21.

ABBIE

Ungläubig starre ich auf Jaspers Nachricht. Er holt mich ab. Mitten in der Nacht. Darauf habe ich nicht abgezielt. Eigentlich wollte ich mich zur Beschäftigung nur mit jemandem unterhalten. Dass die Wahl auf Jasper gefallen ist, hat sich irgendwie ergeben. Ich hatte nicht mal mit einer Reaktion von ihm gerechnet, nachdem er meine letzte Nachricht nicht beantwortet hat. Dann sind meine Finger regelrecht über die Tasten geflogen und plötzlich hat es sich zu einem Selbstläufer entwickelt.

Für gewöhnlich bin ich weniger kommunikativ, weil mir oft die richtigen Worte fehlen. Dass es sich mit Jasper so leicht und nicht verkrampft anfühlt, hat sein Übriges dazu beigetragen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es deutlich leichter ist, eine Konversation zu führen, wenn die andere Person sich nicht im selben Raum befindet. Oder an den zwei Gläsern Wein. Ganz sicher bin ich mir nicht. Beim Strip-Poker habe ich gekniffen. Jeder Spaß hat seine Grenzen. Meine war an diesem Punkt eindeutig erreicht.

Ich zupfe an dem Stoff des Oberteils, um ihn nach unten zu zerren. Wie kann es sein, dass Dion einen Kopf größer ist als ich, aber ihre Klamotten an mir sitzen, als wären sie mindestens eine Nummer zu klein? Wirklich. Für dieses Phänomen hätte ich gerne eine Erklärung.

Da sie mit Henry verschwunden ist, bevor wie unsere Kleidung zurücktauschen konnten, stecke ich in goldenen, mit Pailletten besetzten Hotpants und einem Top fest, das gerade so meinen Bauchnabel bedeckt. Wortwörtlich. Ich bezweifle nämlich, dass ich die Shorts ohne Hilfe über meine Schenkel ausgezogen bekomme.

»Hey, du hockst schon wieder in der Ecke rum.« Dion reicht mir ein Glas, bevor sie sich auf das Sofa setzt.

»Ich genieße die Show aus der ersten Reihe.« Unauffällig deute ich auf das Paar, das auf dem Sessel gegenüber miteinander rummacht. Dann nippe ich vorsichtig an dem Getränk. Als ich Wasser schmecke, nehme ich einen großen Schluck. Alkohol hatte ich für diesen Abend genug. Der hat nämlich dafür gesorgt, dass ich überhaupt den Mut aufgebracht habe, Jasper anzuschreiben.

»Miguel nimmt echt jede Gelegenheit mit. Das ist schon die dritte diesen Abend«, äußert sie angewidert.

»Er scheint seine Qualitäten zu haben«, antworte ich und kann ein Kichern nicht unterdrücken. Miguels Lippen kleben unermüdlich am Hals der Blondine auf seinem Schoß. Als sie den Kopf zur Seite neigt, folgt meiner automatisch ihrer Bewegung. Skeptisch betrachte ich das Schauspiel. »Das gibt einen riesigen Knutschfleck«, schlussfolgere ich, als er an ihrer Haut zu saugen beginnt. »Jemand sollte ihr sagen, dass sie eine Hirn-, Lungen- oder Herzembolie erleiden könnte.«

»Wow, Abbs, du bist echt unglaublich. Andere kommen bei dem Anblick in Stimmung und du denkst über medizinische Folgen nach.« Dion lacht, dann nimmt sie einen Schluck aus ihrem Weinglas.

»Eine Gefahreneinschätzung kann Leben retten.«

»Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Minuten einen Krankenwagen rufen müssen.«

»Nein, aber vielleicht die Sitte«, erwidere ich, als Miguel eine Hand unter ihren Rock schiebt.

»Wenn du weiter so in ihre Richtung starrst, wird er dich fragen, ob du mitmachen willst. Ich habe gehört, der Womanizer ist einem Dreier nie abgeneigt.«

Sofort reiße ich den Blick von ihm los und sehe stattdessen zu Dion, die nach wie vor in meinem Strickkleid steckt.

Unter meinem Oberschenkel vibriert es. Das Handy habe ich in dem Moment daruntergeschoben, als Dion sich zu mir gesetzt hat. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ich unbewusst ergriffen habe. Aber es ist besser, sie weiß nichts von Jasper.

»Hast du mich noch lieb, wenn ich jetzt nach Hause gehe?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Du willst also die romantische Zweisamkeit crashen?« Ein verschwörerisches Schmunzeln erscheint auf ihren Lippen.

»Nein, aber ich würde gerne vermeiden, mir mit Trinity ein Zimmer zu teilen. Sie kann mich nicht ausstehen.«

»Das stimmt nicht.«

Erneut vibriert es unter meinem Oberschenkel.

»Ich glaube, du solltest los. Da wird jemand ungeduldig«, sagt Dion, grinst wissend und drückt mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie aufsteht und zu Henry geht, der sich angeregt mit Easton unterhält.

Ich ziehe das Handy hervor. Inzwischen ist es drei Uhr morgens.

Sofort komme ich in Bewegung, hole meine Jacke aus der Garderobe und verlasse das Haus. Eisige Luft schlägt mir entgegen, Jasper kann ich jedoch nicht entdecken. Wenn er mich an der Nase herumführt, drehe ich ihm den Hals um.

Ich schlüpfe in die Jacke und gehe die Eingangsstufen hinab. Der Kies knirscht unter meinen Schuhen, als ich mich wenige Meter von dem Haus entferne. Musik und Gelächter aus dem Inneren hallen zu mir herüber. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und fahre erschrocken herum.

»Musst du dich immer so anschleichen?!«, keuche ich und boxe Jasper aus Reflex gegen den Oberarm.

»Du wusstest doch, dass ich vor der Tür warte.«

»Ja, aber nicht, dass du hinter einem Baum lauerst.«

»Entschuldige, normalerweise habe ich eine Leuchtfackel dabei, die mein Auftauchen ankündigt. Deine Rettung kam unerwartet«, zieht er mich auf.

»Sehr witzig.« Der Kerl hat einen seltsamen Humor.

»Wollen wir oder möchtest du zurück auf die Party?«

Stimmengewirr ertönt hinter uns. Ich werfe einen Blick in Richtung Haus, aus dem eine kleine Gruppe herauskommt und den Weg zum Campus einschlägt. Ich sehe ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit verschwinden.

»Abbie?«

»Hmm?«

»Gehen oder bleiben?«

Einen Moment mustere ich Jaspers Gesicht, das im Halbdunkel liegt und dadurch härter wirkt als im Tageslicht. Es hat beinahe etwas Bedrohliches. Für einen winzigen Augenblick überkommen mich Zweifel, ob das hier wirklich eine gute Idee ist. Vielleicht hätte ich Dion oder wenigstens Aspen informieren sollen, mit wem ich davonschleiche. Erst letzte Woche habe ich in den Nachrichten gehört, dass es zu Übergriffen an einem College in Chicago gekommen ist. Wie viel weiß ich wirklich über den Kerl, der mir gegenübersteht?

Okay, jetzt werde ich paranoid. Wir haben genügend Zeit miteinander verbracht. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, ihn tatsächlich zu kennen. Auf der anderen Seite – Psychopathen gewinnen auch oft erst das Vertrauen ihrer Opfer, bevor sie zuschlagen.

»Du bist kein Killer, oder?«, rutscht es mir heraus.

»Meinst du, ich würde es dir verraten, wenn es so wäre?« Ich kann die Belustigung in seiner Stimme hören.

»Das ist nicht lustig!«

»Glaub mir, Abbie, ich bin niemand, vor dem du Angst haben musst«, erwidert er. Dass er das Du extra betont, irritiert mich. Camerons Worte kommen mir in den Sinn. Es gibt genau zwei Dinge, die man über Jasper wissen muss. Erstens: Versuch gar nicht erst, aus ihm schlau zu werden, denn er wird nicht zulassen, dass du ihn verstehst. Er wird nie so handeln, wie du es erwartest. Zweitens: Wenn er auf deiner Seite steht, gehört dir seine Loyalität. Machst du ihn dir zum Feind, geh in Deckung.

»Andere schon?«, frage ich vorsichtig.

»Ja.« Kurz. Knapp. Ehrlich. Und ich gebe zu, dass mich seine Antwort nicht überrascht. Weil ihn diese Aura umgibt. Abschätzig. Distanziert. Düster. Eindeutig ein Film noir.

»Wer zum Beispiel?«

»Du bist ziemlich neugierig.«

»Ich versuche nur herauszufinden, mit wem ich es in Wirklichkeit zu tun habe«, gebe ich zu.

»Gerade bin ich der Typ, der dafür sorgen wird, dass du in einem Stück zu Hause ankommst.« Jasper sagt das mit einer Überzeugung, dass mir ein Schauer über die Wirbelsäule läuft und sich eine Wärme in meinem Inneren ausbreitet, die ich zuvor noch nie so intensiv gespürt hatte.

»Okay«, willige ich ein und mache einen Schritt auf den Pfad zu, auf dem die Gruppe vor wenigen Minuten verschwunden ist. Aber ich komme nicht weit, weil sich Jaspers Finger um meinen Unterarm schließen und mich zurückhalten.

»Wir nehmen eine Abkürzung«, sagt er und zieht mich sanft, aber bestimmt zu sich heran, bevor er sich in Bewegung setzt. Als er sich sicher ist, dass ich ihm folge, lässt er mich los.

Die Musik und das Gelächter, die von dem Gebäude zu uns herüberhallen, werden leiser, je weiter wir uns entfernen. Und dann setzt Stille ein. Nur das Geräusch, das der Boden von sich gibt, sobald unsere Schuhe auf den feuchten Untergrund treffen, durchbricht die Ruhe. Sollten wir uns nicht unterhalten, statt uns anzuschweigen? Nur worüber? Mit einem Display zwischen uns war das so viel leichter.

Jasper biegt nach rechts ab und verschwindet in den dichten Baumreihen. Plötzlich ist es nicht nur still, sondern auch stockdunkel, weil die Baumkronen das Mondlicht verschlucken. Ich kann kaum die Hand vor Augen sehen. Aber ich kann hören, in welche Richtung sich Jasper bewegt. Ein Ast knackt unter meinem Schuh und erschreckt mich damit beinahe zu Tode.

»Und du bist dir sicher zu wissen, wo wir entlangmüssen?« Meine Stimme klingt in der Stille des Waldes, als hätte ich die Worte hinausgeschrien.

»Ja«, antwortet Jasper.

»Du hast nicht zufällig eine Taschenlampe dabei?«, will ich wissen.

Es raschelt rechts neben mir im Gestrüpp. Instinktiv mache ich einen Schritt nach links, stoße gegen Jasper und gerate ins Straucheln. Dann wird es hell. Jasper hat die Taschenlampe seines Handys eingeschaltet. Da hätte ich auch von selbst draufkommen können. Ich hole mein Handy aus der Jackentasche, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass der Akku inzwischen leer ist.

»Großartig!«, entfährt es mir leise.

»Hier, bevor du dir den Hals brichst und ich mein Versprechen nicht einhalten kann.« Er hält mir sein Handy entgegen.

Dankend nehme ich sein Angebot an, weil ich erneut über irgendwas stolpere. Vermutlich ein Stein. Jasper hingegen schlängelt sich um die Bäume, als würde er jeden Winkel des Gebiets kennen. Erneute Stille. Und ich gebe zu, dass sie mich nervös macht. Nicht die zwischen mir und Jasper, sondern die unserer Umgebung. Nachtwanderungen habe ich früher schon gehasst, weil man pausenlos damit rechnet, dass jemand aus dem Gebüsch springt und einen erschreckt. In dem einen Augenblick, in dem man abgelenkt ist, passiert es, und einem fährt der Schreck durch Mark und Bein. Genauso fühlt es sich gerade an. Wie lange wird es dauern, bis jemand mit einer Maske unseren Weg kreuzt und ich mir vor Angst in die Hose mache? Vielleicht hätte ich sicherheitshalber vorher noch mal aufs Klo gehen sollen.

»Wie war dein Tag so?«, versuche ich die Stille zu durchbrechen, aber vor allem, um mich abzulenken.

»Gut.« Jasper klettert über einen umgekippten Baum, der uns den Weg versperrt. Da er um einiges größer als ich ist, sieht es bei ihm eleganter aus als bei mir.

»Was hast du gemacht?«

»Gelesen.«

»Du liest?«, frage ich überrascht. Er sieht nicht aus wie jemand, der seine Nase in Bücher steckt.

»Jedenfalls habe ich das, bis eine Frau in Not meine Aufmerksamkeit eingefordert hat.« Der amüsierte Tonfall entgeht mir nicht.

»Und was liest du momentan?«

»Frankenstein« , antwortet er trocken. Klingt nach der passenden Lektüre für unseren nächtlichen Ausflug durch den finsteren Wald.

»Ich bevorzuge Hörbücher, da hat man die Hände für andere Dinge frei«, erkläre ich.

Habe ich das gerade wirklich gesagt? Gott, wie gut, dass er keine Ahnung hat, was man mit den freien Händen anstellen kann. Meine Wangen beginnen wie auf Knopfdruck zu glühen und ich bin sehr froh, dass Jasper es nicht sehen kann.

Zehn Minuten später laufen wir immer noch durch das Dickicht und allmählich frage ich mich, ob es sich hierbei tatsächlich um eine Abkürzung handelt.

»Befinden wir uns auf dem Weg nach Oz?«

»Wie bitte?«

»Na ja, der Weg fühlt sich eher länger als kürzer an. Werden wir gleich gegen böse Hexen kämpfen?«, erwidere ich gespielt euphorisch.

»Du hast also Lust auf ein kleines Abenteuer?« Jasper biegt so abrupt nach links ab, dass ich zwei Schritte weiter geradeaus laufe, bis ich es bemerke.

»Was? Das habe ich überhaupt nicht gesagt«, protestiere ich, dennoch eile ich ihm hinterher.

»Doch, Dorothy, hast du!« Der Ton, in dem er das sagt, beunruhigt mich ein bisschen. Weil es klingt, als hätte er gerade den Spaß seines Lebens, während ich keinen blassen Schimmer habe, was Jasper mit »ein kleines Abenteuer« meint.

Als Jasper unerwartet stehen bleibt, laufe ich beinahe in ihn hinein, weil ich darauf bedacht war, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Er bückt sich, wischt mit der Hand das Laub des vergangenen Herbstes beiseite und hebt plötzlich einen Metalldeckel an, der dazwischen zum Vorschein kommt. Mit der Taschenlampe leuchte ich in das Loch, das sich darunter verbirgt, dann auf Jasper. Seine Hand schnellt nach oben, weil ich ihn blende. Rasch lasse ich das Handy sinken.

»Nach dir«, sagt er auffordernd.

Mein Blick wandert zu dem Erdloch. »Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen«, gebe ich zu, dass ich keine Ahnung habe, was genau er von mir will.

»Du wolltest ein Abenteuer, hier ist es«, klärt er mich auf.

»Vergiss es.«

»Angst vor Ratten?«, fragt er amüsiert. Sein Humor ist wirklich gewöhnungsbedürftig.

»Ich klettere doch nicht in ein Erdloch!«

»Es ist kein Erdloch. Es ist der Zugang zum Tunnelgewölbe des ehemaligen Klosters.«

»Will ich wissen, woher du von unterirdischen Gängen weißt?«

»Angelesenes Wissen.«

»Wirklich?« Skeptisch sehe ich ihn an.

»1675  – das Labyrinth von St. Mary’s. Du kannst dir das Buch in der Bibliothek ausleihen.«

»Nimmst du mich gerade auf den Arm?«

»Ich ziehe es in Betracht, wenn du nicht von alleine hinunterkletterst und wir stattdessen darüber debattieren, ob meine Aussage stimmt.«

Das würde er niemals tun. Oder etwa doch?

»Du gehst vor«, sage ich und verschränke die Arme unter der Brust, was dafür sorgt, dass die Taschenlampe den Baum links von mir anstrahlt.

»Gern.« Kaum hat das Wort seine Lippen verlassen, verschwindet er in der Tiefe. Sofort überbrücke ich die Distanz und halte das Licht über die Öffnung.

Jasper hat recht, es ist kein Loch, sondern ein Schacht. In die Wand sind Metallgriffe eingefasst, die den Ab- und Aufstieg erleichtern. Ich kann nicht glauben, was hier passiert. Die brave Abbie erleidet erneut Schnappatmung. Die Teilnahme an einem Spiel namens Secret Enemy . Ein verbotener Kuss. Und jetzt steige ich in die Unterwelt ab. Was kommt als Nächstes?

Die Schultern gestrafft atme ich tief durch, stecke Jaspers Handy in meine Jackentasche und klettere hinunter. Es ist stockdunkel, weshalb ich die Sprossen in der Wand vorsichtig ertasten muss.

Siebzehn. Es sind exakt siebzehn Sprossen, dann spüre keinen Boden unter meinem linken Fuß und trete ins Leere. Was ich allerdings spüre, sind zwei Hände an meinen Oberschenkeln, die langsam nach oben wandern, bis sie meine Hüfte umfassen. Augenblicklich beschleunigt sich mein Puls. Nicht, weil ich gerade in einen Schacht klettere und mein Körper Adrenalin ausschüttet, sondern weil diese Berührung sämtliche Nervenenden in mir zum Vibrieren bringt.

»Die letzte Sprosse fehlt.« Gedämpft, als würde Jaspers Stimme von der Dunkelheit geschluckt werden, dringen seine Worte in mein Ohr. Dann wird sein Griff fester und ich verliere den Halt. Schwebe für einen winzigen Augenblick in der Luft, bevor ich festen Boden unter den Füßen habe.

Mein Herz rast, als seine Hände sich aufwärtsbewegen, so weit, bis er sie unter meine Jacke schiebt und kühle Finger auf meine überhitzte Haut treffen. Gänsehaut breitet sich bis in meine Zehenspitzen aus, während wir in dieser Position verharren.

»Alles okay?«, fragt er und tritt an mich heran. So nah, dass ich an meinen Schultern wahrnehme, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt. Viel zu schnell, um als gleichmäßig, und zu langsam, um als hektisch durchzugehen. Es ist irgendwas dazwischen und spiegelt damit exakt meine eigene Atmung wider.

Für den Bruchteil einer Sekunde streicht er federleicht mit den Fingerspitzen über meinen Bauch. Ich lehne mich gegen ihn. Und für länger als einen Wimpernschlag wächst in mir das Verlangen, er würde seine Finger tiefer wandern lassen, den Knopf meiner Hotpants öffnen, den Reißverschluss nach unten ziehen und seine Hand in meinen Slip schieben. Da Jasper hinter mir tief durchatmet, bin ich mir sicher, er weiß es. Sein warmer Atem kitzelt meinen Nacken, als er mich wieder freigibt, und jagt mir damit erneut einen Schauer über den Rücken. Dann sind seine Hände verschwunden und er mit ihnen.

Rasch drehe ich mich um, zerre das Handy aus der Jackentasche und erleuchte damit den Tunnel. Es wirkt, als hätte ihn jemand in mühsamer Handarbeit erschaffen. Ein modriger Geruch steigt mir in die Nase. Der Gang ist gerade einmal so breit, dass eine Person hindurchgehen kann, und so hoch, dass ich zwar aufrecht stehen kann, Jasper aber leicht gebückt gehen muss. Da er sich bereits mehrere Schritte entfernt hat, lässt er mir gar keine andere Wahl, als ihm hinterherzulaufen.

Während er schweigend vorangeht, kreisen meine Gedanken um das, was da gerade zwischen uns passiert ist. Oder beinahe passiert wäre. Mal wieder. Wir hüpfen ständig zwischen heiß und kalt hin und her. Als wäre es eine Art Vorspiel. Eins, das das Verlangen vorantreibt, über die letzte Hürde zu springen, zuzulassen, was auch immer das zwischen uns ist. Empfindet er genauso?

Mit jedem Schritt wird die Luft im Tunnel dünner und die Luftfeuchtigkeit höher. Als der Weg sich in drei Richtungen gabelt, bleibt Jasper stehen.

»Und jetzt?«, frage ich und versuche an ihm vorbei einen Blick in die Abzweigungen zu werfen. »Wenn wir uns deinetwegen verlaufen und nie wieder Tageslicht sehen –«

»Wir müssen rechts lang«, unterbricht er die Schimpftirade, die ich gerade loslassen wollte.

»Was macht dich da so sicher?«

»Oben an den Wänden befinden sich Wegweiser.«

Mit dem Handylicht suche ich danach. Tatsächlich finde ich Symbole, nur dass sie für mich keinerlei Sinn ergeben. »Und was bedeuten die Zeichen?«

Jasper dreht sich zu mir um. »Wer bin ich, ein Touristenguide?«, erwidert er ernst, aber seine Mundwinkel zucken amüsiert. »Das hier«, er deutet auf etwas, das starke Ähnlichkeit mit einem Pferd hat, »steht für die Stallungen.«

Verwundert sehe ich ihn an. Ich kann mich nicht erinnern, auf dem Gelände etwas gesehen zu haben, das auch nur annähernd an einen Stall erinnert.

»Dort steht mittlerweile der Supermarkt«, klärt er mich auf. Als Nächstes tippt er auf ein Kreuz mit einem Kreis darunter. »Früher Kapelle, heute Fitnesscenter.« Jasper dreht sich um neunzig Grad und zeigt auf ein weiteres Symbol. Ebenfalls ein Kreuz. »Der Gang führt zu der Klosterruine hinter den Sportanlagen.« Grinsend biegt er nach rechts ab. »Der Gang bringt uns direkt in den Weinkeller. Die Mönche hatten offenbar einen kleinen Eigenanbau in den Klostergärten.«

Am Ende gabelt sich der Weg weitere drei Mal und ich verliere völlig die Orientierung. Jasper hingegen kennt sich in den Gängen bestens aus und mir drängt sich zunehmend die Frage nach dem Warum auf. Unser Weg endet an einer Tür, die unter der Feuchtigkeit mächtig gelitten hat und den Anschein erweckt, als würde sie zerfallen, sollte man sie auch nur anfassen. Jasper schiebt sie auf und plötzlich befinden wir uns in einem Keller. Der Weinkeller. Unschwer an den Holzfässern zu erkennen, die hier lagern, allerdings nicht so aussehen, als würden sie noch genutzt werden.

Bevor ich mich genauer umsehen kann, geht Jasper auf die Treppe zu, die nach oben führt. Mit schnellen Schritten folge ich ihm. Er schiebt den Riegel der massiven Holzluke zurück, stemmt sich mit der Schulter dagegen, bis sie aufspringt.

»So, da wären wir«, sagt er und tritt beiseite, damit ich ihm nach draußen folgen kann.

Verdutzt sehe ich mich in dem achteckigen Gewölbe um.

»Die Mönche haben ihre Sünden gut versteckt.«

Das kann man wohl sagen, denn wir stehen inmitten einer Krypta. Mit dem Handylicht inspiziere ich die in Stein gehauenen Namen. Gregorius, Theotmar, Uuolfarm, Alubert, Bendict. »Freunde von dir?«, frage ich scherzhaft.

»Ja, ich mag ihre stille Art«, schießt er trocken zurück und entlockt mir damit ein Lachen. Jasper bückt sich und tastet den Boden ab.

»Wonach suchst du?« Instinktiv halte ich die Taschenlampe über die Stelle neben der Tür.

»Nach dem Schlüssel.«

Kaum hat er es ausgesprochen, blitzt etwas Messingfarbenes in seiner Hand auf und er erhebt sich. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür. Plötzlich stehen wir im schwach beleuchteten Vorraum der Bibliothek.

Jasper legt den Schlüssel wieder an seinen Platz zurück und schließt die Tür. Einen Moment starre ich das Wandgemälde an. Deswegen ist mir die Tür nicht aufgefallen. Sie befindet sich hinter dem Gemälde. Mein Blick wandert durch den Vorraum, in dem ich drei weitere Bilder entdecke, die bodentief aufgehängt wurden.

»Und wie geht es nun weiter?«, möchte ich wissen und wende mich Jasper zu.

Er wirft einen Blick auf seine Uhr. »Warten wir, bis der Reinigungstrupp uns die Vordertür aufschließt.«

»Und wann ist das?«

Mit zwei Schritten steht er vor mir, greift nach meiner Kapuze und setzt sie mir auf. Mein Blick findet seinen, hält ihn fest. Das Funkeln in seinen Augen verrät, dass ihn die Situation amüsiert, während mir nicht wohl bei der Sache ist.

»Drei.« Jasper greift nach seiner eigenen Kapuze. »Zwei.« Ein Grinsen erscheint auf seinen Lippen. »Eins.« Er dreht seinen Kopf in Richtung Eingangstür. Gedämpfte Stimmen. Als die Tür sich öffnet, schießt mein Puls so unkontrolliert in die Höhe, dass ich kurz Sterne sehe und beinahe ohnmächtig werde. Jemand mit einer Bommelmütze kommt zum Vorschein, gefolgt von einer weiteren Person in einer gelben Jacke. Wie erstarrt stehe ich da, als die beiden bemerken, dass sie nicht alleine im Gebäude sind.

Jasper greift nach meiner Hand. »Lauf«, sagt er leise, während seine Finger meine fest umschließen, und dann rennt er los. Zieht mich mit sich. Den Flur entlang. Geradewegs auf die Putzkolonne zu. Unsere Schritte hallen laut und in kurzen Abständen über den alten Dielenboden.

»Hey, stehen bleiben!«, brüllt eine tiefe Stimme hinter uns, aber wir sind längst durch die Vordertür hinaus. Unbeirrt rennen wir über das Kopfsteinpflaster, vorbei am Hauptgebäude und dem Café. Kurz darauf biegen wir in den Bungalowkomplex ab. Jasper verlangsamt seinen Schritt, bis er schließlich vor Nummer 27 zum Stehen kommt. Seine Finger gleiten aus meinen. Im nächsten Augenblick verpasse ich ihm einen Fausthieb gegen den Oberarm.

»Bist du verrückt geworden?! Was, wenn sie uns geschnappt hätten?« Mein Körper beginnt zu zittern, als das Adrenalin verpufft.

Statt zu antworten, zieht Jasper sich die Kapuze vom Kopf. Mit den Fingern fährt er sich durch die Haare. Dann lacht er. Laut, ungehalten und anscheinend ansteckend, denn ich falle in sein Lachen mit ein. Die Anspannung weicht aus meinen Gliedern und zurück bleibt das Gefühl von Befriedigung. Ergibt das Sinn? Aber anders lässt sich die Wonne, die mich durchströmt, nicht beschreiben.

»Dank mir später für den Trip«, sagt er, dreht sich um, macht einen Schritt vorwärts und sieht dann über seine Schulter. »Gute Nacht, Abbie.« Mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen verschwindet er in der Nacht, illuminiert vom Schein der Straßenlaternen.