20.

JASPER

»Worüber denkst du nach?«

»Wie bitte?«

»Du wirkst schon die ganze Woche abwesend.«

Ich sehe zu Cameron, der gerade das dreckige Geschirr in die Spülmaschine einräumt, während ich auf dem Sofa sitze. Die Lektüre, die ich vor siebenunddreißig Minuten aus dem Bücherstapel neben dem Bett gezogen habe, liegt aufgeschlagen auf meinem Schoß. Gelesen habe ich keine einzige Seite. »Ist das so?«

»Du wirst es mir nicht erzählen, oder?«

»Nein.« Weil es nichts gibt, was ich ihm sagen könnte, das für ihn Sinn ergeben würde, und ich bin nicht gewillt, es Cam zu erklären. Ich klappe das Buch zu. »Was hast du heute noch vor?«, frage ich ihn, weil er, nachdem er vorhin die Gemüselasagne in den Ofen geschoben hatte, die Jogginghose gegen eine Jeans getauscht hat.

»Ich gehe rüber zu Aspen. Dion und Abbie sind zu einer von Henrys Partys. Sie hat also den Bungalow für sich.«

»Verstehe«, antworte ich. Das ist der freundliche Hinweis, dass ich ihre Zweisamkeit störe und sie deswegen ausweichen, statt wie üblich hier abzuhängen. Warum macht er nicht einfach den Mund auf, wenn ich mich verdrücken soll?

»Dir würde es im Übrigen auch nicht schaden, mal vor die Tür zu gehen, anstatt nur auf dem Sofa zu hocken.«

Mag sein, dass ihm das so vorkommt, weil ich für gewöhnlich erst dann vor die Tür gehe, wenn die Welt um mich herum schläft. Ich bevorzuge die nächtliche Stille statt den Trubel, der tagsüber auf dem Campus herrscht.

»Es wird dich vermutlich überraschen, aber ich bin sehr gerne allein.« Das ist die Wahrheit. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Häusern verbracht, in denen es nur so von Menschen wimmelte. Zu den wenigsten davon pflegte ich ein enges Verhältnis. Sie waren lediglich ein Bestandteil der Umgebung, in der ich mich befand.

Rückblickend gab es nur eine Person, zu der ich eine Verbindung gespürt habe, bis sie gekappt wurde. Mit jedem Tag, den man mit sich selbst verbringt, lernt man das Alleinsein zu schätzen. Meistens jedenfalls. Denn dann bin ich Cameron begegnet und die Dinge haben sich schleichend verschoben. Anfangs habe ich ihn als Mittel zum Zweck betrachtet. Inzwischen würde ich sagen, er ist aktuell der einzige Mensch, den ich über einen längeren Zeitraum in meiner Nähe ertrage. Was überwiegend daran liegt, dass Cam ein unaufdringliches Wesen besitzt. Er ist nicht laut oder dauerpräsent, aber vor allem ist er bescheiden. Nichts ist für ihn selbstverständlich und er fordert nichts ein. Weder von mir noch von der Welt um ihn herum. Das macht seine Gegenwart angenehm.

Cam löst bei mir eine Art Jo-Jo-Effekt aus. Ich habe ihn gerne um mich. Ein Zeichen, dass ich sozial gesehen nicht völlig inkompetent bin. Das würde ich als die Aufwärtsbewegung bezeichnen. Aber bevor Cameron mich zu fassen bekommt, bin ich längst in der Abwärtsbewegung und tauche auf unbestimmte Zeit unter. Weil er mir zu viel ist. Dass wir uns jetzt einen Bungalow teilen, ist, als hätte ich zwei Knoten in die Schnur gemacht. Seitdem kann ich mich nur noch innerhalb dieser beiden Punkte bewegen. Ich stecke fest. Es geht nicht weiter aufwärts, aber auch nicht weiter abwärts. Und ich wusste, dass es so sein würde. Wochenlang habe ich darüber nachgedacht. Mir den Kopf zerbrochen. Risiken abgewogen. Schlussendlich bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die Beziehung zu Cameron die einzige Variable in meinem Leben ist, die ich nicht manipulieren werde.

Cameron lässt sich neben mir auf das Sofa fallen. Für einen winzigen Augenblick sehen wir einander an, bis ich mit einem tiefen Atemzug aufstehe, um Abstand zwischen uns zu bringen. Es geschieht eher aus Reflex, als dass ich es beabsichtige. Gewohnheiten legt man nur schwer ab.

»Grüß Aspen von mir.« Mit wenigen Schritten durchquere ich den Raum und gehe auf den Flur zu. Bevor er darauf etwas erwidern kann, bin ich längst in meinem Zimmer verschwunden, lasse die Tür aber einen Spaltbreit offen.

Ohne das Licht einzuschalten, trete ich an das bodentiefe Fenster und sehe in die Dunkelheit hinaus. Diese Pseudoidylle geht mir auf den Zeiger. Von meinem Zimmer aus blickt man die Straße hinunter. Cam hingegen genießt die Aussicht ins Grüne. Er hat angeboten zu tauschen, aber ich mag das Gefühl von Kontrolle. Asphalt, der zu einem Ziel führt, versprüht davon mehr als endlos scheinende Baumreihen. Die leuchtenden Straßenlaternen tauchen die Umgebung in ein trügerisches Gesamtbild. Es vermittelt den Eindruck, hier sei die Welt in Ordnung. Als hätte man alles Schlechte auf der anderen Seite der Mauern gelassen. Dabei sitzt der Teufel mitten unter uns, zieht die Strippen und lässt die Puppen für sich tanzen.

Ich reiße den Blick vom Fenster los, schalte das Licht ein und beschließe, die restlichen Sachen auszupacken, die seit meiner Ankunft darauf warten, dass ich mich ihrer annehme. Für einen Moment frage ich mich, wozu das Ganze, weil ich ohnehin nicht vorhabe länger als nötig hierzubleiben. Der Grund, warum ich es dennoch tue, ist, dass mich dieses Chaos nervt und ich es ordentlich bevorzuge.

Zehn Minuten später habe ich die Kleidung in den Schrank eingeräumt. Als Nächstes ist die halb volle Bücherkiste dran. Einen Teil der Bücher stelle ich in das Regal neben dem Schreibtisch, die anderen packe ich auf den Stapel rechts vom Bett. Das Tagebuch verstaue ich im untersten Fach des Nachtschranks. Ich schließe gerade die Schublade, als es leise an der Tür klopft.

»Alles gut zwischen uns?« Cameron ist ein Harmoniejunkie. Er würde sich selbst für Dinge entschuldigen, die nicht auf seine Kappe gehen, um den Frieden wiederherzustellen.

»Ja«, antworte ich knapp und lasse mich rücklings aufs Bett fallen, drehe mich auf die Seite und hangle nach dem obersten Buch auf dem Stapel. »Ich werde es mir hiermit gemütlich machen.« Ich halte den dicken Wälzer in die Höhe. Ein Geschenk von Noah. Er meinte, ich sollte wenigstens einmal die Geschichte von Bastian Balthasar Bux gelesen haben. Ich gebe zu, ich habe sie mehrfach angefangen, aber nicht beendet. So richtig angekommen bin ich in Phantásien nie und kann Noahs Begeisterung deshalb nur bedingt nachvollziehen.

»Klingt nach einem spannenden Abend«, erwidert Cam ironisch. »Warte nicht auf mich. Ich übernachte bei Aspen.«

»Ich bin nicht Granny El, bei der du dich abmelden musst.«

»Nein, aber ich bin mir sicher, ihre Abendgestaltung ähnelt deiner«, zieht er mich auf, bevor er in den Flur verschwindet. Kaum fällt die Eingangstür ins Schloss, atme ich tief durch und lausche der Stille, genieße sie für einen Moment. Dann schlage ich das Buch auf.

Am Ende schaffe ich genau hundertdreiundachtzig Seiten, bevor mich diese innere Unruhe überkommt, die mich zum Aufstehen zwingt. Ein Uhr morgens. Zeit für eine anständige Tasse Tee. Das Buch lege ich auf dem Nachtschrank ab.

Gerade als ich aus dem Zimmer trete, kündigt mein Handy eine Textnachricht an. Wenn Cam mir jetzt Nachrichten schickt, um sich zu vergewissern, dass es mir gut geht, werde ich sein Smartphone lahmlegen. Dennoch gehe ich zurück und nehme das Telefon vom Bett.

Es ist nicht Cameron. Ich stecke das Handy weg, laufe in die Küche und stelle den Wasserkocher an. Darauf werde ich mich nicht einlassen. Nein, ich sollte es nicht. Dass ich es dennoch tun werde, davon bin ich überzeugt. Es gibt nur eine Sache, die es schafft, mein Handeln in eine andere Richtung zu beeinflussen, als ich es ursprünglich geplant habe: wenn jemand sich nicht so verhält, wie ich erwarte. Dieser Umstand macht mich wahnsinnig und sorgt dafür, dass mein Tun eine Eigendynamik entwickelt. Und genau das führt in diesem Augenblick dazu, dass ich das Handy wieder aus der Hosentasche ziehe, während ich darauf warte, dass das Teewasser heiß wird.

Der Wasserkocher schaltet sich mit einem klickenden Geräusch aus. Ich nehme das Tee-Ei aus dem Schrank. Sobald ich es mit Schwarztee gefüllt habe, hänge ich es in die Tasse und gieße das Wasser darüber. Anschließend stelle ich den Timer auf vier Minuten.

Ich: Dann ist es vielleicht besser, du gehst nicht hin.

Ich: Will ich die Gründe hören?

Ich: Hat sie das so gesagt?

Kurz überlege ich, die Unterhaltung fortzuführen, belasse es aber dabei und lege das Handy auf der Arbeitsfläche ab. Stattdessen beobachte ich den Tee beim Ziehen, bis das Wasser einen bräunlichen Ton annimmt.

Erneut piept es.

Ich: Okay, was wird das hier?

Ich: Das merke ich, aber warum?

Ich: Und warum tust du das?

Auch wenn ich es nicht will, schleicht sich bei der Erinnerung an den Abend unseres Kusses ein Grinsen in mein Gesicht.

Ich: Wo bist du gerade?

Ich: Dir ist bewusst, dass du dich dort nicht ewig verstecken kannst?

Menschenansammlungen sind offenbar nicht unbedingt Abbies Ding. Denn bei unserem Aufeinandertreffen auf der Party war sie ebenfalls auf der Flucht und hat sich auf die Terrasse verdrückt. Bei dem Versuch ist sie mir wortwörtlich in die Arme gefallen. Und damit hat sie mich direkt in ein Szenario katapultiert, das nicht in meine Pläne passt. Anfänglich dachte ich wirklich, die Frau würde nicht zum Problem werden, inzwischen steht sie auf der Liste ganz oben. Denn Abbie löst in mir das Verlangen aus, sie um den Verstand zu bringen, bis sie meinen Namen stöhnt. Und gerade laufe ich Gefahr, endgültig einzuknicken.

Ich: Oder du gehst nach Hause.

Ich: Verstehe.

Ich: Klingt dramatisch.

Darüber ließe sich streiten. Ich weiß mehr über ihre Freundin, als ihr lieb sein dürfte.

Ich: Hunde, die bellen, beißen nicht.

Ich: Kann ich dir irgendwie bei deinem Problem helfen?

Denn offensichtlich erhofft sie sich Hilfe von mir. Ganz leise klopft die Vernunft an. Denn jedes Mal, wenn wir aufeinandertreffen, endet es damit, dass die Distanz zu ihr geringer wird. Wie lange es wohl noch dauert, bis sie sich gänzlich in Luft aufgelöst hat? Und dann?

Mit der Antwort entlockt sie mir tatsächlich ein Lachen.

Ich: Welche Art von Notfall schwebt dir denn vor?

Ich: Nein. Ich koche mir im Augenblick einen Tee.

Ich: Beim Teekochen fällt man eher selten von einer Leiter.

Ich: Außerdem vergisst du einen Aspekt: Warum genau würde ich dich bei einem Notfall anrufen? Wir kennen uns kaum.

Und sollten es dabei belassen , füge ich gedanklich hinzu.

Möglicherweise werde ich Cam den Hals umdrehen, sobald ich ihn in die Finger bekomme.

Ich: Soll ich die Party crashen?

Ich: Nein.

Die Vorstellung, dass sie mit einem Typen im Wandschrank rummacht, könnte mir nicht weniger gefallen. Stattdessen taucht das Bild, wie sie vor mir kniet, vor meinem geistigen Auge auf. Es ist wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis ich es auf einen Versuch ankommen lasse.

Ich: Du könntest durch das Fenster flüchten.

Ich: Was würde Kim Possible tun?

Ich: Dieselbe Leiter, von der er angeblich heruntergefallen ist, um einen Notfall vorzutäuschen?

Mein Lachen hallt durch die Stille, während ich tatsächlich darüber nachdenke, ob es im Bungalow eine Leiter gibt, mit der ich ihr zu Hilfe eilen könnte. Das gäbe wirklich ein amüsantes Bild ab.

Kurz stutze ich und sehe mich ernsthaft um, um sicherzugehen, dass ich mich alleine im Raum befinde. Woher weiß sie, welche Teesorte ich mir gerade zubereite?

Ich: Wie kommst du darauf, dass es sich um schwarzen Tee handelt?

Ich: Ist das eine Frage?

Keine Antwort.

Ich: Wir wissen beide, dass du nicht geraten hast.

Als die Uhr an meinem Handgelenk vibriert, nehme ich das Tee-Ei aus der Tasse und packe es in die Spüle. In der einen Hand mein Getränk, in der anderen das Handy gehe ich auf die Couch zu. Ich stelle den Tee auf dem flachen Tisch ab, setze mich und starre nachdenklich auf den Chatverlauf. Minuten vergehen. Wahrscheinlich hat sie ihren Widerstand aufgegeben und sitzt nun gemütlich in einem Kreis, während jemand die Flasche in der Mitte dreht.

Ich schließe den Chat und nehme stattdessen das Buch zur Hand, das ich vorhin auf dem Sofa zurückgelassen habe, als ich vor Cameron Reißaus genommen habe. Frankenstein. Inzwischen dürfte es das siebte Mal sein. Und doch schafft es das Buch immer wieder, meine Sichtweise auf den Inhalt zu ändern, weil sich jedes Mal neue Details offenbaren, die ich zuvor nicht wahrgenommen habe. Es gehört eindeutig in die Kategorie Bücher, die man gelesen haben sollte .

Auch die Entstehungsgeschichte ist äußerst interessant. Nicht, weil es von einer Frau geschrieben wurde, sondern weil es im Rahmen eines Schreibwettbewerbs unter Bekannten entstanden ist. Dank eines Vulkanausbruchs in Indonesien herrschte zu jener Zeit eher Endzeitstimmung anstelle von rosigen Aussichten. Man könnte das Jahr ohne Sommer als die Geburtsstunde der Schauergeschichten betrachten.

Tatsächlich ist es so, dass mich die Entstehung von Dingen mehr fasziniert als das Endprodukt. Wenn mein Grandpa in seinem Schaukelstuhl saß und das Stück Holz zwischen seinen Fingern mit dem Messer in eine Figur verwandelt hat, war ich am meisten am Prozess des Schnitzens interessiert. Daran, an welcher Stelle das Material weichen musste, damit es am Ende zu dem wurde, was Grandpa erschaffen wollte. Später habe ich eine deutlich ausgeprägtere Faszination für das Programmieren entwickelt.

Die Smartwatch vibriert erneut an meinem Handgelenk. Flüchtig werfe ich einen Blick auf die Vorschauanzeige.

Vorerst ignoriere ich die Nachricht, weil ich das Kapitel zu Ende lesen will. Doch dann erscheint eine weitere Mitteilung auf dem kleinen Display, die eindeutig meine Aufmerksamkeit verdient.

Was zur Hölle … Ich nehme das Handy vom Couchtisch, um die vollständige Nachricht zu lesen, und tippe den Text an.

In dieser Sekunde erscheint eine weitere Mitteilung im Chat.

Okay! Jetzt weiß ich, worauf sie hinauswill, und zwar ganz gewiss nicht auf meine Herkunft. Ihre Annahme beruht auf unserem Kuss. Ich bin mir verdammt sicher, in der gelöschten Nachricht stand, ich würde nach schwarzem Tee schmecken. Fuck! Abbie Westing, solche Anspielungen solltest du nicht machen, wenn du nicht darauf abzielst, nackt unter mir zu enden.

Ganz automatisch wandern meine Gedanken zu dem Moment, als unser Kuss sich gewandelt hat und eine Intimität zwischen uns entstanden ist. Sie hat nach Erdbeerbowle geschmeckt. Ja, eindeutig. Süß, fruchtig und champagnerartig.

Da wir vereinbart haben, kein Wort darüber zu verlieren, werde ich einfach so tun, als hätte ich nicht den blassesten Schimmer, was in der gelöschten Nachricht stand.

Ich: Erwischt. Ich bin ein wandelndes britisches Klischee.

Ich: Ist das nicht offensichtlich?

Ich: Warst du bereits im Wandschrank?

Okay, unsere Unterhaltung verläuft eindeutig in die falsche Richtung. Oder vielleicht auch in die richtige. Da bin ich mir noch nicht ganz sicher.

Definitiv die falsche Richtung, dennoch grinse ich amüsiert vor mich hin. Ich mag Abbies Art, offen mit mir zu kommunizieren. Es wirkt, als würde sie nie über ihre Worte nachdenken. Jedenfalls, wenn sie dazu nicht vor mir steht, denn in solchen Momenten zeigt sich ihre Unsicherheit. Als wüsste sie nicht, wie sie mit mir umgehen soll. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Das hier ist um so vieles leichter, bringt mich aber immer mehr in Bedrängnis, mit Abbie ein klärendes Gespräch zu führen.

Die erste Chance ließ ich in dem Moment verstreichen, als ich sie in der Mensa abgefangen und den Retter gespielt habe. Die zweite, als wir im Café saßen und ich mich als Fahrer angeboten habe. Und die dritte, als sie mir überschwänglich in die Arme gesprungen ist, weil sie dank meiner Hilfe ins Hallenbad eingestiegen war.

Es ist ein Muster zu erkennen. Statt mit der Wahrheit herauszurücken, spiele ich den Helden. Wie leicht es doch ist, eine Illusion zu schaffen und sich darin zu verlieren.

Ich: Was hast du jetzt an?

Erst als ich die Nachricht abgeschickt habe, fällt mir auf, wonach das klingt. Dirty Talk mit Abbie, während sie auf einer Party festsitzt und ich Frankenstein lese. Das könnte aus einer mittelmäßigen Teeniekomödie stammen.

Ich: Vergiss meine letzte Nachricht. Falsches Thema.

Erneut schließe ich den Chat und lege das Handy zurück auf den Couchtisch. Starre es an. Versuche, diese innere Unruhe zu ignorieren. Fünf Minuten später gebe ich es auf. Ich schnappe mir das Handy, springe vom Sofa auf und haste in den Flur, weil ich es hier drin keine Minute länger aushalte. Ich schlüpfe in meine Schuhe, nehme die Jacke von der Garderobe und taste in den Taschen nach der Schachtel, in der sich die In-Ear-Kopfhörer befinden.

Die eisige Nachtluft peitscht mir ins Gesicht, als ich den Bungalow verlasse. Mit den ersten Klängen von Chopin schließe ich für einen winzigen Moment die Augen, dann gehe ich die Einfahrt entlang und biege nach rechts in die Dunkelheit ab. Es dauert nur wenige Songs, bis ich in meinen Gedanken versinke, die sich auf eine wohltuende Weise leer anfühlen. Anhand der einzelnen Tracks zähle ich die Minuten mit, während ich ziellos durch die Gegend laufe. Sieben … dreizehn … zwanzig.

Ich zucke zusammen, als es an meinem Handgelenk vibriert. Lass es , ermahne ich mich selbst.

Ich kann nicht. Alles in mir sträubt sich dagegen, Abbie Westing zu ignorieren. Also hole ich das Handy aus der Jackentasche.

Ich: Ja, aber ich nehme an, darauf willst du nicht hinaus.

Ich: Klingt, als wäre heute nicht dein Tag.

Ich zwinge meinen Verstand dazu, sich keine strippende Abbie vorzustellen. Vergebens.

Ich: Unbedingt.

Ich: Warum sollte sie das tun?

Ich kann mich nicht erinnern, etwas in der Richtung gesagt zu haben. Aber ich erinnere mich an die Art, wie die Brünette Abbie gemustert hat, was mir gehörig gegen den Strich ging. Das führte dazu, dass ich besitzergreifend einen Arm um Abbie gelegt habe. Bereits da hätte ich wissen müssen, dass ich mit dieser Abzweigung letztlich genau hier enden würde.

Verwirrt starre ich auf ihre Nachricht.

Mein Lachen hallt durch die Nacht. Abbie trifft eindeutig meinen etwas eigensinnigen Humor.

Ich: Kommt es mir nur so vor oder machst du mich für den katastrophalen Abend verantwortlich, der möglicherweise mit deinem Ableben endet?

Die Frau sieht zu viele True-Crime-Dokus. Allerdings zaubert sie mir gerade ein Dauergrinsen ins Gesicht. Verdammt!

Ich: Besteht die Möglichkeit, dass du maßlos übertreibst und die Frau völlig harmlos ist?

Ich: Untersteh dich, wenn du nicht willst, dass ich dich übers Knie lege.

Fuck! Das kommt dabei heraus, wenn der Verstand sich in die Sendepause verabschiedet. Glücklicherweise haben sich die Häkchen noch nicht blau gefärbt. Schnell rufe ich die Nachricht zurück und tippe eine andere Antwort.

Ich: Vielleicht gehst du lieber nach Hause und minimierst dadurch das Risiko, im Schlaf erstickt zu werden.

Was genau erwartet sie eigentlich von mir? Von Henrys Haus bis zu ihrem Bungalow sind es maximal zwanzig Minuten zu Fuß. Leider ist der Campus nicht so angelegt, dass man ihn mit dem Auto befahren kann. Die einzigen Straßen sind die Zufahrtswege vom Haupttor, die bis zu den Bungalowkomplexen reichen. Walls’ Haus liegt am Rande des Geländes und ist nur von außerhalb der Grundstücksmauern über eine Straße zu erreichen. Wenn man sich innerhalb der Mauern befindet, muss man wohl oder übel einen Spaziergang in Kauf nehmen, um auf eine von Henrys Partys zu gelangen.

Ich: Und das ist ein Problem, weil?

Ich: Du befindest dich auf dem sichersten Campus des Landes.

Ich: Die Statistik.

Ich würde ihr gerne widersprechen, aber sie hat recht. Man kann mit dem nötigen Kleingeld so einiges unter den Teppich kehren, um den Schein zu wahren.

Ich: Dann geh mit jemanden mit, der ebenfalls nach Hause will.

Ich bleibe stehen und sehe mich um. Das Hauptgebäude und die Sportanlagen habe ich bereits hinter mir gelassen. Bis zu Walls’ Haus ist es nicht mehr als ein Katzensprung.

Ich: Wie dringend willst du von dort weg?

Das Letzte, was ich tun sollte, ist das, was mir gerade in den Sinn kommt. Aber mein nächtlicher Spaziergang musste auf diese Weise enden, denn sonst wäre ich nicht in die Richtung gelaufen, die mich Abbie näher bringt.

Ich: Okay, ich hole dich ab. Gib mir zehn Minuten.