6.

JASPER

Ich habe exakt drei Stunden und sieben Minuten geschlafen. Jedenfalls behauptet das meine Smartwatch. Und ich denke, sie sagt die Wahrheit, denn ich fühle mich genauso. Nachdem ich schweißgebadet hochgeschreckt bin, versuche ich erst gar nicht wieder einzuschlafen. Es würde ohnehin nicht funktionieren. Das tut es nie. Mein Schlafdefizit ist inzwischen gigantisch. Mehr als vier Stunden sind selten drin. Ich hatte gehofft, mich daran zu gewöhnen. Fehlanzeige. Es gibt Tage, da wirkt es sich massiv auf meine Konzentration aus, was extrem nervig ist. Denn wer nicht konzentriert ist, macht Fehler. Und die kann ich mir nicht leisten.

»Morgen. Du bist schon wach?«, stellt Cameron überrascht fest. Er wirkt deutlich ausgeschlafener als ich.

»Du doch auch«, antworte ich.

»Wie war die Party?«

»Anders als erwartet.« Das war sie wirklich.

»Im Sinne von gut oder schlecht?«, hakt er nach.

»Das wird sich zeigen.« Ich greife nach der Teetasse und trete einen Schritt beiseite, damit ich nicht länger die Kaffeemaschine blockiere. Cameron nimmt eine Tasse aus dem Küchenschrank, dann füllt er Wasser und Kaffeepulver in die Maschine. Filterkaffee. Das Zeug kommt direkt aus der Hölle. Seine erste Amtshandlung nach seiner Ankunft war offensichtlich, den Vollautomaten auszurangieren. Denn als ich von der Party zurückgekommen bin, stand die knallrote Kaffeemaschine dort, wo zuvor der Vollautomat stand. Ich erinnere mich, dass wir bei meinen Besuchen im vergangenen Semester die ein oder andere Kaffee-Diskussion geführt haben. Sein Argument: Die Plörre sei nicht stark genug. Meinen Einwand, dass dies lediglich an den Einstellungen des Gerätes liege, hat er ignoriert. Jetzt hat er seine Drohung wahr gemacht und ein billiges Teil von Walmart in die Designerküche gestellt. Das Ding ist nicht nur optisch eine Zumutung für jeden, der etwas Stil im Leib hat, sondern obendrein laut.

»Warum trägst du Sportkleidung?«, will er wissen, obwohl es offensichtlich ist.

»Was glaubst du denn?«

Argwöhnisch mustert er mich. Cameron ist ein offenes Buch. Wirklich. Um ihn zu durchschauen, bedarf es keinerlei Mühe meinerseits. Er glaubt, ich würde ihm gleich offenbaren, dass es an der Zeit ist, den Festtagsspeck abzutrainieren. »Es ist Sonntag.«

»Ich weiß.«

»Noch mal – es ist Sonntag.« Sein Blick wandert zur Mikrowelle. »Kurz nach acht«, liest er die Uhrzeit von der Anzeige ab.

»Mir ist nicht bekannt, dass es Sperrzeiten für die Ausübung von sportlichen Aktivitäten gibt«, antworte ich lässig, trinke meinen Tee aus und stelle die Tasse anschließend in die Spülmaschine. Dann sehe ich ihn herausfordernd an.

Cameron atmet tief durch. »Wirst du mich zwingen?«

»Habe ich das bisher je getan?«

»Keine Ahnung, wie würdest du es nennen, wenn du in einen Sportkurs gesteckt wirst und der Coach dich für ein Cricket-Wunderkind hält?«

»Ich habe nie verlangt, dass du diesen Kurs bestehst.«

»Ja, aber spätestens in diesem Semester wird Porter feststellen, dass ich im Vergleich zu dir ein ausgelatschter Turnschuh bin.«

»Um sie auszulatschen, hattest du sie zu selten an.«

»Deine Ruhe hätte ich gerne. Wirklich. Hast du nicht wenigstens ein bisschen Angst, jemand könnte dahinterkommen? Der Coach verfügt über militärischen Scharfsinn. Der weiß, dass du die Runde abgekürzt hast, obwohl du extra als Vorletzter ins Ziel kommst«, gibt er zu bedenken.

»Porter weiß das, weil er auf dem Gelände um den Sportplatz Kameras hat anbringen lassen. Das ist nicht scharfsinnig, sondern die Konsequenz dessen, dass ihn vor dir bereits andere an der Nase herumgeführt haben und so dumm waren, damit herumzuprahlen.«

»Trotzdem, er wird bemerken, dass dein Leistungsniveau weit über meinem liegt.«

Ja, da hat er recht. Cameron ist deutlich unsportlicher, als ich angenommen habe. Wir waren genau einmal zusammen laufen, als ich ihn in Bellbrook besucht habe. Er meinte, er würde es gerne beibehalten, nachdem er sich in Waterbury durch den Sportkurs gequält hat. Vierzig Minuten lang hat er neben mir über das Tempo geflucht. Danach wollte er keine weitere Runde mit mir durch das beschauliche Örtchen drehen, in dem er aufgewachsen ist.

»Wird er nicht, weil niemand von uns beiden in diesem Semester den Kurs besuchen wird.«

»Was? Ich habe mich völlig umsonst abgemüht?«

»Nichts ist umsonst, manches lässt sich lediglich nicht über einen Wert definieren.«

»Warum habe ich immer das Gefühl, dass das, was du eigentlich sagst, irgendwo zwischen den Zeilen versteckt ist?« Er stellt die Kaffeemaschine aus und grinst mich anschließend zufrieden an.

»Ich geh jetzt laufen, bevor es auf dem Campus zu voll wird.« Einen Moment sehen wir einander an und ich bin mir sicher, dass er mir etwas sagen will und es sich verkneift.

»Viel Spaß und halt dich vom Golfplatz fern, einige überschätzen ihre Fähigkeiten maßlos und befördern den Ball beim Abschuss übers Ziel hinaus«, sagt er stattdessen, beendet unseren Blickkontakt und geht auf das Sofa zu. Im nächsten Moment greift er nach der Fernbedienung und legt seine Füße auf dem Couchtisch ab. Mit Cameron für die nächsten Wochen unter einem Dach zu leben, könnte eine Herausforderung werden. Er hat einige Angewohnheiten, die meine Geduld auf die Probe stellen.

»Abschlag«, korrigiere ich ihn.

»Wie?«, hakt er nach und sieht mich irritiert über seine Schulter hinweg an.

»Es heißt Abschlag, nicht Abschuss. Und könntest du bitte die Füße vom Tisch nehmen?«

»Natürlich hast du Ahnung von Golf. Bist du darin auch ein Wunderkind? Schläger ist Schläger, oder?«

»Nimm einfach die Füße vom Tisch«, sage ich eine Spur zu bestimmt, allerdings wegen des Themas, das er anspricht. Normalerweise merkt man mir nicht an, dass ich ausweiche. Ich bin sehr gut darin, es nebensächlich erscheinen zu lassen. Als hätte dieser Teil meiner Vergangenheit keine Bedeutung. Wenn du Menschen die eigenen Schwachstellen offenbarst, wird es immer jemanden geben, der sie zu seinem Vorteil nutzt und dich manipuliert, um sich über dich zu stellen.

Bevor Cameron stutzig wird oder ich in Versuchung gerate, mich für meinen Ton zu entschuldigen, setze ich mich in Bewegung. Ich brauche dringend etwas frische Luft, um meine Konzentration in Gang zu bekommen.

In dem Moment, als ich aus dem warmen Inneren des Bungalows trete, schlägt mir die eisige Januarluft entgegen. Sofort ziehe ich den Reißverschluss meiner Trainingsjacke zu. Mein Blick schweift über den Gebäudekomplex vor mir. Ich kann dieses idyllische Flair, das die Bungalowsiedlung ausstrahlt, nicht ausstehen. Es gleicht purer Doppelmoral, etwas von außen wie einen gemütlichen Mittelstandsvorort wirken zu lassen und innen Massen an unnötigem Luxus zu präsentieren. Wie authentisch ist es, wenn in der Einfahrt eines solide aussehenden Backsteinflachbaus ein neongrüner Ferrari steht? Gar nicht.

Der Kerl, der in diesem Augenblick aus besagtem Luxuswagen steigt, hebt grüßend die Hand, als er mich bemerkt. Ich erwidere es halbherzig und setze anschließend die In-Ear-Kopfhörer ein. Danach wähle ich über die Smartwatch die Playlist aus, die ich täglich zum Laufen höre. Mit dem Einsetzen der Takte zu Oblivion von Bastille trotte ich in gemäßigtem Tempo los. Die Musik habe ich entsprechend meiner Laufgewohnheit zusammengestellt. Die ersten vier Songs sind eher langsam und dienen dem Aufwärmen.

Ich biege nach rechts ab. Für einen Moment sehe ich an der rotbraunen Fassade des Bibliotheksgebäudes empor. Efeubewachsen. Geschichtsträchtig. Goldene Buchstaben, die darauf hinweisen, dass dieses Bauwerk älter als das College selbst ist. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als sich innerhalb der Mauern ein Kloster statt der Elite der Gesellschaft verborgen hat. In knapp hundertfünfzig Jahren, seit Gründung des Waterbury College, hat sich auf dem Gelände so einiges verändert. Wo einst eine Kapelle stand, befindet sich nun ein ultramodernes Fitnesscenter. Die Stallungen wurden durch einen Komplex aus Supermarkt, Café, Restaurants und der Mensa ersetzt. Statt Pferdemist gibt es also nun kulinarische Vielfalt, abgestimmt auf die Studierenden. Bei dem stolzen Sümmchen, das die Upperclass für den Spaß hier abdrücken muss, wäre alles andere auch eine Schmach.

Als die Musik zu Sail von Awolnation wechselt, beschleunige ich. Mit Song fünf nimmt der Rhythmus deutlich zu und mit ihm mein Lauftempo. Es folgen achtzehn Minuten und sechsunddreißig Sekunden, um mir den Kopf freizupusten, während meine Beine von den Bässen getragen werden. Das ist die Phase des Laufens, in der ein Automatismus übernimmt. Man setzt einen Fuß vor den anderen und hat das Gefühl, die Strecke könnte endlos sein, man würde sie problemlos bezwingen. Alles um einen herum verschwimmt gemeinsam mit den Gedanken zu einem weißen Nebel. Wird zu einem luftleeren Raum. Und für diese wenigen Minuten gibt es nur dich. Nichts, was dein Hirn zermartert. Keine unbeantworteten Fragen. Keine Suche nach dem Warum. Keine Wut. Weil es nicht in deiner Macht liegt, den Lauf der Zeit zu verändern. Dinge ungeschehen zu machen. Egal wie sehr du es versuchst.

Entscheidungen haben Konsequenzen. Taten fordern Opfer. Kontrolle ist eine Illusion. Niemand besitzt sie wahrhaftig. Man kann lediglich über genügend Arroganz verfügen, um es sich einzureden. Über all das denke ich in den verbleibenden tausendeinhundertzweiundachtzig Minuten und vierundzwanzig Sekunden des Tages nach.

Ich lasse das Hallenbad hinter mir, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken. Muss ich auch nicht, weil ich jeden Winkel des Campus kenne. Nicht nur das, was offensichtlich ist, sondern vor allem das, was verborgen liegt.

Experience von Ludovico Einaudi sorgt dafür, dass ich allmählich langsamer, innerlich ruhiger werde. Klassische Musik ist das Einzige, das mich klarsehen lässt und verhindert, mich in diesen vielen Gängen meines Verstandes zu verirren. Song zehn holt mich von dem Trip herunter, bevor ich überpace und mir meine Muskeln später mit Schmerzen danken, dass ich die Grenze ignoriere.

Ich kenne jede verdammte Grenze meines Bewusstseins, was allerdings nicht bedeutet, dass ich sie nicht immer wieder zu überlisten versuche. Es ist, als würdest du gegen dich selbst eine Partie Schach spielen. Du kennst jeden Zug, egal wie sehr du dir einredest, dass du auf den Teil deines Hirns nicht achtest. Am Ende landest du bei einem unbefriedigenden Unentschieden und beginnst das Spiel von vorn. Immer wieder. Bis in die Unendlichkeit. Es treibt dich in den Wahnsinn, weil du es nicht schaffst, als Sieger hervorzugehen.

Sobald der wohltuende Nebel in meinem Kopf seine Rauschwirkung verliert, beginnt mein Verstand auf Hochtouren zu arbeiten. Ich bin einfach nicht dazu in der Lage, ihn davon abzuhalten. Und ich habe es mehr als einmal versucht. Nahezu zwanghaft lotet er alle Szenarien aus, die sich im nächsten Augenblick zutragen könnten, und zeitgleich selektiert er Gefahren und sucht nach Lösungen. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, ich bin ein Computerprogramm, entwickelt von einem Masochisten, der es liebt, sich selbst zu quälen. Aber vielleicht ist es genau das, was mich antreibt. Das verantwortlich dafür ist, dass mein Betriebssystem nicht abstürzt und mich jeden Morgen aufstehen lässt. Dass ich einen Plan verfolge. Die Frage, was anschließend kommt, ist wie eine Spam-Meldung, die regelmäßig aufploppt.

Was bleibt von dir übrig, wenn du am Ziel bist?

Ich habe keine Ahnung und ehrlich gesagt ist es mir egal. Über meine Zukunft habe ich aufgehört nachzudenken, als das, worauf ich jahrelang hingearbeitet habe, innerhalb weniger Augenblicke zu Staub zerfallen ist.

Ich schlucke das Gefühl herunter, das sich an die Oberfläche kämpfen will. Das ist nicht der richtige Moment, um im Selbstmitleid zu baden oder verlorenen Träumen nachzujagen. Träumer sind nur so lange Träumer, bis sie jemand zum Aufwachen zwingt. Und genau das ist passiert.

Als ich aufsehe, bin ich kurz irritiert. Bungalow 27 liegt in meinem unmittelbaren Sichtfeld. Das Bungalowviertel auf der anderen Seite des Campus war nicht mein Ziel. Dennoch bin ich versehentlich hier gelandet.

Nein, bin ich nicht. Ich weiß genau, was mich hierhergeführt hat. Die Komplikation, die sich ergeben hat und für die mein Hirn seit gestern Abend eine Lösung sucht.

Ich sehe zu dem Fenster, hinter dem Abbies Zimmer liegt. Die Vorhänge sind zugezogen. Vermutlich schläft sie noch. Das Bett steht direkt gegenüber. Daneben ein weißer Nachtschrank, auf dem sich ein eingerahmtes Foto befindet, das sie mit ihren Eltern zeigt. Da war sie höchstens dreizehn. Ich tippe, dass es eine der letzten Aufnahmen mit ihrem Dad ist, bevor er verstorben ist. Links neben der Tür steht ein Bücherregal, in dem sich kaum Bücher befinden, sondern eine Sammlung von Schneekugeln, die man in jedem Souvenirshop kaufen kann. Auf dem untersten Regalboden stehen drei Schachteln. Keine Ahnung, was sich darin befindet. Ich habe nicht nachgesehen, als ich mich am Halloween-Wochenende im Bungalow der drei Freundinnen umgesehen habe.

Abbie Westing hat zu dem Zeitpunkt nicht meine Aufmerksamkeit erregt. Aspen war es, für die ich mich interessiert habe. Ihre Freundin hat erst in den Hamptons meine Neugier geweckt. Eine, die gänzlich in die falsche Richtung geht und meine Konzentration stört, sollte ich sie nicht stillen. Dass sie mir gestern auf der Party wortwörtlich in die Arme gefallen ist, hat das Ganze nicht unbedingt besser gemacht. Und sie zu küssen, war mit Abstand das Dümmste, was ich hätte tun können. Eine Ablenkung dieser Art kann ich im Augenblick nicht gebrauchen. Aber noch viel weniger wollte ich, dass sie am Ende den Typ im Minion-Pullover küsst und ich dabei zusehen muss, wie er das bekommt, was ich mir seit drei Wochen versuche aus dem Kopf zu schlagen. Und es macht mich wahnsinnig, dass ich keine Ahnung habe, welchen Nerv sie in mir trifft, der die Vernunft in den Stand-by-Modus schickt. Wüsste ich es, würde ich die Verbindung kappen.

»Jasper?«

Mist! Ich beende die Dehnübung und drehe mich zu Aspen um.

»Hey.«

»Was machst du hier?«

»Joggen«, sage ich betont gleichgültig. Im Grunde ist es nicht gelogen. Denn genau das habe ich getan, bevor ich auf wundersame Weise vor ihrer Haustür gestrandet bin.

»Es ist Sonntag.«

»Du klingst schon wie Cameron. Es ist beängstigend, dass ihr unabhängig voneinander das Gleiche sagt.«

Als sie lacht, entlockt sie mir damit ein Lächeln. Aspen Hill gab es im Cameron-Paket dazu, als er sich in sie verliebt und deswegen beinahe meinen Plan geschreddert hat. Aber, und das überrascht mich selbst, ich kann ihn verstehen. Dass er sich in Aspen verknallen würde, war abzusehen. Weil sie genau hinsieht, anstatt einen oberflächlichen Blick auf die Dinge zu werfen. Und bei Cameron hat sie Schicht für Schicht freigelegt, bis er gar keine andere Wahl hatte, als seinen Widerstand aufzugeben.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du vor nichts Angst hast«, erwidert sie und mustert mich einen Moment. »Außer vor dir selbst.«

»Warum siehst du aus, als würdest du einen Schneesturm erwarten?«, ignoriere ich ihre Aussage. Sie hat absolut keine Ahnung, wie es in mir aussieht. Niemand weiß das. Nicht einmal ich selbst. Denn wäre es so, wäre es um einiges leichter, hinter gewisse Dinge einen Haken zu setzen.

»Weil es arschkalt ist.« Offensichtlich, denn sie trägt eine Daunenjacke und eine bunte Strickmütze. Der Wollschal bedeckt die Hälfte ihres Gesichts. »Willst du mit reinkommen und dich aufwärmen?« Wenn Aspen mich so ansieht, fällt es mir wirklich schwer, ihr einen Wunsch abzuschlagen. »Möglicherweise habe ich deinen Lieblingstee von Granny El mitgebracht.«

Ohne es zu wollen, schleicht sich erneut ein Lächeln auf meine Lippen. Es passiert zwangsläufig, wenn ich an Cams Grandma denke. Die alte Dame hat einen unvergleichlichen Charme, dem man nicht widerstehen kann. Außerdem backt sie den besten Apfelkuchen, den ich je gegessen habe. Und Eleanor Monroe liebt Tee.

»Da kann ich wohl schlecht Nein sagen«, gebe ich nach.

»Nein, kannst du nicht. Also los, bevor meine Füße abfrieren.«

Mit einem mulmigen Gefühl folge ich ihr die wenigen Meter bis zur Eingangstür.

»Wo kommst du überhaupt so früh her?«, frage ich sie, als sie die Tür aufschließt und mir ein warmer Luftstoß entgegenschlägt.

»Vom Bäcker. Ich habe Dion und Abbie versprochen, dass wir zusammen frühstücken, nachdem ich gestern die Party habe sausen lassen.«

Ich bin mir sicher, Cam war der Grund dafür. Partys und er sind ein schwieriges Thema. Er hat nie mit mir über den Abend geredet, der sein Leben verändert hat. Aber das muss er auch nicht. Bevor ich ihn nach Waterbury geschickt habe, habe ich meine Hausaufgaben gemacht. Es ist nicht schwer, einen Menschen zu einer gläsernen Figur zu machen. Nahezu jeder hinterlässt digitale Spuren, denen Leute wie ich einfach nur folgen müssen.

Einen Moment zögere ich, bevor ich den Bungalow betrete. Gedanklich gehe ich die möglichen Szenarien durch, die sich in den nächsten Minuten ereignen könnten.

Option eins: Ich komme hier wieder raus, bevor ihre Freundinnen aufwachen.

Option zwei: Ich schaffe es nicht, ergebe mich dem missbilligenden Blick ihrer Freundin Dion, weil sie mir nicht über den Weg traut.

Dass es so ist, war spätestens bei dem Treffen in den Hamptons klar. Ich passe nicht in das Idealbild der Leute, die sie in ihrer Nähe duldet. Nicht, dass ich scharf darauf wäre, aber sie könnte mit ihrem einnehmenden Wesen für unnötige Spannungen sorgen.

Und dann hätten wir noch Abbie, die aller Wahrscheinlichkeit nach die halbe Nacht damit verbracht hat, über das nachzudenken, was gestern Abend geschehen ist. Ihr Verstand funktioniert auf ähnliche Weise wie meiner. Sie analysiert Verhaltensweisen. Spielt Möglichkeiten durch. Wägt Konsequenzen ab. Bevor sie sich von mir küssen ließ, wusste sie bereits, dass hinter der nächsten Ecke Schwierigkeiten lauern würden. Und sie hatte recht. Warum sie es dennoch zuließ, schreibe ich ihrem Stolz zu. Sie wollte beweisen, nicht langweilig zu sein. Etwas, das sie absolut nicht nötig hat. Niemand sollte sich zu Dingen hinreißen lassen, um anderen irgendwas zu demonstrieren.

Man muss kein Genie sein, um Abbie zu durchschauen, aber irgendwas versteckt sich in ihr, das ich nicht zu fassen bekomme. Und ich bin verdammt gut darin, Menschen wie einen Quellcode zu lesen, der ihren Aufbau erklärt. Dennoch, so richtig schlau werde ich aus Abbie nicht und das macht mich verrückt. Weil Hacker erst aufgeben, wenn sie das System geknackt haben. Es ist wie ein Zwang. Wer aufgibt, verliert, und ich hasse es zu verlieren. Also werde ich früher oder später das tun, was ich lassen sollte. Ich werde Abbie Westing zu meinem nächsten Hack machen. Weil ich einfach nicht widerstehen kann. Weil mir über den Teil meines Verstandes wahrhaftig die Kontrolle fehlt und ich ein Opfer meiner eigenen Neugier bin.

Ich folge Aspen durch den Flur in Richtung Küche. Mein Blick bleibt nicht länger an Abbies Zimmertür hängen, als man für einen Mausklick benötigt, aber dennoch lange genug, dass sich mein Gedankenfaden wie um eine Spule aufwickelt.

Abbie denkt über Dinge nach, die für viele völlig irrelevant sind. Zum Beispiel: Wie nennen sich die Enden von Schnürsenkeln? oder Wie wahrscheinlich es ist, von einem Hai gebissen zu werden? Mein Highlight: Wonach riecht Sommerregen? Die Antwort ist weniger romantisch, als man vermutet. Der Geruch kommt aus dem Chemiebaukasten der Natur. Pflanzenausdünstungen, Steinstaub, Streptomyzeten und Luftfeuchtigkeit vermischen sich. Lediglich die Erinnerungen, die wir mit einem warmen Sommerregen verbinden, machen ihn zu etwas Besonderem. Oder auch nicht.

Wenn es regnet, denke ich zwangsläufig an den siebzehnten Juli und alles, was mich hierhergeführt hat.

Was die Sache mit dem Hai betrifft, hier liegt die Wahrscheinlichkeit bei eins zu 3 ,7 Millionen. Es ist realistischer, bei einem Feuerwerk zu verunglücken.

Abbie sieht sich True-Crime-Dokus an und hat ein Abo für Hörbücher, Duftkerzen und ihr wöchentliches Horoskop. Jedenfalls sind das die Antworten, die mir ihr Google-Suchverlauf und ein Blick in ihre Kontobewegungen gegeben haben.

Erwähnte ich bereits, wie leicht die meisten es Menschen wie mir machen?