14.

JASPER

»Seit wann bist du zurück?«, ertönt Cams Stimme wie ein Störgeräusch hinter mir. Ich war völlig vertieft in den Dokumentarfilm und habe nicht bemerkt, wie er den Raum betreten hat.

»Habe mich vor zwei Stunden reingeschlichen, wollte euch nicht stören. Es klang, als wärt ihr beschäftigt«, antworte ich und grinse ihn an.

»Und, hattest du deinen Spaß?«, fragt er und erwidert mein Grinsen, weil ich vage angedeutet habe, warum ich über das Wochenende einen Abstecher nach Boston mache.

»Ja und nein.« Mein Vorhaben, mir Abbie aus dem Kopf zu vögeln, ist gescheitert. Ehrlich, ich habe mich nach einer Runde unverbindlichem Sex noch nie so mies gefühlt. Was sich in den vergangenen Monaten zu einem netten Zeitvertreib ohne Verpflichtungen entwickelt hat, hat plötzlich einen bitteren Beigeschmack. Was absurd ist, weil ich weder in einer Beziehung stecke noch etwas in der Art anstrebe. Also, woher kommt das schlechte Gewissen? Abbie hat nicht auf meine Nachricht geantwortet und ich bin ihr keine Rechenschaft schuldig, mit wem ich es in meiner Freizeit treibe. Vermutlich ist genau das der Punkt. Denn ich will, dass sie meine Nachrichten beantwortet, mir sagt, wie es ihr geht, was sie beschäftigt und … verdammt … ich will sie und nicht irgendeine andere Frau nackt unter mir haben.

»Was siehst du dir da an?«, reißt Cam mich aus meinen Gedanken. Aber immerhin kenne ich jetzt mein Problem. Stellt sich nur die Frage, wie die Lösung dafür aussieht.

»The Social Dilemma« , antworte ich und drücke auf Pause.

Über die Schulter sehe ich zu Cam, der gerade die Flasche Cranberrysaft aus dem Küchenschrank herausnimmt.

»Worum geht es in dem Film?«

»Hauptsächlich um Data Mining.«

Cam hält kurz in der Bewegung inne, den Flaschenhals an den Lippen. »Data was?«, nuschelt er, bevor er sich einen großen Schluck des Saftes gönnt. Normalerweise kann ich es nicht ausstehen, wenn jemand direkt aus der Flasche trinkt. In diesem Fall ist es mir egal, weil ich das Zeug nicht mag.

»Ganz grob: Data Mining beschäftigt sich mit der Auswertung großer Datenbestände, um Querverbindungen und Trends zu erkennen.«

»Und wozu?«

Cam kann sich eher weniger für die Dinge begeistern, die mein Interesse wecken. Ich weiß es zu schätzen, dass er wenigstens versucht Neugier vorzutäuschen.

»Auf Social Media bezogen und für dich ganz einfach erklärt: Wie stößt man Nutzer in die Abhängigkeit, manipuliert ihre Psyche, steuert das Kaufverhalten der User oder macht sie zu Daten-Zombies. Es ist erstaunlich, wie bereitwillig Menschen die Welt an ihrem Gemütszustand, ihrer Familie, ihren Interessen, Bekanntschaften und besuchten Orten teilhaben lassen. Noch erstaunlicher ist, dass sie ihre persönlichen Daten überall dort eintippen, wo es von ihnen verlangt wird. Und sei es nur, um einen Rabattcode für etwas zu erhalten.

Es ist alles so herrlich unkompliziert. Zwei Klicks und du bist so transparent wie Klarsichtfolie. Wie oft liest jemand das Kleingedruckte? Wer weiß überhaupt, was mit seinen Daten passiert oder wer sie am Ende für sich nutzt? Oder, und das ist das Interessanteste an diesem Social-Media-Kram – wie schafft man es, dass Menschen nahezu blind einer Meinung folgen, ohne Dinge zu hinterfragen? Sich aufstacheln lassen und in der Anonymität zu Monstern werden, die Cybermobbing nur als das ansehen, was es ist, sobald es sie selbst betrifft?

Im Grunde bietet es die Möglichkeit, eine völlig neue Realität zu erschaffen. Ein Second Life sozusagen. Du kannst sein, wer immer du willst, und deinen Wert innerhalb der Community anhand von Zahlen bestimmen. Und genau diese Zahlen beeinflussen die Psyche und kontrollieren dich früher oder später. Sinkt deine Reichweite, zweifelst du an dir selbst. Du fragst dich, ob du etwas falsch machst, unsympathisch bist oder sich schlichtweg niemand für dich interessiert. Du beginnst dich für Inaktivität zu entschuldigen, gelobst Besserung. Verbringst noch mehr Zeit vor dem Bildschirm.

Bevor du es bemerkst, bist du ein Zombie der Maschinerie und empfänglich für alles, was der Algorithmus in deine Timeline schiebt. Werbung. Content. Trends. Nichts landet dort zufällig. Weil deine Daten ausgespült werden, damit andere sie sich zunutze machen können, um ein Vermögen einzusacken. Gleichzeitig ist der Algorithmus dein größter Feind, den du weder verstehst noch bezwingen kannst. Er bringt dich dazu, sich ihm anzupassen, dein Verhalten und Gewohnheiten zu ändern, wenn du nicht in der Versenkung verschwinden und plötzlich ein Niemand sein willst. Es ist faszinierend, wie Likes und Followerzahlen Menschen manipulieren. Wie sie jemanden zwingen, präsent zu sein und dem fiktiven Leben so viel Raum in der Wirklichkeit zu gestatten.«

»Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Wundert mich nicht. Weißt du überhaupt, wie man das Internet bedient?«, ziehe ich ihn auf. Cam ist gegen Internetsucht völlig immun. Das Einzige, was er besitzt, ist ein Netflix-Abo. Er hat weder einen Social-Media-Account noch Shopping- oder Gaming-Apps auf dem Smartphone. Diese Dinge reizen ihn schlichtweg nicht. Mich hingegen schon, aber ich habe einen völlig anderen Blickwinkel als die breite Masse. Meine Faszination richtet sich auf das, was sich dahinter versteckt. Das, was nicht offensichtlich ist, und das, wozu es fähig ist.

»Was ist das Internet?«, erwidert Cameron todernst. Dann lacht er. »Also ist der Film gut.« Das ist keine Frage, sondern eine Schlussfolgerung.

»Nein, nicht besonders. Er beleuchtet nicht das, was das eigentliche Problem an der Sache ist.«

»Und was ist das Problem?«

»Dass niemand gewillt ist, tatsächlich eine Lösung zu finden, um diese Menschen weniger fremdzusteuern, weil es ein Milliardengeschäft für viele Unternehmen ist, die eine Menge Geld investieren, damit alle die Füße stillhalten. Es ist nicht die Politik, die unsere Welt regiert, es ist die Wirtschaft. Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung, viele würden mir in diesem Punkt widersprechen und die Politik als das Dach unserer Gesellschaft bezeichnen.«

»Interessanter Ansatz, Anderson. Du solltest unbedingt Das Genie von morgen besuchen. Professor Hensons eingestaubte Ansichten zur Weltwirtschaft würden dir gefallen.«

»Meine Interessen liegen in anderen Bereichen.« Vielsagend grinse ich ihn an.

»Ja, und ich frage mich noch immer, woher du das alles kannst. Das ist nichts, was man in der Highschool lernt. Oder stand das in deiner überteuerten Privatschule auf dem Stundenplan?«

In den letzten Monaten hat er immer wieder diese Frage gestellt. Allerdings stand mir bisher nie der Sinn danach, es ihm zu erklären. Was hauptsächlich daran liegt, dass ich ungern über Dinge rede, die in der Vergangenheit liegen. Denn sobald man seinen Verstand zurückkehren lässt, spuckt er nicht nur die schönen Sachen aus, sondern auch Dinge, an die man ungern zurückdenkt. Aber da Cam bei dieser Frage extrem hartnäckig ist, ist es wohl an der Zeit, diesen Teil der Geschichte einfach abzuhaken.

»Mein Grandpa hatte ein Faible für Technik. Für Computer, um genau zu sein. Ich saß bereits vor einem Bildschirm, bevor ich richtig laufen konnte.«

»Also war dein Grandpa ebenfalls ein Hacker?«

»Nein, er hat Computerspiele entwickelt und ich durfte sie als Kind testen. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich mich dafür interessiert, wie es im Inneren dieser Spiele aussieht. Ich verstehe Dinge gerne, anstatt sie ausschließlich zu nutzen. Also habe ich einen Teil der Ferien bei meinem Grandpa verbracht, um ihm über die Schulter zu schauen und ihn mit Fragen zu löchern. Den anderen Teil habe ich im Trainingslager und im Sommercamp für Nerds verbracht. In meiner Freizeit habe ich Massen an Fachliteratur verschlungen, auch wenn ich nur einen Bruchteil davon wirklich verstanden habe. So bin ich zum Programmieren gekommen. Learning by doing mit freundlicher Unterstützung meines Grandpas und der Leute in seiner Firma. An der Stowe saß ich bereits als Mittelstufler im IT -Kurs der Oberstufe. Jedenfalls bis sie mich rausgeworfen haben, weil ihnen meine außerschulischen Aktivitäten missfallen haben.«

»Du hast die Geschichtsnoten der kompletten Schule aufpoliert, indem du dich in den Computer der Rektorin gehackt hast«, erinnert er mich. Die Info hat ihm Jason Tell gegeben. Er hat glücklicherweise im letzten Semester seinen Abschluss gemacht. Ich würde hier ungern auf alte Bekannte treffen. Auch wenn Jason ein anständiger Kerl ist, möchte ich die Vergangenheit ruhen statt aufleben lassen.

»Mr Rosewood war ein perverser Narzisst, der es geliebt hat, Schülerinnen in den Ausschnitt zu gaffen und an den Hintern zu fassen. Ich empfand das nur als fair.«

Cam sieht mich mit großen Augen an.

»Ein Hack ist nichts anderes, als eine Lösung für ein Problem zu finden. Mr Rosewoods Bewertungsmaßstab war ein Problem und ich habe es gelöst.«

»Aus deinem Mund klingt dieses Hobby, als wäre es völlig harmlos.«

»Wau Holland sagte einmal: ›Ein Hacker ist jemand, der versucht einen Weg zu finden, wie man mit einer Kaffeemaschine Toast zubereiten kann.‹ Also ja, im Grunde ist es harmlos.«

»Du hast dich ins College gehackt und nicht versucht dir ein Frühstück zuzubereiten.«

»Was ich dir damit sagen will, ist, dass es in jeder Branche schwarze Schafe gibt. Dieses Können ist nur in den falschen Händen gefährlich. In den richtigen hingegen dient es dazu, Dinge zu verbessern, zu schützen oder zu revolutionieren. Und falls es dich beruhigt: Ich habe keine Ambitionen, meine Fähigkeiten für kriminelle Aktivitäten zu nutzen.«

»Ich weiß, ich wiederhole mich, aber du hast dich ins College gehackt.«

»Du kannst mir unmöglich vorwerfen, dass ich einen Geldwäscheskandal aufgedeckt habe. Und genau genommen bin ich ins Büro der Leitung eingestiegen und habe die Daten auf einen Stick gezogen. Das hat nichts mit Hacken zu tun.«

»So viel zu ›nicht kriminell‹«, spottet er, dann sieht er mich nachdenklich an. »Ich meine, man hört ja ständig von irgendwelchen Hackerangriffen. Du könntest sonst was mit deinen Fähigkeiten anrichten. Letzte Woche haben Hacker das NYPD lahmgelegt.«

Ich verkneife mir ein Grinsen. »Die Betonung liegt auf dem Wörtchen könnte . Das unterscheidet die guten von den bösen Jungs.«

Cameron mustert mich ungläubig von der Seite.

»Ich musste improvisieren. Deine Freundin hat mich sabotiert«, rechtfertige ich mich.

»Hat sie dir je verraten, wie sie es angestellt hat?«

»Nein, dir?«

»Nope, sie schweigt wie ein Grab.«

»Aspen ist loyal, das weiß ich zu schätzen.«

»Du willst also nicht wissen, wer ihr dabei geholfen hat?«

Statt zu antworten, verziehe ich meine Lippen zu einem Schmunzeln.

»Du weißt es längst?«, schlussfolgert Cam erstaunt.

»Ich habe nie behauptet, es nicht zu wissen.«

»Und du sagst kein Wort?«

»Du hast mich nie danach gefragt.«

»Echt jetzt?«

»Es war William Sullivan. Ich gebe zu, die Auflösung hat mich ebenfalls überrascht.«

»William Du-kannst-mich-auch-Will-nennen ist ein Hacker?«

»Nein, er ist höchstens ein talentiertes Scriptkiddie.«

»Ein was?«

»Ein Scriptkiddie ist jemand, der Quellcodes zusammenpuzzelt, ohne wirklich Ahnung davon zu haben.«

Cam sieht mich an, als hätte ich gerade ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert.

»Stell dir vor, du hast zwei Gebäude und jemand drückt dem Maurer die Baupläne dazu in die Hand, damit er sie nachbaut. Allerdings besteht die Aufgabe darin, dass die untere Etage aus Gebäude A und die obere aus Gebäude B besteht. Der Maurer hat nun beide Baupläne vor sich und legt sie übereinander. Augenscheinlich passen die Ebenen aufeinander. Was ein Scriptkiddie nicht sieht, ist, dass die Statik das Bauwerk nicht tragen wird.«

»Also hat Will dein Programm zum Einstürzen gebracht?«

»Vereinfacht: Will hat den Algorithmus mit einem festen Ergebnis versehen, was wiederum dafür gesorgt hat, dass er die Backdoor gekillt hat, weil die an ein No Match gebunden war, das es demzufolge nicht gegeben hat.«

»Okay, so weit komme ich mit. Aber warum hat Will Aspen geholfen? Ich kann mich nicht erinnern, dass die beiden im vergangenen Semester etwas miteinander zu tun hatten. Das wüsste ich, ich saß im Wirtschaftskurs neben ihm.«

»Ja, die Frage habe ich mir auch gestellt. Vor allem, weil Aspen meinte, sie hatte Hilfe von außerhalb des Colleges. Allerdings habe ich ihr das nicht ganz abgenommen. Immerhin hatte ich es selbst nicht an der Firewall des zentralen Servers vorbeigeschafft und musste meine Strategie ändern. Nachdem du aus Waterbury abgehauen bist, habe ich hier etwas herumgeschnüffelt.«

»Warte, du bist nicht abgereist?«

»Nein, nicht sofort. Ich hatte noch einiges zu erledigen, das sich nur vor Ort umsetzen ließ«, äußere ich vage.

»Und wie bist du auf Will gekommen?«, will Cam wissen.

»Wo sucht man einen Hacker als Erstes? Im Informatikkurs. Die Liste der Teilnehmenden ist überschaubar. Es ist wirklich erstaunlich, wie wenige sich für diesen Fachbereich interessieren. Abbie besucht den Informatikkurs. Erst habe ich vermutet, sie wäre es gewesen. Dann habe ich sie ein paarmal mit Sullivan gesehen. Seiner Familie gehört ein Cybersicherheitsunternehmen, da findet sich jemand mit den entsprechenden Fähigkeiten, um Chaos zu verursachen.«

»Ich dachte, sie hätten eine Fitnessstudiokette?«

»Ja, das auch. Die Sullivans sind eine große Familie mit vielen verschiedenen Standbeinen. Worauf ich allerdings hinauswill: William arbeitet in seiner Freizeit an einer Fitness-App für seinen Bruder, der im Übrigen das Studio hier auf dem Campus leitet. Jedenfalls habe ich mich in seinem Bungalow umgesehen. Netterweise hat er Notizen zu meinem Programm an seine Pinnwand geheftet. Jemand sollte ihm beibringen, wie man seine Spuren verwischt.«

»Ja, aber was hatte Will denn davon, den Mädels zu helfen?« Cam wirkt sichtlich verwirrt.

»Das ist die große Preisfrage. Das Rätsel habe ich nicht gelöst. Vielleicht steht er auf Abbie. Vielleicht wollte er Amor spielen. Vielleicht hat ihn die Herausforderung gereizt. Oder er ist einfach nur ein netter Kerl, der Leuten hilft, wenn sie ihn darum bitten. Um ehrlich zu sein, ist mir inzwischen auch egal, was ihn dazu bewogen hat. Ich bin mir ziemlich sicher, er wollte niemandem schaden und hat keine Ahnung, was sich zusätzlich in dem Programm versteckt hat. Für so brillant halte ich ihn nicht.«

»Das klingt so verrückt, dass es stimmen könnte. Dann habt Will und du was gemeinsam. Er steht auf Sport und Technik. Ihr solltet beste Freunde werden«, zieht Cam mich auf.

»Ja, unbedingt, dann bin ich dich Nervensäge los, die nie weiß, wovon ich rede«, schieße ich zurück.

Die Stimmung im Raum kippt ohne Vorwarnung. Cam mustert mich neugierig, aber auch abschätzig.

»Liegt dir etwas auf dem Herzen?«

»Also, du und Abbie …«

»Worauf genau willst du hinaus?«, frage ich nach, als er nicht weiterspricht, sondern mich ansieht, als müsste ich selbst auf die Lösung kommen.

»Ich versuche nur herauszufinden, was genau da zwischen euch läuft.«

»Du warst bei der Unterhaltung mit Aspen anwesend. Ich werde mich nicht wiederholen.« Am Abend, nachdem der Name Westing in Zusammenhang mit der Geldwäsche in den Medien aufgetaucht ist, kam Aspen in den Bungalow gestürmt und hat mir die Hölle heißgemacht. Seitdem herrscht Funkstille zwischen uns. Ich nehme es ihr nicht übel, weil ich ganz ähnlich reagiert hätte. Obwohl, nein, hätte ich nicht. Weil ich weniger emotional bin und stattdessen rational handle. Aber in einem hat sie recht: Ich muss das irgendwie in Ordnung bringen. Auch wenn der Verdacht gegen die Westings sich inzwischen nicht bestätigt hat, zieht so was immer Konsequenzen nach sich. Aktuell versuche ich allerdings noch herauszufinden, wie ich den Westings effizient, aber unauffällig unter die Arme greifen kann, um den Schaden einzugrenzen.

»Ja, ich dachte bloß, vielleicht hast du Aspen auch nur das erzählt, was sie hören wollte.«

Ich habe Aspen gesagt, dass ich mich darum kümmern werde. Nicht mehr und nicht weniger. »Erwecke ich den Anschein, mich den Erwartungen anderer anzupassen?«

»Nein, aber …« Er verstummt mitten im Satz.

»Aber was?«, fordere ich Cam auf, seinen Gedanken laut auszusprechen.

»Für mich sah es letzten Dienstag nach mehr aus als Ich-biete-ihr-eine-platonische-Schulter-zum-Anlehnen.«

Da Aspen diesen Teil des Nachmittags bei unserer Unterhaltung nicht angesprochen hat, haben wohl weder Cam noch Abbie ihr davon erzählt. Viel zu erzählen gibt es da auch nicht. Wir haben einen Film angesehen. Wie zwei Menschen, die eine freundschaftliche Beziehung zueinander pflegen.

Okay, vergessen wir das. Cam hat recht. Für platonisch waren wir uns zu nah und meine Fantasien zu unangemessen.

Cameron fixiert mein Gesicht, während er die neuen Informationen in seine Gedanken einfließen lässt und einen weiteren Faden spinnt. Genau deswegen habe ich Abbies Beteiligung an Be My Date bisher für mich behalten. Diese Art von Spekulation sorgt für unnötige Spannungen. Und weil es im Grunde völlig irrelevant ist.

»Oder du rächst dich an ihr, weil sie Will angeheuert und dir damit die Tour vermasselt hat«, mutmaßt er.

»Menschen neigen dazu, Dinge in Situationen hineinzuinterpretieren, um für sich eine logische Erklärung herzuleiten. Genau auf diese Weise entstehen Gerüchte und Verschwörungstheorien.« Abbie ist kein Ziel meiner Rachegelüste. Im Gegenteil, ich bin fast ein bisschen von ihrem Einsatz, Aspen und Cam zu verkuppeln, beeindruckt.

»Kannst du vielleicht ein einziges Mal geradeheraus auf eine Frage antworten?«

Warum ist er plötzlich angepisst? »Du hast keine gestellt.«

»Was?«

»Wenn du Antworten auf Fragen möchtest, solltest du deine Worte dementsprechend formulieren.«

Genervt stößt er die Luft aus und rollt mit den Augen. »Okay, interessierst du dich für Abbie?«

»Wenn du damit meinst, ob ich Interesse daran habe, die Sache geradezubiegen, dann ja. Wenn du damit meinst, ob ich mich an Abbie für einen verpatzten Hack rächen will, dann lautet die Antwort nein.«

»Eigentlich meine ich es genauso, wie ich es gesagt habe. Ich bin vielleicht nicht so clever wie du, aber ich habe Augen im Kopf. Mir ist nicht entgangen, wie du sie ansiehst.«

»Du willst wissen, ob ich beabsichtige, sie flachzulegen.«

»So hätte ich es jetzt nicht gesagt, aber ja.«

»Einen Teil meiner Persönlichkeit reizt die Vorstellung durchaus.« Ich beabsichtige es vielleicht nicht, aber ich kann auch nicht ausschließen, es in einem schwachen Moment zu versuchen. Meine Antwort gefällt Cameron nicht, denn er verzieht das Gesicht. Für ihn geht Sex mit Liebe einher und das wird er mir jeden Augenblick mitteilen. Ich finde, es lässt sich durchaus voneinander trennen.

»Das Letzte, was Abbie im Augenblick gebrauchen kann, ist ein Typ, der mit ihren Gefühlen spielt. Wenn du es nicht ernst meinst, lass die Finger von ihr. Sie ist Aspens Freundin und du bist mein Freund. Dein brillanter Verstand weiß sicher, worauf ich hinauswill.«

Ja, er möchte nicht zwischen die Fronten geraten und ich soll die Hose zulassen. Um das zu verstehen, muss man kein Genie sein.

»Wars das?«, frage ich gedehnt, weil ich es nicht ausstehen kann, wenn mir jemand sagt, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich bin durchaus in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Und ich gehe davon aus, dass Abbie ebenfalls dazu imstande ist. Sollten wir je an diesem Punkt landen.

»Ich hau mich wieder hin. Gute Nacht.« Inzwischen weiß Cam sehr genau, wann für mich eine Unterhaltung beendet ist.

»Gute Nacht«, erwidere ich, bevor er im Flur verschwindet, anschließend drücke ich auf Play , um den Dokumentarfilm weiterzuschauen.

Zwanzig Minuten später läuft der Abspann und ich nehme das Handy vom Couchtisch, um nachzusehen, ob die zweite Spielrunde von Secret Enemy bereits ausgewertet wurde. Ich öffne die App und tippe die kleine Glocke an, die auf dem Display auftaucht. Eine Brieftaube flattert darüber. Sie hat eine Papierrolle im Schnabel, die sich selbstständig ausrollt und eine Nachricht offenbart.

Ich klicke die Nachricht weg und scrolle mich durch die Galerie. Die Fotos und Videos sind mit den Nicknames der Teilnehmenden versehen. Das verleiht dem Ganzen den Anschein von Anonymität. Wäre da nicht die Tatsache, dass nahezu alle zum Erfüllen der Aufgaben ihr Gesicht in die Kamera halten mussten. Es war ein Leichtes herauszufinden, wer sich hinter welchem Spieleraccount verbirgt.

Ich tippe das Bild von mir und Abbie an, damit es sich vergrößert. Sie wirkt amüsiert, ich genervt. Erdnussflips. Kopfschüttelnd scrolle ich weiter. Beim nächsten Foto sieht das schon anders aus. Weder amüsiert noch genervt. Leidenschaftlich. In dem Augenblick, als meine Lippen auf ihre trafen, habe ich geahnt, dass die Distanz, die ich wahren wollte, hinfällig ist. Weil der Teufel von der Sünde angezogen wird. Und genau das ist Abbie. Vergessen wir den Teil, in dem ich meinte, es bräuchte einen schwachen Moment, um meine Chancen auszuloten. Ein Kuss hat ausgereicht, um diesen Teil von mir aus seinem Dämmerschlaf zu holen. Das macht mich nicht nur zu einem Heuchler, sondern obendrein auch noch zu einem Arschloch.

Ich schließe die Fotogalerie wieder. Secret Enemy. Wer denkt sich so einen Blödsinn überhaupt aus?

Die fünf Säulen des Colleges, die auf die Gründerfamilien zurückzuführen sind. Genannt: Die Elite der zukünftigen Welt . Eine totgeglaubte Gruppe aus ehemaligen Studierenden des Waterbury College, die offiziell Ende der Achtziger aufgelöst wurde. Augenscheinlich langweilen sich die alten Männer und führen das Spiel in einer abgeschwächten Form fort, bis sie die Spielleitung an die nächste Generation weiterreichen. Aktuell hat sie Robert Hill inne. Was erklärt, dass Secret Enemy inzwischen in einer App steckt. Immerhin gehört Aspens Dad eines der erfolgreichsten Softwareunternehmen auf diesem Planeten. Ich gebe zu Die Elite der zukünftigen Welt hat die Spuren ihrer Existenz gut verwischt. Aber sie hätte bei Papier bleiben sollen, das verteilt keine digitalen Brotkrumen.

Noah hat mir bei einem unserer Telefonate von Secret Enemy erzählt. Allerdings klang es in seiner Erzählung nach so viel mehr. Um ehrlich zu sein, enttäuscht mich die Auflösung. Über die Jahre hat das Spiel eindeutig seinen ursprünglichen Charakter verloren. Ich habe hinter dem Spiel mehr als eine Spaßveranstaltung erwartet. Ein Blick in die Fotogalerie beweist, wie albern der ganze Mist ist.

Ich schließe die App und sehe auf die Uhr. Noch sieben Minuten bis Mitternacht. Strategisch betrachtet ist es unklug, die Neugier gewinnen zu lassen und einen Blick auf die Aufgabe zu werfen. Allerdings gehe ich davon aus, dass die meisten genau das tun werden. Der Mensch ist von Natur aus ungeduldig. Geben die Mitspielenden dem Drang nach, verkürzt sich ihre Zeit für die Erfüllung der Aufgabe zwangsläufig. Die nächste Runde ohne Aufwand zu erreichen, scheint mir unwahrscheinlich. Der Schwierigkeitsgrad ist ansteigend, dafür sorgen allein schon die sogenannten Enemys. Es bedarf vermutlich mehr als eines Selfies, auf dem man sich Erdnussflips in die Nase steckt, oder ein paar Löcher auf dem Golfplatz, die man mit Sand füllt.

Eine Textnachricht ploppt im Vorschaufenster auf.

Dass sie den Kontakt zu mir sucht, sollte mir kein Lächeln ins Gesicht zaubern. Damit reicht sie dem Teufel die Hand, die er ergreift, weil er sich von ihr Absolution erhofft.

Verdiene ich die? Gewiss nicht. Und genau deswegen sollte ich die Reißleine ziehen und uns einander nicht noch näherbringen. Aber der Teufel ist ein egoistischer Bastard, der sich holt, was ihm beliebt. Und im Augenblick ist das die Vergebung dieser Frau. Weil er will, dass sie noch etwas anderes als den Mistkerl in ihm sieht, der ihr Leben mit wenigen Klicks aus den Angeln gehoben hat.

Ich: Wirst du versuchen es zu verhindern?

Ich: Viel Erfolg.

Um nicht noch tiefer in die Sache hineinzuschlittern, als ich ohnehin schon drinstecke, lege ich das Handy zurück auf den Couchtisch. Ich ignoriere den Impuls, unsere Unterhaltung zu vertiefen, indem ich sie frage, warum sie meine Nachricht von Freitag ignoriert hat, wie es ihr geht oder was sie seit unserer letzten Begegnung getrieben hat. Ob sie klarkommt oder es einen weiteren Dirty-Dancing-Moment braucht, um das Grau in Schach zu halten. Ob sie Hilfe beim Erschaffen von farbigen Momenten benötigt. Würde sie mich darum bitten, würde ich keine Sekunde zögern.

Okay, ich habe ein viel größeres Problem. Denn ich will eindeutig mehr, als etwas geradezubiegen, ihre Vergebung oder sie flachzulegen. Wie genau dieses Meh r sich im Detail definiert, werde ich noch herausfinden müssen, denn das Bild ist aktuell sehr verpixelt.

Bevor ich mich vollends in meinen Gedanken verliere oder doch wieder zum Handy greife, starte ich den erstbesten Film, der mir von Cams Netflix-Account vorgeschlagen wird, strecke mich auf dem Sofa aus und sehe so lange auf den Bildschirm, bis mir die Augen zufallen.