7.

ABBIE

Ein Lachen, das eindeutig nicht zu meinem wirren Traum gehört, reißt mich aus dem Schlaf. Für einen Augenblick glaube ich, es mir nur eingebildet zu haben, bis dieses Geräusch erneut gedämpft durch meine geschlossene Zimmertür dringt.

Ich hangle das Handy vom Nachtschrank. Neun Uhr. Nach dem gestrigen Abend eindeutig zu früh. Ich lege das Smartphone zurück, drehe mich auf die Seite und ziehe mir die Decke über den Kopf. Es dauert nicht länger als zwei Minuten, bis die Neugier darüber, was sich draußen abspielt, gewinnt. Mit einem lauten Seufzen klettere ich aus dem Bett. Dann fällt mir ein, dass ich mit Dion und Aspen zum Frühstück verabredet bin. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Dion bereits wach ist. Sie ist Langschläferin.

Unentschlossen lausche ich an der Tür, bevor ich sie öffne. Ein seltsames Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit, als ich in den Flur hinaustrete, ohne zu wissen, woher es kommt. Es ist einfach da. Aber es sorgt dafür, dass ich zögere, bevor ich den Wohnbereich betrete.

»Oh, hey, haben wir dich geweckt?«

In dem Moment, in dem ich in die Richtung sehe, aus der Aspens Stimme kommt, dreht sich die Person um, die mit dem Rücken zu mir am Esstisch sitzt. Unsere Blicke treffen sich. Mein Puls nimmt augenblicklich an Fahrt auf. Jasper hingegen wirkt gänzlich unbeeindruckt von meiner Anwesenheit. Seine Miene verrät rein gar nichts. Kein Anflug von Nervosität, Unbehagen … Freude. Absolut nichts.

»Ja, mehr als fünf Stunden Schlaf wären toll gewesen«, sage ich und gähne zur Verdeutlichung.

»War es noch nett gestern?« Jetzt zeigt Jasper doch eine Reaktion, denn sein linker Mundwinkel zuckt, als würde er sich ein Grinsen verkneifen.

»Du warst auch auf der Party?«, fragt Aspen überrascht, während ich wie angewurzelt im Türrahmen stehe. Weil ich keine Ahnung habe, ob ich mich zu ihnen an den Tisch setzen oder das Weite suchen soll.

»Nur kurz. Dabei sind wir uns über den Weg gelaufen«, antwortet Jasper fast schon gelangweilt. Als wäre unsere Begegnung bedeutungslos gewesen. Vielleicht war sie das auch. Nur fühlt es sich nicht danach an. Vielmehr habe ich die Vermutung, dass wir mit dem Kuss den ersten Dominostein angestoßen haben und nun einer nach dem anderen fallen wird.

»Du scheinst dich ja von deiner besten Seite gezeigt zu haben, wenn Abbie guckt, als wärst du aus der Hölle gestiegen.«

Für einen Wimpernschlag presst er die Lippen aufeinander. Lippen, die gestern auf meinen lagen. Ich sollte dringend damit aufhören, diesen Moment immer wieder gedanklich durchzuspielen. Aber ich kann nicht verhindern, dass genau das passiert und die Erinnerung daran ein Kribbeln hinterlässt.

Sein Blick heftet sich auf meinen Mund und ich bin mir sicher, dass er gerade dieselben Bilder in seinem Kopf sieht wie ich. In der nächsten Sekunde fixiert er mein Gesicht. Skepsis. Neugier. Missfallen. In seinen braunen Augen liegen so viele Gefühle, dass sie beinahe greifbar sind, würde ich die Hand danach ausstrecken.

Als ich auf ihn zugehe, steht er auf.

»Ich muss los. Danke für den Tee. Wir sehen uns, kleine Hill.«

Bevor sie ihm antworten kann, tritt er vom Tisch zurück und kommt geradewegs auf mich zu. Einen winzigen Moment hält er in der Bewegung inne, als er auf meiner Höhe ist. Ich halte seinem Blick stand. Mein Herz rast. Er beugt sich zu mir herunter, bis seine Lippen viel zu nah an meinem Ohr sind und ich seinen Atem auf meiner Haut spüre.

»Hübscher Pyjama. Ich mag Punkte«, flüstert er amüsiert und richtet sich wieder kerzengerade auf. Ich sehe an mir herab. Es dauert einen Augenblick, bis ich die Anspielung verstehe. Es ist derselbe Schlafanzug, den ich in den Hamptons trug, als wir uns einen Eisbecher geteilt haben.

»Danke.« Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Situation gerade verwirrt, scheitere allerdings, weil ich ihm nachsehe, während er im Flur verschwindet. Erst als die Tür ins Schloss fällt, drehe ich mich zu Aspen um.

Wissend grinst sie mich an. »Spuck es aus! Was habe ich gestern Abend verpasst?«

»Was wollte er hier?«, stelle ich eine Gegenfrage und setze mich zu ihr an den Tisch. Und zwar auf den Platz, auf dem Jasper zuvor gesessen hat. Weil ich immer dort sitze. Ich betrachte die halb volle Teetasse und schmecke den Schwarztee wie eine verbotene Frucht auf meinen Lippen. Arr!

»Wer war hier?«, ertönt im denkbar ungünstigsten Augenblick Dions verschlafene Stimme.

»Niemand«, rutscht es mir eher heraus, als dass die Antwort bewusst meinen Mund verlässt. Dion hat das unschlagbare Talent, immer dann aufzutauchen, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann. An ihrer hochgezogenen rechten Augenbraue erkenne ich, dass das hier so richtig unangenehm werden wird.

»Soso, Niemand. Warum läufst du dann rot an?«, zieht sie mich mit leicht spöttischem Ton auf.

Ich sehe zu Aspen, die pantomimisch ihre Lippen versiegelt, ohne dass Dion es sieht.

»Ich weiß genau, was du hinter meinem Rücken veranstaltest, Darling.« Noch so etwas, das unsere Freundin erstklassig beherrscht: Ihr entgeht nichts. Fast nichts. Sobald Henry in der Nähe ist, kommt man unbemerkt an ihr vorbei. Was sie natürlich niemals zugeben würde, weil das zwischen den beiden ja ganz unverbindlich ist.

Ähnlich wie Jasper zuvor fixiert Dion mich mit ihrem Blick. Bei ihr ist es allerdings um einiges effektiver. Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Mich in die Knie zu zwingen, um an Informationen zu kommen, hat sie über Jahre perfektioniert. Sie wird nicht lockerlassen.

»Jasper«, weihe ich sie ein.

»Und was wollte er hier?«

»Ich war gerade dabei, das herauszufinden, bevor du um die Ecke gekommen bist«, antworte ich ungewohnt schnippisch.

»Abbs, du klingst schon wieder so gereizt.« In einer anmutigen Bewegung sieht sie über ihre Schulter zu Aspen. »Weißt du, was mit unserer Freundin los ist? Sie benimmt sich anders als gewöhnlich«, fragt sie, als würde ich mich nicht mit den beiden in einem Raum befinden.

»Findest du?«, hakt Aspen nach und lässt sich tatsächlich auf diese Unterhaltung ein.

»Ja, sie ist zickig. Abbie ist nie zickig.«

Ernsthaft?

»Hallo, ich bin immer noch hier«, werfe ich ein.

Dion sieht wieder zu mir. »Stimmt, dann kannst du meine Fragen ja beantworten. Zum Beispiel, mit wem du gestern auf der Party rumgeknutscht hast? Versuch gar nicht es abzustreiten, Paula hat euch gesehen.«

Paula Stuart, Henrys beste Freundin, steht Dion in Sachen Tratsch in nichts nach. Die beiden ergänzen sich großartig. Ich mag sie nicht besonders, was hauptsächlich an ihrer oberflächlichen Art liegt. Aber ich würde sagen, die Antipathie beruht auf Gegenseitigkeit, denn sie sieht mich stets angewidert an.

Dion zieht ihr Smartphone aus der Tasche ihres champagnerfarbenen Morgenmantels. »Außerdem gibt es das hier!« Demonstrativ hält sie mir das Display vor die Nase.

Habe ich wirklich gehofft, ihr diese Sache unterschlagen zu können? Wie naiv von mir zu glauben, dass ihr genau das am gestrigen Abend entgangen sein könnte. Es ist Dion. Die Gossip-Queen der Upperclass.

Glücklicherweise wurde das Foto aus einem Winkel geschossen, aus dem man Jasper eher erahnen als erkennen kann. Wenn man nicht weiß, dass er es ist, könnte es jeder auf der Party gewesen sein.

»Zeig mal her!« Aspen hat ihre Worte kaum ausgesprochen, da entreißt sie Dion das Beweisstück.

Oh, oh! Wenn Aspen die Augenbrauen derart zusammenzieht, bedeutet das, sie hat Lunte gerochen.

Sie streckt den Arm aus, um das Foto aus der Distanz zu betrachten. Dann verringert sie den Abstand wieder. »Warte … hä?«

Ich würde ihr gern das Handy wegnehmen und es in den Mixer stecken. Aber es wäre sinnlos. Hat Aspen erst mal Witterung aufgenommen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie dahinterkommt.

»Ist das …«

Gedanklich zähle ich die Sekunden, die sie braucht, um das Rätsel zu lösen. Drei … vier …

Aspen legt das Handy auf dem Tisch ab und zoomt mithilfe von Daumen und Zeigefinger unsere Gesichter heran.

Sieben … acht …

»Ist das Jasper?«

Game over.

Ihr Kopf schnellt in meine Richtung. Verwirrt sieht sie mich an. »Du hast Jasper geküsst?«

»Er hat mich geküsst«, platze ich heraus.

»Du hast den floralen Hemdträger geküsst?«, fragt Dion entsetzt. Wow, sie ist aufrichtig schockiert.

»Doch nicht freiwillig«, erkläre ich knapp.

»Was, Jasper hat dich dazu gezwungen?« Jetzt klingt Aspen ein wenig panisch. Sie versteht eindeutig etwas falsch.

»Herrje, natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf?«

»Weil du gerade gesagt hast, du hättest ihn nicht freiwillig geküsst«, wiederholt sie meine Worte.

»Das war wegen diesem bescheuerten Spiel.«

»Spiel?« Jetzt ist sie gänzlich verwirrt. Ich sehe zu Dion, die sich mit einem frisch gepressten Glas Orangensaft zu uns an den Tisch setzt.

»Könntest du es ihr vielleicht erklären? Immerhin hast du mich in die Sache hineingezogen, als du mich dazu überredet hast, auf Henrys Party zu gehen«, wende ich mich Hilfe suchend an sie. Um diese Unterhaltung komme ich ohnehin nicht herum. Die beiden werden mich nicht ohne eine Erklärung aus dem Raum marschieren lassen.

Abwartend sieht Aspen zu Dion, die ein leises Seufzen von sich gibt.

»Jedes Jahr im Januar wird unter den Studierenden Secret Enemy gespielt.«

»Es gibt ein Spiel, das Secret Enemy heißt?«

»Es ist nicht das, was du jetzt denkst. Der Name ist ein Überbleibsel aus den Anfängen des Spiels.«

»Wie lange gibt es das denn schon?«, frage ich. Bisher habe ich mir keinerlei Gedanken zu den Hintergründen gemacht, sondern mich lediglich mit der Höhe des Preisgeldes beschäftigt. Aber Dion scheint mehr darüber zu wissen.

»Laut Henry seit den Fünfzigern. Damals lief es allerdings ganz anders ab. Es war Teil eines Aufnahmerituals für eine Studierendenverbindung. Sie haben Briefe verschickt und behauptet, dein Geheimnis zu enthüllen, wenn du die gestellten Aufgaben nicht erfüllst. In Wirklichkeit war es ein Test, wie weit man geht, um seine Geheimnisse zu wahren. Hat man sich bewährt, erhielt man die Chance, in die ominöse Verbindung aufgenommen zu werden. Die Anforderungen waren wohl teilweise sehr heftig. Angeblich ist Ende der Achtziger ein Studierender dabei verunglückt. Daraufhin wurden in Waterbury Studierendenverbindungen verboten. Das Spiel existiert allerdings nach wie vor. Inzwischen geht das Ganze deutlich ungefährlicher vonstatten und dient ausschließlich der Unterhaltung.«

»Und deine Aufgabe war es, Jasper zu küssen?«, fragt Aspen ungläubig, während sie mich mustert.

»Nein, ich sollte eine Person küssen, die ein gelbes Kleidungsstück trägt. Er war die einzige Option.«

»War er das?«, hakt Dion nach.

»Ich hatte die Wahl zwischen einem Typen in einem Minion-Pullover und Jasper. Er stand zufällig neben mir.« Das ist zwar nicht die vollständige Version der Geschehnisse, aber irgendwie ist es so abgelaufen. Jasper hat sich selbst angeboten. Okay, das ist gemein. Es war eher so, dass er die Erfüllung der Aufgabe unkompliziert gemacht hat, indem er sich zur Verfügung gestellt hat. Gut, das klingt auch nicht unbedingt besser.

»Er stand zufällig neben dir?«, fragt Aspen ungläubig.

»Ja«, bestätige ich.

»Und er hat sich einfach so von dir küssen lassen?« Aspen will auf etwas hinaus, aber ich kann ihr nicht folgen.

»Er hat mich geküsst«, wiederhole ich. Keine Ahnung, warum mir dieses Detail des Hergangs so wichtig ist. Vielleicht, weil ich nicht durch die Gegend renne und meine Lippen auf die anderer Leute presse und weil es mir unangenehm ist, meine Freundinnen könnten das annehmen. Was Quatsch ist. Die beiden kennen mich. Ich bin die anständige Abbie, die in ihrer Komfortzone feststeckt.

»Aber es war deine Aufgabe, nicht seine?«, lässt Aspen nicht locker. Was übersehe ich?

»Spielt das eine Rolle?«

»Es ist … na ja … es ist Jasper.«

»Was genau willst du uns damit sagen?«, fragt Dion, bevor ich es kann. Aber ich bin nicht weniger an der Antwort interessiert.

»Ihr habt ihn kennengelernt. Jasper ist nicht unbedingt der Typ, der selbstlos handelt. Wenn er dir bei der Erfüllung der Aufgabe geholfen hat, dann aus einem bestimmten Grund.«

Ja, weil das unser Deal ist. Wir ziehen das Spiel gemeinsam durch. Nicht mehr und nicht weniger. Jedenfalls ist das gestern Abend der Stand gewesen, inzwischen dürfte das hinfällig sein. So wie er mich eben angesehen hat, sind wir alles, nur nicht partner in crime .

»Ich ahne, worauf der florale Hemdträger scharf gewesen ist.«

Bei Dions Kommentar kann ich mir ein Augenrollen nicht verkneifen. Darauf war Jasper ganz gewiss nicht aus.

»Vielleicht wollte er einfach nur nett sein«, gebe ich zu bedenken und verteidige damit seine ehrenwerten Absichten.

»Ja, das wird es sein«, erwidert Aspen.

Aus irgendeinem Grund nehme ich ihr das Lächeln nicht ab. Das Gefühl von Skepsis macht sich rasend schnell in meiner Brust breit. Irgendwas stimmt hier doch nicht.

»Okay, lasst uns frühstücken und dabei erklärt ihr mir, wie genau dieses Spiel abläuft.«

Mein Misstrauen verstärkt sich, als Aspen von ihrem Stuhl aufspringt und regelrecht in Richtung Kühlschrank flüchtet.

Ich stehe ebenfalls von meinem Platz auf, um Aspen beim Tischdecken behilflich zu sein, während Dion sich ihrem Smartphone widmet.

»Was hattest du eigentlich für eine Aufgabe?«, frage ich Dion, als ich wenige Augenblicke später drei Teller auf den Tisch stelle.

»Ich musste die erste Strophe der Nationalhymne fehlerfrei rückwärts aufsagen.«

»Wirklich? Kennst du die überhaupt?«, ziehe ich sie auf.

»Sehr witzig. Nicht nur zickig, sondern seit Neustem auch ein Spaßvogel«, spottet sie.

»Seid nett zueinander«, ermahnt uns Aspen scherzhaft.

»Aber um deine Frage ernsthaft zu beantworten: Nach Henrys Spezialbowle ist vorwärts schon eine Herausforderung. Er war so nett und hat sie für mich aufgeschrieben. Ich habe sie unauffällig abgelesen, während er gefilmt hat.«

»Was kann man denn bei dem Spiel gewinnen?«, fragt Aspen.

»Ruhm, Ehre«, antwortet Dion. Und fünfundzwanzigtausend Dollar , füge ich stumm hinzu. Für Dion spielt das Geld keine Rolle, ihre Familie hat genug davon. Es wundert mich also nicht, dass sie dieses Detail unerwähnt lässt.

Aspen sieht mich fragend an.

»Du kannst dir den Campusthron unter den Nagel reißen. So wie Henry die vergangenen Jahre. Macht ihn das eigentlich unantastbar?« Meine Frage richtet sich an Dion. Das Preisgeld lasse ich bewusst unter den Tisch fallen. Weil wir nie über Geld reden. Sie würden misstrauisch werden, würde ich es ansprechen. Eigentlich will ich nur nicht, dass sie sich ebenfalls Sorgen machen. Es reicht, wenn sich eine von uns über meine Zukunft den Kopf zerbricht.

»Sei nicht albern. Natürlich verschafft ihm das keine Vorteile. Ich meine, sein Dad hat bis vor wenigen Wochen das College geleitet und Henry ist trotzdem durch die Abschlussprüfung in Psychologie gefallen.«

Ja, es ist wirklich beruhigend zu wissen, dass er dahingehend keine Sonderbehandlung genießt.

»Und wer veranstaltet Secret Enemy ?«, fragt Aspen.

»Das ist das wohl bestgehütete Geheimnis des Waterbury College. Aus Henry war in dem Punkt nichts herauszubekommen. Und ich habe so meine Methoden, alles aus ihm herauszuquetschen. Ich bin mir sicher, er hat keine Ahnung. Er konnte mir nur sagen, dass die Spielausrichtung an den Gewinner des Vorjahres weitergereicht wird, weswegen er die Party veranstaltet und die Einladungen verteilt. Seine Aufgabe besteht ausschließlich darin, den Gastgeber zu spielen. Nachdem er das erste Mal gewonnen hat, stand wohl zum Ende des Semesters ein Paket auf dem Esstisch. Darin befanden sich die Umschläge und Anweisungen zum Spiel. Seit ein paar Jahren steckt Secret Enemy in einer App, die nur während des Zeitraums des Spiels aktiv ist. Tja, das wars, mehr weiß ich nicht.«

»Eine App? Darf ich mal sehen?« Aspens Neugier ist geweckt.

»Klar.« Dion tippt auf das Icon. Secret Enemy öffnet sich. Dann reicht sie ihr Smartphone Aspen.

»Was passiert, wenn ich auf das Glücksrad tippe?«

»Damit erspielst du deine Aufgaben.«

»Warum funktioniert es nicht?«, fragt sie, als nichts geschieht.

»Die nächste Aufgabe lässt sich erst nächsten Sonntag freischalten. Dann bleiben einem vierundzwanzig Stunden, um sie zu erfüllen. Je nach Aufgabe und wie schnell sie gemeistert wird, erhält man eine Punktzahl.«

Ich rücke mit dem Stuhl näher an Aspen heran, denn jetzt hat Dion auch meine Neugier geweckt. Henry hat sich gestern eher vage geäußert. Er ist einfach davon ausgegangen, jeder wüsste, worum es sich bei dem Game handelt. Wusste Jasper davon? Wenn ja, woher? War er deswegen auf der Party? Wie zufällig war unsere Begegnung? Warum ist er so schnell verschwunden?

Die Fragen ploppen wie Mikrowellenpopcorn in meinem Kopf auf.

»Cool, es gibt eine Galerie«, sagt Aspen begeistert und unterbricht damit mein Gedankenpopcorn. Sie tippt auf das Symbol, das Ähnlichkeit mit einem Bilderrahmen aufweist. Es dauert einen winzigen Moment, bis sich eine ganze Reihe an Fotos und Videos öffnet.

Was, es gibt eine öffentliche Fotogalerie? Das bedeutet … jeder kann sehen, welche Aufgabe man erfüllt hat. Ich hatte angenommen, es bliebe geheim. Wozu ein Nickname, wenn man nur auf einen Button klicken muss, um alles zu enthüllen?

Munter scrollt sie sich durch das Beweismaterial.

»Hat Jasper sich ernsthaft Erdnussflips in die Nase gesteckt?« Aspen lacht.

Ich betrachte das Foto von uns beiden eingehend. Das war, kurz bevor wir uns geküsst haben. Nervös knete ich meine Finger unter dem Tisch. Wie viele haben das Bild gesehen? Lässt es sich löschen? Mir wird flau im Magen.

»Ist das Will aus unserem Wirtschaftskurs?«

»Ja, das ist William Sullivan jr., der nur mit seinen Boxershorts und einem Seidenschal bekleidet auf dem Küchentresen steht und Edgar Allan Poe rezitiert.«

»Wow, das Sixpack hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, merkt Aspen an, bevor sie weiterscrollt. Unser Kussfoto, diesmal im perfekten Winkel, taucht auf dem Display auf. Was als Nächstes geschieht, ist mehr ein Reflex als eine durchdachte Handlung, denn ich schnappe mir das Smartphone und werfe es mit einer schwungvollen Bewegung in Richtung Sofa. Es grenzt an ein Wunder, dass es nicht im Flatscreen landet.

»Bist du übergeschnappt? Das ist meins!«, entfährt es Dion. Aspen hingegen lacht.

Erschrocken reiße ich die Augen auf. Herrjemine.

»Entschuldige«, sage ich und springe hastig vom Stuhl auf, um Dions Handy aufzuheben. Glücklicherweise hat es keinerlei Kratzer davongetragen. Ein Hoch auf den Flokatiteppich, auf dem es gelandet ist. Mit schuldbewusster Miene gebe ich es ihr zurück. Sie dreht es, um es nach Schäden abzusuchen, und seufzt erleichtert, als sie feststellt, dass es intakt ist.

»Mach das nie wieder, sonst befördere ich deine Schneekugelsammlung auf den Sperrmüll.« Das Schmunzeln auf ihren Lippen nimmt ihren Worten die Schärfe.

»Kommt nicht wieder vor. Keine Ahnung, was da gerade in mich gefahren ist.«

»Du meinst wohl eher, wer! Auf dem Foto wirkt es nicht, als hätte es euch viel Überwindung gekostet«, sagt Dion streng.

Dass ich ausgerechnet Jasper geküsst habe, kommt einem Hochverrat gleich. Weil wir Jasper nicht ausstehen können. Nicht sie.

»Ihr seht süß zusammen aus«, merkt Aspen an.

»Können wir bitte nicht Jasper und mich thematisieren?«

»Also ich hätte da durchaus ein paar Fragen, Sweetheart«, zischt Dion.

Die Sache geht ihr wirklich gegen den Strich. Und auch wenn es sich nicht so gut anfühlen sollte, genieße ich es, mich ihr widersetzt zu haben, indem ich ausgerechnet den Feind geküsst habe. Irgendwie jedenfalls. Jasper ist nicht wirklich der Feind, aber so hat mein Handeln deutlich mehr Gewicht.

»Verdammt, die Eier!« In dem Augenblick, als Aspen wie von der Tarantel gestochen aufspringt, steigt mir ein beißender Geruch in die Nase.