18.

JASPER

Es ist kurz nach neun. In der vergangenen Stunde habe ich immer wieder auf die Uhr gesehen und mich gefragt, ob Abbie in der Lage ist, die Aufgabe durchzuziehen. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass sie es nicht ist. Sie wird nicht in das Hallenbad marschieren und einen Karton voller Quietscheenten ins Wasser kippen. Eigentlich kann es mir auch egal sein, ob sie scheitert. Nein, es sollte mir egal sein. Ist es aber nicht. Weil sie vorhin einen winzigen Augenblick lang ihre Selbstkontrolle verloren hat und mir ihre Verletzlichkeit ungefiltert entgegenschlug. Damit hat sie bei mir eindeutig einen empfindlichen Nerv getroffen.

Du kannst nicht jeden retten, das weißt du, oder? , hat Noah zu mir gesagt.

Ja, aber versuchen werde ich es dennoch , habe ich ihm geantwortet und nur wenige Monate später versagt. Vermutlich habe ich nur deswegen Cameron unter die Arme gegriffen. Als eine Art Wiedergutmachung. Allerdings hatte es nicht den gewünschten Effekt. Der Parasit, der sich Schuld nennt, sitzt nach wie vor in meinem Verstand und macht sich in den unpassendsten Momenten bemerkbar. So wie vorhin bei Abbie.

Sie hat mir eine einfache Frage gestellt und ich habe die Schotten dicht gemacht. Nichts an meinem Verhalten hatte etwas mit ihr zu tun, aber sie glaubt das. Als wir im Auto saßen und sie mich angesehen hat, stand es ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben. Und für einen Moment habe ich darüber nachgedacht, es ihr zu erklären. Dass es Momente gibt, in denen ich einfach nur darauf warte, dass der Sturm vorüberzieht, der in meinem Inneren tobt, und hoffe, dass die Verwüstung, die er hinterlässt, erträglich ist.

Aber wie genau hätte ich ihr das verdeutlichen sollen, ohne mit Details herauszurücken, was die Ursache dafür ist? Nämlich dass in meinem Verstand neuerdings ein Kampf zwischen dem stattfindet, der ich einmal war, und dem, der ich geworden bin. Und ich habe keine Ahnung, wer am Ende gewinnen wird. Ob es überhaupt einen Sieger geben wird.

Cam hat mit seinem Auftauchen einiges durcheinandergebracht, das ich zwanghaft ausgelebt habe. Zwischenmenschliche Kontakte oberflächlich zu halten, hatte ich perfektioniert. Jedenfalls habe ich das angenommen. Perfektion ist eine Illusion. So viel weiß ich inzwischen. Denn hätte ich es derart beherrscht, würde mir diese Art von Überheblichkeit nicht jeden Tag ein bisschen mehr um die Ohren fliegen.

»Jasper, bist du da?«, höre ich Cams Stimme aus dem Flur.

»In der Küche«, antworte ich. Keine Minute später kommt er mit zwei Einkaufstüten gefolgt von Aspen durch die Tür.

»Hier, mach dich nützlich und pack die aus.« Er drückt mir eine der Tüten in die Hand.

»Wie war euer Ausflug?«, frage ich und beginne die Lebensmittel wegzuräumen.

»Großartig. Wir haben uns eine alte Kupfermine angesehen. Anschließend waren wir einkaufen und haben in einem schäbigen Diner zu Abend gegessen«, antwortet Aspen.

»Klingt aufregend.«

»Nicht so aufregend, wie Quietscheenten zu jagen«, erwidert Aspen und mustert mich argwöhnisch, weil unser Verhältnis einen Knacks erlitten hat. Natürlich hat Abbie ihr davon berichtet, weil sie keine Ahnung hat, dass es Spannungen zwischen ihrer Freundin und mir gibt.

»Hatte schon spannendere Abenteuer«, entgegne ich mit einem Schulterzucken.

»Will ich wissen, warum du Abbie bei der Beschaffung von Plastikenten geholfen hast?«, fragt Cam verwirrt.

»Weil ich ein hilfsbereiter Mensch bin.«

»Und deswegen hast du sie auch geküsst?«

Mich wundert es, dass Aspen mich nicht längst darauf angesprochen hat. Zum Beispiel, als sie mir unmissverständlich klargemacht hat, dass ich die Sache in Ordnung bringen soll. Wahrscheinlich hat sie auf den richtigen Moment gewartet. Warum sie genau diesen hier dazu auserkoren hat, erschließt sich mir noch nicht ganz. In der Regel verfolgt sie ein Ziel, das ich ziemlich schnell durchschaue. Aber sie hat in den vergangenen Wochen dazugelernt und macht es mir immer schwerer. Sie hat Spaß an dieser Art von Kräftemessen. Etwas, das wir gemeinsam haben, was ich im Augenblick allerdings als anstrengend und unangemessen empfinde. Abbie sollte nicht der Mittelpunkt dieses Spiels zwischen uns sein.

»Genau«, beantworte ich ihre Frage und blicke sie ermahnend an, damit sie mich nicht provoziert.

»Du hast Abbie geküsst?« Verwundert sieht Cam mich an, bevor seine Miene ernst wird. Ich weiß, was er gerade denkt. Der Zeitpunkt des Kusses liegt weit vor unserem Gespräch.

»Nicht aus romantischem Interesse. Sie wollte eine Aufgabe von Secret Enemy abschließen und ich habe mich zur Verfügung gestellt. Nicht mehr und nicht weniger.«

Der Ausdruck in seinem Gesicht wird weicher, als er versteht, worum es in Aspens Andeutung geht. »Aspen hat mir vorhin von dem Spiel erzählt. Ich bin wirklich froh, dass du mich nicht zu dem Blödsinn verdonnert hast. Be My Date war schon daneben, aber das ist absoluter Schwachsinn.«

»Da kann ich dir nur zustimmen.«

»Du nimmst ebenfalls daran teil«, wirft Aspen ein.

»Echt, warum?«, hakt Cameron nach.

Und da ist er, der misstrauische Blick. Genau wie die unausgesprochenen Fragen. Verfolgst du ein Ziel? Bist du deswegen hier? Ist Secret Enemy Teil deines Plans? Um diese Situation zu umgehen, habe ich Cam nichts von meiner Teilnahme erzählt.

»Ich gewinne gerne.« Ich sehe erst zu Cam, dann zu Aspen, die auf einem der Barhocker sitzt und mich eindringlich mustert.

»Hat deine Freundin ihre heutige Aufgabe gemeistert?«, lenke ich unsere Unterhaltung zurück zu Abbie.

»Sie ist gerade auf dem Weg zum Hallenbad.«

Erneut sehe ich auf die Uhr. Die Freizeiteinrichtungen schließen Punkt zehn. Das ist in achtunddreißig Minuten. Ich hoffe wirklich, dass sie nicht auf die Idee kommt, eine Scheibe einzuschlagen. Die Security würde sie einkassieren, bevor sie überhaupt in die Nähe des Schwimmbeckens gelangt.

»Wir wollten uns noch einen Film ansehen. Bist du dabei?«, fragt Cam und holt eine Packung Mikrowellenpopcorn aus der Einkaufstüte. Das ist sein Versuch, die Wogen zu glätten.

»Nein, ich habe andere Pläne«, lehne ich ab.

»Die da wären?«, will Aspen wissen. Ich hasse es, dass sie mir nicht mehr vertraut. Ein weiterer Fehler und unsere Beziehung erleidet endgültig Schiffbruch. Auch das sollte mir egal sein, weil ich nicht mit dem Ziel nach Waterbury gekommen bin, Freundschaften zu knüpfen. Aber in dem Punkt habe ich in dem Moment versagt, als ich mich in die Angelegenheiten zwischen Aspen und Cam eingemischt habe.

»Man sieht sich«, ignoriere ich Aspens Frage, nehme einen Apfel aus der Obstschale und verlasse die Küche.

»Viel Erfolg!«, höre ich sie noch rufen, bevor ich in meinem Schlafzimmer verschwinde.

Mit Frankenstein mache ich es mir auf dem Bett bequem, kann mich aber nicht aufs Lesen konzentrieren. Stattdessen spielt mein Verstand sämtliche Szenarien durch, die sich gerade beim Hallenbad abspielen könnten. Ich warte regelrecht darauf, dass der Alarm ausgelöst wird. Verdammt!

Ich strecke mich in Richtung Nachtschrank und schnappe mir das Handy. Fünf vor zehn. Dann wähle ich Abbies Nummer. Sie geht nicht ran. Großartig! Wenn die Sache schiefgeht, macht mir Aspen die Hölle heiß, weil ich ihrer Freundin dabei geholfen habe, die Plastikenten zu beschaffen. Auch wenn Abbie die Entscheidung, es durchzuziehen, ganz ohne mein Zutun getroffen hat. Aspen sähe das anders. Ihre Logik erschließt sich mir selten. Auf einen weiteren Zwist zwischen uns würde ich dennoch gerne verzichten. Ich bin kein Fan von Drama. Mir bleiben also genau zwei Möglichkeiten: Ich halte Abbie von dem Blödsinn ab oder ich helfe ihr dabei und stelle sicher, dass es nicht schiefgeht.

Die finale Entscheidung steht noch aus, als ich vom Bett aufstehe und in den Flur schleiche. Aus dem Wohnzimmer ist der Fernseher zu hören. Ich sehe an mir herab. Einen Augenblick ziehe ich es in Erwägung, die Trainingshose gegen etwas Anständiges zu tauschen, aber das würde mich wertvolle Minuten kosten. Stattdessen greife ich nach Cams schwarzem Hoodie, der auf dem Schuhschrank liegt, und ziehe ihn über.

Mein Blick bleibt an meinem Spiegelbild hängen. Es war klar, dass es darauf hinausläuft, oder?

Keine Antwort. Ich habe auch keine erwartet. Aber der Kerl, der mir entgegenblickt, sieht müde aus. Müde von dem Mist, der sein Leben bestimmt. Müde von der ständigen Uneinigkeit in seinem Inneren.

Ich schlüpfe in meine Laufschuhe, dann schließe ich leise die Tür hinter mir. Eine zweite Laufeinheit stand für heute nicht auf dem Plan, aber jemand, der über den Campus joggt, erregt eindeutig weniger Aufmerksamkeit als eine dunkel gekleidete Person, die in der Gegend herumschleicht. Zwei Minuten später klettere ich über die Mauer bei den Laboren, die das Bungalowviertel vom eigentlichen Campus abgrenzt. Am Hauptgebäude quetsche ich mich durch die Hecke, hinter der der Verwaltungskomplex liegt. Im Laufschritt haste ich quer über die Rasenfläche, schlüpfe durch eine weitere Hecke, renne am Theater vorbei und biege rechts ab.

Als das Hallenbad vor mir auftaucht, drossele ich das Tempo und halte nach Abbie Ausschau. Ich sehe nach, wie spät es ist. Knapp zehn Minuten habe ich gebraucht. Die Eingangstür öffnet sich, das automatische Licht schaltet sich ein und eine kleine Gruppe, die sich lautstark unterhält, tritt ins Freie. Ich mache einen Satz nach links und verstecke mich hinter einem der Buchsbäume. Ein groß gewachsener Kerl schließt die Tür ab. Es dauert eine Weile, bevor sie sich verabschieden und in unterschiedliche Richtungen verschwinden.

Wenig später kommt eine Gestalt mit einem Rucksack und einer Tasche in der Hand den Kopfsteinpflasterweg entlang und läuft geradewegs auf den Eingang des Hallenbads zu. Abbie. Ich trete aus meinem Versteck, überbrücke die Distanz, packe ihren Arm und ziehe sie zur Seite. Vor Schreck schreit sie auf. Im nächsten Augenblick lässt sie die Tasche fallen und versucht sich von mir loszureißen. Instinktiv lege ich ihr eine Hand auf den Mund und schlinge den anderen Arm um ihren Körper, presse sie an mich, um sie vom Zappeln abzuhalten.

»Abbie, ich bin es, Jasper«, sage ich leise. »Wenn du versprichst nicht zu schreien, lasse ich dich los.«

Als sie nickt, gebe ich sie frei. Sie dreht sich zu mir herum und boxt mir gegen den Oberarm.

»Bist du verrückt, mich so zu erschrecken«, zischt sie.

»Was hattest du vor, das Schloss knacken?«

»Vielleicht.«

»Nur aus Neugier, wie wolltest du das anstellen?«

Sie fasst sich an den Hinterkopf und zieht etwas hervor. »Ich habe das hier?«

Da es viel zu dunkel ist, um zu erkennen, was sie in ihrer Hand hält, würde ich auf eine Haarklemme tippen.

»Nette Idee. Hast du das schon mal gemacht?«, frage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Das Knacken von Schlössern steht gewiss nicht auf der Tagesordnung einer Abbie Westing. Und mit einer Haarklemme kommt sie auch nicht weit. Sie bräuchte zwei, aber selbst damit würde sie nicht mal eben das Sicherheitsschloss überlisten. Ich habe Wochen gebraucht, bis ich den Dreh raushatte.

»Wie schwer kann das schon sein? In Filmen bekommen sie das schließlich auch hin.«

Ich verkneife mir ein Lachen.

»Angenommen, du verfügst über Anfängerglück. Was ist mit dem Alarm, den du auslöst, sobald die Tür aufspringt?«

»Alarm?« Ein Anflug von Panik schwingt in ihrer Stimme mit.

»Ja, die Eingangstür ist gesichert. Deiner Reaktion entnehme ich, du hast nicht die Verbindung zur Alarmanlage gekappt.«

»Natürlich habe ich das nicht, bis vor fünf Sekunden wusste ich nicht einmal, dass das Hallenbad eine hat. Woher weißt du das überhaupt?«

»Siehst du das kleine rote Licht oben rechts? Das ist der Alarm, der nur darauf wartet, dass du dir Zutritt verschaffst.«

»Verrätst du mir, was du hier machst?«, will sie wissen, weil ihr gerade bewusst wird, dass ich hier nichts zu suchen habe, außer ich habe auf sie gewartet.

»Ich war joggen.«

»Und da bist du zufällig in dem Augenblick hier vorbeigekommen, als ich ins Hallenbad einsteigen will?«

»Ja, so ähnlich. Also, wie sieht dein Plan aus?«

»Keine Ahnung, du hast gerade mein Vorhaben gesprengt.«

Ich tippe auf das Display der Smartwatch. »Dir bleiben etwas mehr als eineinhalb Stunden für einen alternativen Plan.«

»Da du anscheinend den Durchblick hast, wie würdest du es anstellen?«

Es ist ihr herausfordernder Ton, der mich spontan antworten lässt. »Ich würde durch den Lagerraum rein.« Unterschätzt man mich, springe ich grundsätzlich darauf an, um das Gegenteil zu beweisen.

»Ach ja, und wie genau würdest du das bewerkstelligen?«

»Der Reinigungsdienst lässt über Nacht das Fenster offen. Dort gibt es keinen Alarm, sonst würde er anspringen, wenn es nicht verschlossen ist.«

»Und das weißt du, weil?« Auch wenn ich sie nur schemenhaft vor mir sehe, erahne ich ihren skeptischen Gesichtsausdruck.

»Ich sagte doch, ich verschaffe mir gerne einen Überblick über die Gegebenheiten der Gegend, in der ich mich aufhalte.«

»Wie schnell kannst du dir bitte einen Überblick verschaffen? Du bist gerade mal …« Sie macht eine kurze Pause, bis sie eins und eins zusammenzählt. »Warte, du bist im vergangenen Semester bereits über den Campus geschlichen«, schlussfolgert sie.

»Hin und wieder«, gebe ich zu. Mit der Information kann sie nichts anfangen, solange sie die Zusammenhänge nicht kennt.

»Und warum?«

»Neugier.«

»Wirst du mir verraten, warum Cameron für dich die Schulbank gedrückt hat, wenn ich dich danach frage?«

»Ich will dich wirklich nicht zur Eile antreiben, jetzt da wir hier gerade so nett plaudern, aber dir rennt die Zeit davon, falls du nicht vorhast die Sache abzublasen.«

»Wo finde ich den Lagerraum?«, fragt sie und hakt wegen der Sache mit Cam nicht weiter nach.

»An der Rückseite des Gebäudes.«

»Gut, dann schauen wir mal, ob in mir Kim Possible steckt.« Im selben Moment setzt sie einen Fuß auf den schwach beleuchteten Kopfsteinpflasterweg, von dem ich sie vor wenigen Minuten gefischt habe, bevor sie jemand entdecken konnte. Sie hebt die Tasche auf und macht erneut einen Schritt. Wenn sie so weitermacht, kommt sie nicht einmal in die Nähe eines Eingangs, bevor ihre Zeit abläuft.

Wiederholt greife ich nach ihrem Arm und ziehe sie zurück. »Hier entlang«, sage ich, nehme ihr die Tasche ab und gehe voran, ohne sie loszulassen. Um zur Rückseite zu gelangen, müssen wir die Außenanlage des Schwimmbads umrunden. Fünfzehn Minuten später haben wir das Ziel erreicht.

»Sag bloß, wir müssen über den Holzzaun klettern?«

»Ja, genau das wirst du tun. An der Hauswand befindet sich eine einzige Tür. Die führt in den Lagerraum. Rechts daneben ist das Fenster.«

»Warte, du kommst nicht mit?«

»Das Spiel ist keine Gruppenarbeit, Abbie.« Ich werfe die Reisetasche über den Zaun.

»Natürlich.« Sie nimmt den Rucksack ab und befördert ihn mit ordentlich Schwung ebenfalls über den Zaun. Dann macht sie einen Strecksprung, greift nach der Zaunkante, zieht sich problemlos hoch und klettert darüber. Kurz darauf höre ich, wie sie auf der anderen Seite auf dem Boden und vermutlich auf ihrem Hintern landet.

»Alles okay, Kim Possible?«

»Ja, alles bestens, Ron Stoppable.«

»Wer ist Ron?«

»Der Typ, der sich in die Hose macht, während Kim sich durch ein Fenster quetscht.«

Sie hat ja keine Ahnung.

»Wünsch mir Glück.«

Bevor ich antworten kann, höre ich sie davoneilen.

»Fuck!«, fluche ich leise, dann klettere ich ebenfalls über den Zaun und renne ihr hinterher.

»So viel zu dem offenen Fenster«, flüstert sie, als ich neben ihr zum Stehen komme. Dass ich ihr gefolgt bin, scheint sie weniger zu überraschen.

»Wir werden wohl improvisieren müssen«, sage ich, als ich das angekippte Fenster entdecke. Für gewöhnlich steht es weit offen, aber meine Streifzüge über das Gelände sind ein paar Monate her und die Temperaturen waren damals milder.

»Gib mir die Kordel deiner Trainingshose.«

»Was?«

»Aspen hat sich früher regelmäßig ausgesperrt. Das Fenster bekomme ich im Handumdrehen auf.«

»Na, jetzt bin ich neugierig.« Ich fummle besagte Kordel aus dem Hosenbund.

Abbie macht einen Schlaufenknoten und überprüft, ob er sich zusammenzieht.

»Eine Frage: Was hast du geglaubt, wie ich an das Fenster komme?«, will sie wissen und sieht an der Fassade empor, die von in den Boden eingelassenen Lampen angestrahlt wird. Sie spenden gerade genügend Licht, dass wir einander sehen können und alles andere um uns herum in der Dunkelheit verschwimmt.

»Ich hatte nicht einberechnet, wie winzig du bist«, gestehe ich. Abbie reicht mir gerade so bis zur Schulter und ist höchstens ein Meter sechzig groß. Das Fenster befindet sich schätzungsweise auf einer Höhe von zwei Meter fünfzig.

»Kannst du mich auf die Schultern nehmen? Vielleicht komme ich dann ran.« Sie lässt den Rucksack fallen, stellt sich unter das Fenster und sieht mich abwartend an.

Mit einem Kopfschütteln stelle ich mich vor sie. Wie genau bin ich hier hineingeraten?

Mit beiden Händen packe ich sie an der Taille und ziehe sie näher an mich heran. Unsere Blicke treffen sich, halten einander fest. Wie so oft wandern meine Gedanken in eine ganz andere Richtung. Immer wenn ich sie ansehe, erinnern sich meine Lippen daran, wie sich ihre anfühlen.

Ich räuspere mich leise, um mich selbst zu ermahnen, bei der Sache zu bleiben. Dann drehe ich sie um, hebe sie hoch und platziere sie auf meinen Schultern.

»Kommst du ran?«

»Nein, es fehlen noch ein paar Zentimeter.«

Ich umfasse ihre Knöchel, als sie die Oberschenkel anspannt und sich streckt, bis sie nicht mehr auf meinen Schultern sitzt. Abbie beugt sich vor, ihre Mitte drückt gegen meinen Hinterkopf. Wenn ich jetzt eine Neunzig-Grad-Drehung hinlege, während sie in der Position verharrt …

Fuck! Solche Hirngespinste sind nicht hilfreich.

»Okay, jetzt komme ich ran.«

Ich lege den Kopf so weit wie möglich in den Nacken, kann aber kaum was sehen, weil Abbies Winterjacke mir die Sicht verdeckt. Da ich nichts anderes tun kann, als abzuwarten, beginne ich die Sekunden zu zählen. Ich komme bis zweihundertsiebzehn. Für einen Augenblick löse ich die linke Hand und tippe mit der Nasenspitze auf das Display meiner Smartwatch.

»Was veranstaltest du da oben?«

»Es ist ein wenig kniffelig. Ich muss die Schlaufe über den Fenstergriff bekommen.«

»Und dann?«

»Führe ich das Band auf die andere Seite, schließe das Fenster und ziehe den Strick nach unten.«

»Und du bist dir sicher, das funktioniert?« Im Moment bin ich skeptisch, dass ihr Plan von Erfolg gekrönt sein wird.

»Wenn du nicht so zappeln würdest, hätte ich es schon.«

»Ach, jetzt ist es meine Schuld?«, necke ich sie, auch wenn das ein durchaus ungünstiger Moment ist. Aber diese Situation ist mehr als absurd. Außerdem muss ich mich ablenken, weil die körperliche Nähe mich auf wirklich dumme Ideen bringt. Auf Gedanken, die ich mir unbedingt aus dem Kopf schlagen wollte. Inzwischen glaube ich, Abbie wird mir in dem Punkt keine Wahl lassen. Das wirklich Beschissene an der Sache ist, dass ich in ihren Augen sehe, dass wir in Sachen unanständige Gedanken einer Meinung sind.

»Nein, ich bin dir sehr dankbar, dass du mir hilfst, aber du musst still halten.«

»Genau deswegen bist du Kim und ich Robert«, ziehe ich sie auf. Ich nehme mir vor, Kim Possible und Ron Stoppable später zu googeln. Offenbar weise ich dahingehend eine massive Bildungslücke auf.

»Ron!«

»Ist er Kims Sidekick?«

»Kannst du bitte für einen Moment den Mund halten? Ich muss mich hier konzentrieren.« Abbie klingt, als würde sie mich zum Nachsitzen verdonnern, sollte ich sie weiterhin stören. Ein wirklich verlockender Gedanke.

»Natürlich.« Ich hätte das Fenster längst offen. Die Sekunden vergehen quälend langsam und ich bin kurz davor, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

»Jasper!«, stößt sie barsch aus.

»Was?«, frage ich unschuldig.

»Du summst The Final Countdown

Ich stehe auf den herrischen Ton. Ehrlich, das macht mich an.

»Tue ich?« Ich verkneife mir ein Lachen.

»Ich habs.«

»Halleluja.«

»Ich klettere jetzt rein«, warnt sie mich vor. Sie verlagert ihr Gewicht, stellt sich auf meine Schultern und steigt durch das offene Fenster. »Gib mir die Tasche und den Rucksack.«

Mein Blick wandert zu Abbie hinauf, die mit ausgestreckten Armen darauf wartet, dass ich ihrer Aufforderung nachkomme. Ich greife nach der Tasche und reiche sie ihr, den Rucksack ebenfalls. Sobald Abbie den Weg ins Innere frei macht, nehme ich zwei Schritte Anlauf und springe. Mit dem linken Fuß stoße ich mich von der Hauswand nach oben ab. Gerade so bekomme ich das schmale Fensterbrett zu fassen und quetsche mich im nächsten Moment durch die Öffnung.

Grinsend sieht sie mich an, als ich neben ihr auf den Füßen lande. »Das hast du nicht erwartet.«

»Du steckst voller Überraschungen, Kim Possible«, erwidere ich und grinse zurück. »Also los, bevor die Zeit abläuft.«

Gemeinsam hasten wir durch das Gebäude und stehen nur wenig später am Schwimmbecken. Abbie öffnet den Rucksack und kippt die kleinen Plastikenten hinein, während ich die Reisetasche leere. Die bunten Figuren breiten sich auf der Wasseroberfläche aus und treiben in alle Richtungen davon. »Das ist wunderschön«, sagt sie beinahe ehrfürchtig.

»Es sind Plastikenten«, erwidere ich nüchtern.

»Nein, es ist ein farbiger Moment.«

Ein seltsames Gefühl macht sich in meiner Brust breit. Es ist absurd, aber dass sie sich das gemerkt hat, macht etwas mit mir. Und ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt oder Angst macht.

Aus dem Augenwinkel sehe ich zu Abbie und weiß in dem Moment, dass ich endgültig verloren habe, als sie sich mir zuwendet und mich so aufrichtig anlächelt, dass mein Herz gehörig aus dem Takt gerät. Das war nicht der Plan.

»Ja, du hast einen farbigen Moment geschaffen«, stimme ich ihr zu. Sie hat nicht den Hauch einer Ahnung, dass sie gerade dabei ist, die grauen Stellen in mir zu kolorieren.

Abbie holt ihr Handy aus der Jacke, schießt ein Foto und lädt es in der App hoch. Dann sieht sie auf die Uhr. »Geschafft«, quiekt sie.

Was als Nächstes passiert, habe ich nicht kommen sehen – Abbie springt mir in die Arme. Rein instinktiv fasse ich ihr unter den Po, damit sie Halt findet, während sie ihre Beine um meine Taille schlingt. Das ändert aber nichts daran, dass ich sie an mich drücke und nicht zurückweiche, als sie mich auf die Wange küsst. Länger, als es der Moment verlangt, verharren wir in dieser innigen Position und sehen einander an. Plötzlich kann ich nur noch daran denken, wie unbedingt ich sie küssen will. Und zwar wahrhaftig. Ohne ein Spiel als Ausrede. Aber ich würde es nicht bei einem Kuss belassen, sollte sie es gestatten. Weil es nicht ausreicht. Weil ich mehr als das will. Sie zu küssen, wäre nur der Anfang.

In ihren Augen taucht ein Funkeln auf, nachdem mein Blick wieder einmal ihre Lippen fixiert. Ein Funkeln, das sagt: Warum tust du es nicht einfach?

Ich setze sie ab und bringe Abstand zwischen uns. Der einzige Grund, warum ich es nicht tue, ist, dass ich vorher ein paar Dinge regeln muss und ein Gespräch angebracht wäre, damit Abbie weiß, auf wen sie sich da einlassen will. Das Hallenbad bietet dafür nicht den passenden Rahmen.

»Okay, nichts wie raus hier.«

Ich trete bereits den Rückzug an, als Abbie »Warte« sagt. »Wie viele Enten haben wir in den Läden gekauft?«

»Warum?«

»Im ersten waren es einunddreißig, im zweiten siebenundvierzig und im dritten einundzwanzig. Und im Supermarkt?«

»Fünfzehn, warum?«

»Das sind drei zu viel«, merkt sie an.

»Ich denke, niemand wird kommen und sie nachzählen«, versichere ich ihr.

»Und wenn doch? Dann war alles umsonst, weil die Aufgabe nicht als erfüllt gilt.«

»Was willst du tun, sie wieder rausfischen?«

»Genau.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

Doch, das ist es, denn sie schält sich bereits aus ihrer Jacke und wirft sie zusammen mit ihrer Wollmütze beiseite. Als Nächstes schlüpft sie aus ihren Schuhen.

»Abbie!«

»Ich war hier noch nie schwimmen, dabei sieht es ganz nett aus.«

Was zur Hölle redet sie da?

Als Abbie den Pulli über ihren Kopf zieht und ein dunkler BH zum Vorschein kommt, drehe ich mich um.

»Bitte sag, dass du nicht noch eine Runde schwimmen willst!?«

»Und wenn doch? Leistest du mir dann Gesellschaft?«

»Nein.« Es raschelt hinter mir. »Abbie, hör auf mit dem Quatsch. Lass uns einfach verschwinden.«

Ein Platschen hallt durch das Hallenbad. Natürlich macht sie das Gegenteil von dem, worum ich sie gebeten habe, und ich weiß genau, warum sie es tut. Sie muss das Adrenalin loswerden. Ich kenne das Gefühl. Diesen Nervenkitzel und den Fall, der folgt, sobald der Rausch verebbt.

Bevor ich mich zu ihr umdrehe, atme ich einmal tief durch. »Kannst du dir einfach drei Enten schnappen und schleunigst aus dem Becken klettern?«

Nur in ihrer Unterwäsche treibt sie auf dem Rücken zwischen den bunten Quietscheenten. Das Bild werde ich wohl nie wieder aus meinem Kopf bekommen.

»Bist du immer so eine Spaßbremse?«, provoziert sie mich und lacht. Gerade würde ich sie nur zu gern an meiner Definition von Spaß teilhaben lassen. Denn der würde darin bestehen, sie übers –

Fuck!

»Ja«, antworte ich knapp, trete an den Beckenrand und beobachte Abbie dabei, wie sie sich eine Ente schnappt, die sie anschließend in meine Richtung wirft. Ich fange sie auf und stecke sie in die Bauchtasche des Hoodies. Es folgen zwei weitere. Dann schwimmt sie auf mich zu. Abbie verschränkt die Arme auf dem Beckenrand und sieht zu mir auf. Ganz automatisch fällt mein Blick auf ihre Brüste, die in dunkle Spitze gehüllt sind.

»Sicher, dass du nicht mit reinkommen willst?« Ihr Ton hat etwas Verheißungsvolles und knipst automatisch den Teil in mir an, den ich versuche unter Kontrolle zu behalten.

»Ja.« Nein, denn ich ziehe es wirklich in Betracht, mir die Kleider vom Leib zu reißen und zu ihr in den Pool zu springen. Aber wir würden nicht friedlich planschen.

»Und wenn ich Bitte sage?«

Die Art von Provokation hilft mir nicht dabei, stark zu bleiben. Warum habe ich ihr gesagt, dass sie mich nur darum bitten muss, um bei mir ans Ziel zu kommen? Ich sollte es nicht tun, dennoch gehe ich vor ihr in die Knie und suche ihren Blick. Versinke viel zu tief darin, als dass es bedeutungslos wäre. Und dann mache ich den Fehler und lasse mich auf ihre Neckerei ein.

»Wie genau würde es denn aussehen, wenn du mich um etwas bittest?«, fordere ich sie heraus.

Sie stützt sich auf dem Beckenrand ab und kommt mir damit noch näher. Mein Puls legt schlagartig an Tempo zu, weil ich in ihrem Blick ablesen kann, was ihr vorschwebt.

Ist das eine bescheuerte Idee? Ja. Trotzdem beuge ich mich ihr entgegen, weil der alte Jasper noch in mir steckt und eindeutig eine Schwäche für Abbie Westing entwickelt hat. Die neue Version von mir interessiert sich eher für ihren halb nackten Körper und was man damit alles anstellen kann. Eine denkbar ungünstige Kombination, denn für gewöhnlich sind sich diese beiden Teile meines Bewusstseins uneinig. Aber ausgerechnet in diesem Punkt kommen sie sich heute nicht in die Quere.

Wenige Millimeter bevor meine Lippen ihre berühren, halte ich inne. Nein . Keinesfalls werde ich ihren Adrenalinrausch ausnutzen, nur weil ich sie unbedingt vögeln will und sich mir gerade die Gelegenheit bietet.

»Netter Versuch«, sage ich sanft, greife unter ihre Arme und hebe sie aus dem Becken. Sobald sie auf ihren Füßen steht, trete ich von ihr zurück, lasse aber meinen Blick langsam über sie gleiten. Ich ignoriere das Bedürfnis, zurückzurudern und dem Verlangen nachzugeben, das bei ihrem Anblick wie eine Flutwelle über mir hereinbricht und mich unter sich begräbt.

»Zieh dich an, damit wir von hier verschwinden können.« Entschlossen wende ich mich von ihr ab, weil ich mir in diesem Augenblick selbst nicht über den Weg traue, sollte ich sie noch länger ansehen.