8.

JASPER

Tag 6 in Waterbury. Es ist kurz vor drei und ich sitze auf einer der Bänke im Park. Bei den Temperaturen sind kaum Studierende auf dem Collegegelände unterwegs. Was wirklich angenehm ist. Ich mag die Stille, ohne dass es wirklich still ist. Es ist menschenstill.

Ich ziehe das Smartphone aus der Tasche, um Cam eine Nachricht zu schicken, dass ich den Einkauf bereits erledigt habe und diesmal auch an den Cranberrysaft, Cornflakes und Toilettenpapier gedacht habe, als das Geräusch von Schritten meine Aufmerksamkeit erweckt. Ich hebe den Kopf. Die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen, läuft er an mir vorbei. Er nimmt nicht einmal Notiz von mir. Versucht sich möglichst unauffällig zu geben, was ihm nicht gelingt und deshalb meine Neugier weckt.

Ich gebe ihm etwas Vorsprung, dann folge ich ihm. Als er sich auf eine Parkbank setzt, schlage ich eine andere Richtung ein, bevor er mich entdeckt. Aber ich entferne mich nur so weit, dass ich ihn immer noch im Blick habe. Leider kann ich auf die Entfernung, und weil er den Kopf gesenkt hält, sein Gesicht nicht erkennen.

Aus der entgegengesetzten Richtung kommt jemand mit schnellen Schritten über den Rasen gelaufen. Ebenfalls die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Taschen vergraben. Es ist offensichtlich, dass sein Ziel die Parkbank ist. Aber es ist auch nicht zu übersehen, wie nervös er ist.

Mit dem Smartphone mache ich ein Video von den beiden. Halte fest, wie Drogen und Geld den Besitzer wechseln. Nachdem die Übergabe abgeschlossen ist, trennen sich ihre Wege genauso schnell, wie sie sich gekreuzt haben.

Ich hefte mich an die Fersen des Kerls, dem ich zuvor schon gefolgt bin. Er biegt zum Hauptgebäude ab und läuft dann auf das Café zu. Prompt beschleunige ich meine Schritte und betrete nur einen Augenblick nach ihm das Gebäude. Ich lasse einem Pärchen, das gerade durch die Tür kommt, den Vortritt und reihe mich in der Schlange hinter ihnen ein. Nachdem er ein paar Worte mit der Bedienung gewechselt hat, marschiert er davon. Bevor mein Blick ihm folgen kann, lenkt die Blondine hinter dem Tresen meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Hey, was bekommst du?«

»Einen schwarzen Tee, bitte«, gebe ich meine Bestellung auf. Flüchtig werfe ich einen Blick über die Schulter. Verdammt, wo ist er hin? Er muss die Jacke ausgezogen haben. Und damit könnte er nun jeder in diesem Raum sein.

»Hey, ist der Tee zu Hause aus?«, ertönt Camerons Stimme rechts von mir.

Ich wende mich ihm zu. »So ähnlich.«

»Bekommst du auch was?«, fragt die Bedienung Cam.

»Einen Kaffee, schwarz, zum Mitnehmen.«

Erneut sehe ich mich um. Du kannst dich nicht in Luft aufgelöst haben und ich werde dich finden.

»Mach zum Hiertrinken draus«, sage ich zu Cam, drücke ihm zehn Dollar in die Hand und gehe auf einen der freien Tische zu, der mir die beste Sicht ermöglicht. Mein Blick wandert von einem Tisch zum nächsten. Über der Rückenlehne der Stühle hängen überwiegend schwarze Jacken. So werde ich ihn nicht ausfindig machen.

Drei Tische rechts von mir sitzt eine kleine Gruppe, die meine Aufmerksamkeit erregt. Einer davon ist der Typ, der auf der Party die QR -Codes ausgeteilt hat. Die Blondine neben ihm sagt mir aus Gründen auch etwas. Mit dem Rücken zu mir sitzt ein Kerl mit dunklen Haaren und rotem Pullover. Über seiner Stuhllehne hängt eine schwarze Jacke. Mein Instinkt flüstert mir zu, ich bin ziemlich nah dran.

Ich sehe zu dem Kerl, der neben ihm sitzt und gerade einen braunen Umschlag von ihm entgegennimmt, den er in seinem Rucksack verschwinden lässt. Für einen kurzen Moment erhasche ich einen Blick auf sein Gesicht, als er über seine Schulter sieht. Henry Walls. Natürlich, wer auch sonst.

»Will ich wissen, warum du so selbstgefällig grinst?«, fragt Cam, als er das Tablett auf dem Tisch abstellt.

»Nein«, antworte ich und nehme mir den Tee.

Cameron setzt sich mir gegenüber. »Was hast du heute getrieben? Du warst bereits vor dem Frühstück weg.«

»Ich hatte was zu erledigen.«

»Und was?«

»Wo hast du Aspen gelassen?«, ignoriere ich seine Frage.

»Verbringt den restlichen Tag mit ihren Freundinnen, damit sie sich nicht von ihr vernachlässigt fühlen.«

»Verstehe.«

»Wenn du also nichts anderes geplant hast, könnten wir einen Männerabend machen«, schlägt er vor.

Als Reaktion ziehe ich eine Augenbraue hoch.

»Du sprühst richtig vor Begeisterung.«

»Okay, rein hypothetisch, wie würde so ein Männerabend bei uns beiden denn ablaufen? Unsere Interessen sind doch recht unterschiedlich.« Cam und ich verbringen nicht auf diese Art Zeit miteinander. Wir gehen weder gemeinsam in eine Kneipe noch zu einer Sportveranstaltung oder was auch immer Männer zusammen tun. Unsere Beziehung basiert auf Unterhaltungen und der Tatsache, dass wir jetzt unter einem Dach leben.

»Wir könnten eine Runde Schach spielen. Ich habe das Brett auf deinem Schreibtisch stehen sehen.«

»Du warst in meinem Zimmer?«

»Ja, vorhin. Ich habe nachgesehen, ob du da bist.«

»Wenn du an eine Tür klopfst und keine Antwort erhältst, gibt es dafür zwei Möglichkeiten. Entweder die Person hat wenig Interesse an einer Begegnung oder sie ist nicht da. In beiden Fällen solltest du ihre Privatsphäre respektieren und nicht einfach reinmarschieren«, sage ich schroff.

»Sorry, ich wollte deine Privatsphäre nicht verletzen. Vielmehr habe ich mir Sorgen gemacht und wollte wissen, ob bei dir alles okay ist«, erwidert er beschwichtigend. Dass es ihm leidtut, macht es nicht besser.

»Wie kommst du darauf, dass man sich um mich sorgen muss?«

»Weil du seit unserer Ankunft in Waterbury noch unausstehlicher als gewöhnlich bist.«

»Mit mir ist alles in Ordnung.«

»Also falls du jemanden für eine Partie brauchst und nicht nur gegen dich selbst spielen willst, ich war in der Highschool im Schachclub und bin ein ernst zu nehmender Gegner.«

»Ich spiele nicht gegen mich selbst«, stelle ich klar.

»Verarschst du mich gerade?« Ungläubig sieht er mich an.

»Was du auf dem Spielbrett gesehen hast, ist der Spielstand einer Partie von vor über einem Jahr, die nicht beendet ist.« Seit achtzehn Monaten und sechs Tagen, um genau zu sein. So lange ist es her, dass Noah mir per Kurznachricht seinen letzten Zug mitgeteilt hat.

»Warte, du spielst seit einer Ewigkeit gegen jemanden eine Schachpartie?« Die Fragezeichen in seinen Augen sind unübersehbar, aber ich bin nicht gewillt näher darauf einzugehen.

»Kennst du die Rothaarige?«, frage ich und deute mit dem Kinn in Richtung des Tisches, an dem eine Gruppe sitzt, die mich nicht im Geringsten interessiert.

»Weichst du mir absichtlich aus?«, will er wissen. Dennoch sieht er über seine Schulter. »Welche von den beiden meinst du?«, hakt er nach.

Keine von beiden. »Die in der grünen Bluse.«

»Nein, aber wir könnten heimlich ein Foto machen und ich frage Aspen, ob sie Dion ausquetscht. Sie wird es wissen. Sie kennt vermutlich jeden hier.«

Sein Ernst? Würde sie mich tatsächlich interessieren, würde ich rübergehen und sie ansprechen.

»Nicht nötig. Ist auch nicht so wichtig.«

»Warum fragst du dann überhaupt?«

»Um deinen Fragen auszuweichen«, antworte ich und grinse.

Für die nächsten fünf Minuten schweigt Cam und starrt gedankenverloren in seine Kaffeetasse, während ich den Tee austrinke.

Drei Tische weiter kommt Bewegung in die Gruppe, als sie sich allmählich auflöst. Das ist mein Zeichen.

»Können wir los?«

»Ja«, erwidert Cam angepisst. Ich verstehe ihn, aber es ändert nichts daran, dass ich ihm nicht alles erzählen kann und ihn nur so nah an mich heranlasse, wie es für mich erträglich ist.

Statt den direkten Weg einzuschlagen, gehe ich an dem Tisch vorbei und sehe den Kerl im roten Pullover an. Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke. Gerade so lange, dass ich mir sein Gesicht einprägen kann, und doch so kurz, dass er nicht ahnt, dass unsere Begegnung keine zufällige ist.

»Wie laufen deine Kurse?«, frage ich Cam, als wir auf dem Weg zum Bungalow sind. Eine seiner positiven Eigenschaften ist, dass er nie lange schmollt oder nachtragend ist. Egal, wie oft ich ihn vor den Kopf stoße, er wendet sich nicht von mir ab. Manchmal frage ich mich, warum er es nicht einfach tut. Was er in mir sieht, das ich selbst nicht sehe.

Die nächste Viertelstunde erzählt er von seinem Architekturprojekt, das er in diesem Semester umsetzen muss, und dass der Professor in Geschichte so monoton spricht, dass er nur mit Mühe nicht beim Zuhören wegnickt. Als er mich nach meinen Kursen fragt, weiche ich ihm erneut aus. Weil ich keine Ahnung habe. Dazu müsste ich sie besuchen, was ich nicht tue, weil mich nichts weniger interessieren könnte, als mit vielen Menschen in einem stickigen Raum zu sitzen. Also lenke ich unsere Unterhaltung auf seine Pläne für das bevorstehende Wochenende und bin tatsächlich überrascht, als er mir mitteilt, er werde mit Aspen nach Manhattan fahren, um ihre Mom kennenzulernen.

»Dann wird es jetzt also so richtig ernst«, scherze ich.

»Warum, weil Aspen mir ihre Mom vorstellen will?«

»Aspen stellt dir nicht ihre Mom vor, du wirst in die Gesellschaft eingeführt. Du bekommst ein gratis Upgrade in die Upperclass.«

»Das klingt, als müsste ich Angst haben«, spottet er.

Ich schließe die Tür zum Bungalow auf und lasse ihm den Vortritt.

»Du solltest dir in jedem Fall etwas Anständiges anziehen«, sage ich, als er aus seinen ramponierten Chucks schlüpft.

»Vielleicht leihe ich mir einen deiner Rautenpullis.«

»Es heißt Argyle-Sweater.«

»Ich weiß, aber Rautenpulli klingt witziger. Da du kein Interesse an einem Spieleabend hast, wie siehts mit einem Film aus? Ich bereite uns ein paar Snacks zu und wir hängen auf dem Sofa ab?«

»Der Männerabend ist also nicht vom Tisch?« Meine Mundwinkel zucken, als ich mir ein Schmunzeln verkneife.

»Nein, ich geh dir so lange auf den Sack, bis du endlich den Stock aus deinem Spießerarsch ziehst.«

»Du solltest noch etwas an deinem Vokabular arbeiten, bevor du auf Mrs Hill triffst.«

»Ich werde es in Erwägung ziehen«, imitiert er meinen Tonfall und bringt mich damit zum Lachen.

»Gut, du hast gewonnen. Aber ich suche den Film aus.«

»Geht klar.«

»Ich muss vorher noch etwas erledigen. Gib mir dreißig Minuten«, sage ich und verschwinde in meinem Zimmer. Mein Blick fällt auf das Schachbrett. Ein paar Sekunden starre ich auf die Spielfiguren und warte, dass sich der schwarze Springer meinen weißen schnappt. Monate habe ich damit verbracht zu überlegen, welchen Zug Noah machen würde. Ob er den Läufer opfern würde, um die Dame zu schützen. Ja, genau das würde er tun und sich damit selbst schachmatt setzen.

Für einen Moment schließe ich die Augen, atme tief durch, zähle bis zehn. Als ich sie wieder öffne, stehen die Figuren immer noch auf ihren Positionen. Ich nehme den Laptop vom Schreibtisch und setze mich auf das Bett.

Das Waterbury College verfügt über eine interne Kommunikationsplattform, die ähnlich wie Instagram aufgebaut ist. Nur dass sie nicht öffentlich zugänglich ist. Aber im Grunde findet man dort alles, was man über jemanden wissen muss. Alle Studierenden besitzen einen eigenen Account, den man mit Informationen über sich füttern kann. Standardmäßig sind allerdings folgende Informationen hinterlegt: die Bungalowbelegung, der Kursplan und eine Kontaktmailadresse. Zusätzlich kann man eine Liste mit Freunden erstellen, damit auch jeder weiß, in welchen Kreisen man sich bewegt. Veranstaltungen planen. Lerngruppen organisieren. Interessengemeinschaften bilden. Alles, was einem den Alltag am Waterbury College angenehmer gestaltet.

Ich rufe das Profil von Walls auf, öffne seine Kontaktliste und überfliege sie.

»Na, wen haben wir denn da«, murmle ich leise, als das Gesicht, nach dem ich gesucht habe, auf dem Bildschirm auftaucht. Ich klicke auf Info . Bungalow Nr. 6 . Mit dem Handy mache ich ein Foto vom Kursplan, damit ich weiß, wann die beste Zeit ist, um sich ungestört umzusehen. Idealerweise würde ich das Wochenende wählen, weil da die meisten Studierenden den Campus verlassen, aber ich habe meiner Mom ein Mutter-Sohn-Wochenende versprochen, um sie von dem Drama abzulenken, das ich ausgelöst habe. Eine Wellnessfarm ist zwar nicht unbedingt das, was mir vorschwebt, aber wenn sie das glücklich macht, bin ich dabei. Außerdem bin ich wirklich froh, für ein paar Tage von hier zu verschwinden. Nach nicht mal einer Woche habe ich schon die Schnauze voll von diesem Ort. Aber ich habe auch nichts anderes erwartet.

Ich klappe den Laptop zu und stehe vom Bett auf. Aus dem immer noch unausgepackten Koffer nehme ich mir bequeme Kleidung und gehe ins Bad, um mir vor dem Filmabend mit Cam noch eine Dusche zu gönnen.

Als ich das Wohnzimmer betrete, finde ich Cameron in der Küche vor, wo er Sandwiches schmiert. Ich öffne den Kühlschrank, nehme den Cranberrysaft und die Rhabarberschorle heraus. Beides bringe ich ins Wohnzimmer und stelle es auf dem Couchtisch ab.

»Kann ich dir bei irgendwas helfen?«, frage ich und nehme zwei Gläser aus dem Hängeschrank.

»Nein, aber du kannst das hier schon mitnehmen und einen Film aussuchen«, sagt er und drückt mir eine Schüssel mit Chips in die Hand.

Sobald ich auf dem Sofa sitze und nach der Fernbedienung greife, sehe ich zu Cam. »Wonach steht dir der Sinn?«

»Alles, nur keine Reportage«, ruft er aus der Küche.

»Sollte ich hinbekommen«, erwidere ich und öffne Netflix.

Cameron stellt den Teller mit den Sandwiches auf dem Tisch ab und sieht zum Fernseher. »Du hast zehn Minuten. Ich geh schnell duschen und zieh mich um.«

Während ich durch die Auswahl zappe, wandern meine Gedanken zu Abbie und unserem Aufeinandertreffen nach der Party. Ich habe mich wie ein Arsch benommen. Absichtlich. Damit sie mich zukünftig meidet und mir nicht zum Opfer fällt. Es ist besser, als die Person gehasst zu werden, die man ist, als für die Person gemocht zu werden, die man nicht ist. Oder eben nicht mehr. Von der man auch nicht weiß, ob sie je wieder das Steuer übernimmt. So weit die Theorie. In der Praxis habe ich mir ihre Telefonnummer besorgt.

Ich hole mein Handy aus der Tasche meiner Trainingshose, öffne ihren Kontakt, tippe eine Nachricht und lösche sie wieder. Auch das habe ich in den vergangenen Tagen immer wieder getan. Besser wäre es, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Gäbe es da nicht das kleine Problem, dass der Teil meines Bewusstseins, der neugierig auf Abbie ist, nicht von ihr für ein Arschloch gehalten werden will. Und seit unserer ersten Begegnung setzt sich dieser Teil immer wieder gegen meinen Verstand durch. Das macht mich wahnsinnig. Weil er unkontrollierbar ist. So wie jetzt, denn ich tippe erneut eine Nachricht und diesmal schicke ich sie auch ab.

Ich: Wenn ich mich das nächste Mal wie ein Arsch benehme, verpass mir einen Tritt gegen das Schienbein. J.

»Ist das deine Filmauswahl?«, fragt Cam hinter mir amüsiert, bevor er sich über die Rückenlehne hinweg auf das Sofa schwingt. Ich sehe zum Fernseher. The Lord of the Rings. Nein, das ist ganz sicher nicht meine erste Wahl. Das Repertoire an Filmen, die ich gesehen habe, beschränkt sich auf ein Minimum. Die meisten sind älter als ich selbst.

Über die Suchfunktion gebe ich Days of Thunder ein, um nachzusehen, ob er abrufbar ist. Und ich habe Glück.

»Ist der gut?«, fragt Cam ungläubig und greift in die Schüssel mit den Kartoffelchips.

»Ein Klassiker.«

Bevor ich den Film starte, sehe ich nach, ob Abbie geantwortet hat.

Ich: Die Entscheidung überlasse ich dir.

Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich das Handy ausschalte und auf der Sofalehne ablege, dann greife ich nach einem der Sandwiches.