, der sich verboten anfühlt und gleichwohl einen Schwall an Emotionen in mir freisetzt, die sich überhaupt nicht falsch anfühlen. Dennoch oder gerade deswegen zwinge ich mich, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Blinzelnd sehe ich ihn an und auch er mustert mich intensiv. Dann räuspert er sich und tritt einen Schritt zurück.
»Und, war doch gar nicht so schlimm, oder?«, fragt er kratzig und ringt sich zu einem Lächeln durch.
»War okay«, presse ich hervor und erwidere es. Es war okay? Es war mehr als das.
Ein, zwei Sekunden starren wir einander an. Meine Gedanken haben sich zu einem wirren Haufen verknotet und ich verspüre das Bedürfnis, mir von Jasper beim Entwirren helfen zu lassen.
»Hier.« Er reicht mir mein Handy. Ich werfe einen Blick auf das Display, dann schlucke ich. Er hat ein Foto gemacht. Und es sieht nicht so verkrampft aus, wie es sollte, wenn man jemanden küsst, weil ein Spiel das verlangt.
»Danke«, sage ich.
»Willst du es nicht hochladen?«, fragt er irritiert.
»Hmm?« Das Foto hat meine volle Aufmerksamkeit.
»Lass dein Opfer nicht umsonst gewesen sein«, fügt er scherzhaft hinzu.
Um ehrlich zu sein, fühle ich mich nicht, als hätte ich ein Opfer erbracht. Vielleicht etwas verwirrt, aber sicher nicht geschädigt. Ich würde mich eher als Nutznießerin des Ganzen betrachten.
»Abbie?«, reißt Jasper mich zum wiederholten Mal aus meinen Gedanken. »Die Uhr tickt.«
»Hochladen … richtig.«
Kurz vor Ablauf beende ich die Aufgabe, gleichzeitig atme ich einmal tief durch, nur um direkt wieder den Atem anzuhalten – wir haben uns geküsst!
»Abbs!«, ertönt Dions Stimme. Ohne Jasper Beachtung zu schenken, schiebt sie sich zwischen uns. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass sie ihn überhaupt bemerkt hat. »Bitte, sag, dass du nicht gekniffen hast?«
Ich schüttle den Kopf. Ein stolzer Ausdruck zeigt sich in ihrem Gesicht, bevor sie breit grinst.
»Hast du von dem Spiel gewusst?« Natürlich hat sie das.
»Du wärst nicht mit zur Party gekommen, wenn ich dir davon erzählt hätte.«
»Du bist ein hinterhältiges Miststück, weißt du das?«
Hätte ich davon gewusst, hätte ich keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Und noch etwas wäre nicht passiert – ich hätte nicht die Chance auf fünfundzwanzigtausend Dollar oder Jasper geküsst. Bei der Erinnerung daran, wie seine Lippen mit meinen verschmelzen, überschlägt sich mein Herz beinahe. Ich habe es geahnt, Küsse verändern Dinge. Egal in welcher Form. Es ist niemals nur ein Lippenaufeinanderpressen.
Ich sehe zu Jasper, aber er ist verschwunden. Als wäre all das nicht passiert. Da ich trotz High Heels zur Kategorie Winzling zähle, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und suche den Raum nach ihm ab – nichts. Wie kann sich jemand nur so schnell in Luft auflösen? Einen Augenblick lang frage ich mich, ob ich mir unsere Begegnung nur eingebildet habe.
Habe ich nicht, denn ich kann den Schwarztee noch immer auf meinen Lippen schmecken.