22.

ABBIE

Zu sagen, dass ich mich auf den Valentinsball freue, den die Carmichaels veranstalten, wäre maßlos übertrieben. Wider Erwarten bin ich nämlich die Einzige, die kein Date hat. Wie auch immer Henry es geschafft hat, Dion zu überzeugen, aber er ist für den heutigen Abend ihre Begleitung. Aspen bringt Cameron mit. Die beiden sind bereits vor zwei Stunden nach Manhattan aufgebrochen, um sich vorher noch mit Aspens Mom zu treffen.

Niedergeschlagen sitze ich auf dem Bett, das Handy in der Hand, und überlege, wie ich eine neutrale, und doch aussagekräftige Nachricht an Jasper verfasse. Er hat heute Geburtstag. Theoretisch sollte es sich nicht zu einer Herausforderung entwickeln, simple Glückwünsche zu verschicken. Wenn man aber eine nachhaltige Wirkung erzielen möchte, wird es zu einer Mammutaufgabe. Jedenfalls fühlt es sich danach an. Meine Gedanken haben sich in den vergangenen Tagen hauptsächlich um Jasper gedreht. Als würde ich in einem Vakuum feststecken. Einem, in dem nur er und ich existieren. Und das wird zunehmend anstrengend.

Wir sind nicht über das Wochenende nach Manhattan gefahren. Die Carmichaels waren im Vorbereitungsstress für den Valentinsball und Dion meinte, ihre Mom sei nicht zu ertragen. Meine Mom ist in Los Angeles für ein Meeting mit einem Pharmaunternehmen. Ich hoffe, sie hat Erfolg. Sie sagt zwar, das Schlimmste sei überstanden, aber so richtig glaube ich es ihr nicht. Daher würde ich nach wie vor gerne das Preisgeld bei Secret Enemy gewinnen. Auf eine Antwort der NYU warte ich auch immer noch. Um mich abzulenken, habe ich mich bei Netflix auf den aktuellen Stand gebracht und die längst überfälligen Staffeln diverser Serien nachgeholt. Es ist erstaunlich, wie rasch man ein Defizit ausgleicht, wenn man das ganze Wochenende nichts anderes tut, als auf einen Bildschirm zu starren.

»Hier bist du«, sagt Dion, die wie aus dem Nichts in meinem Zimmer steht.

»Wo sollte ich denn sonst sein?«, erwidere ich mit einem Seufzen und lege das Handy beiseite.

»Ich glaube, du könntest recht haben.«

»Womit?«

Dion setzt sich zu mir aufs Bett. »Mit Secret Enemy

Die Wochenaufgabe haben wir noch nicht freigeschaltet, weil Dion zu sehr mit ihren persönlichen Vorbereitungen für den Valentinsball beschäftigt war, deswegen haben wir es auf Donnerstag verschoben.

»Was ist mit Secret Enemy ?«, frage ich, weil Dion nicht weiterspricht.

»Es bringt Geheimnisse ans Licht.«

»Wie kommst du darauf?« Ich setze mich aufrechter hin.

»Miguel Perez wurde gestern verhaftet.«

»Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses?«, scherze ich, als ich an seine Vorstellung auf der Party letzte Woche denke. Oh! Oder hatte der Knutschfleck, den er dem Mädchen verpasst hat, doch schwerwiegende Folgen?

»Was? Nein! Er hat Drogen auf dem Campus vertickt.«

Dass Miguel dealt, überrascht mich nicht. Er hat diese Ausstrahlung, die verrät, dass er Dreck am Stecken hat.

»Und was hat das Spiel damit zu tun?«

»Er war nach der letzten Runde Führender im Ranking.«

»Wo ist der Zusammenhang?«

»Gott, Abbs, seit wann muss ich denn deinen Job in Sachen Verschwörungstheorienaufstellen machen?«

»Seit mein Hirn voll mit anderen Dingen ist«, gebe ich zu, was Dion gekonnt überhört.

»Erst Paula, jetzt Miguel. Die Nächste könnte Trinity sein.«

»Wie kommst du darauf?«

»Na, weil sie aktuell auf Platz zwei liegt. Hast du nicht nachgesehen?«

»Nein, weil du gesagt hast, wir schalten die nächste Runde zusammen frei.« Im Gegensatz zu ihr halte ich mich an unsere Absprachen. Jetzt packt mich allerdings die Neugier, also nehme ich das Handy vom Nachtschrank.

Wow, das nenne ich einen Sprung nach oben. Die Quietscheenten haben mich unter die Top fünf katapultiert. Das Preisgeld rückt in greifbare Nähe. Ich gebe zu, es juckt mir in den Fingern, einen Blick auf die nächste Aufgabe zu werfen. Allerding wäre das mehr als unklug, weil ich die drei Enemys noch einsetzen muss und somit hoffen müsste, für die Erfüllung nichts besorgen zu müssen. Wenn ich jetzt den Campus verlasse, schaffe ich es sicherlich nicht pünktlich zurück. Der beste Tag ist Donnerstag, da habe ich am Nachmittag keine Vorlesungen.

Dion schnipst mit dem Finger vor meinem Gesicht herum, als sie bemerkt, dass ich schon wieder abgelenkt bin.

»Auf welchem Platz bist du?«, frage ich sie.

»Auf sieben abgerutscht«, stöhnt sie frustriert.

Als ich die Nachricht schließe, ploppt das Ranking auf. Jasper ist auf Platz sechs.

Ich schließe die App und lege das Handy auf den Nachtschrank, damit ich nicht doch in Versuchung gerate, einen Blick auf die nächste Aufgabe zu werfen und mein Zeitfenster unnötig zu minimieren. Geduld entwickelt sich allmählich zu meinem zweiten Vornamen.

»Okay, angenommen, es ist wirklich etwas dran, warum nehmen die Studierenden trotzdem jedes Jahr an diesem Spiel teil, wenn sie befürchten müssen, dass jemand die Leichen aus ihrem Keller holt? Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sage ich und zweifle im selben Moment meine eigenen Worte an.

»Also Darcy Quinn behauptet, Paula hat einen dieser dunkelblauen Umschläge erhalten. Erinnerst du dich? Die Einladungen waren in solchen Umschlägen.«

»Und was war in dem Kuvert?«

»Eine Botschaft.«

»Wie lautet die?« Jetzt hat sie doch mein Interesse geweckt, denn das klingt mehr als seltsam.

Dion holt ihr Handy aus der Gesäßtasche. »Warte. Darcy hat mir einen Screenshot geschickt.« Einen Augenblick später hält sie mir das Handy unter die Nase.

»Was dich betrifft, mein verzinkter Freund, du willst ein Herz. Du weißt nicht, wie viel Glück du hast, wenn du kein Herz hast. Herzen werden niemals praktisch sein, bis sie unzerbrechlich gemacht werden«, lese ich laut, was auf dem antik aussehenden Papier steht, das auf dem Foto zu sehen ist, das Paula zuletzt hochgeladen hat. Vage kommt mir das Zitat bekannt vor. Als ich das Datum unter dem Bild entdecke, stutze ich und greife nach meinem Handy. »Wann genau wurde Paula suspendiert?«, spreche ich meinen Gedanken aus. Gleichzeitig öffne ich die Kalender-App in meinem Handy.

»Vor zwei Wochen, warum?«, hakt Dion nach und sieht neugierig auf das Bild.

»Ich glaube, du hast gesagt, es war der Freitag, nach dem wir Aufgabe zwei erfüllt haben. Das Foto ist von Donnerstag. Da waren die Ergebnisse noch gar nicht online.«

»Und das ist jetzt seltsam, weil …?«

»… zu dem Zeitpunkt niemand wusste, dass Paula das Ranking anführen würde, und deine Theorie somit nicht stimmt.«

»Und warum lädt Paula so eine Botschaft hoch und fliegt am nächsten Tag vom College?«, wirft Dion ein.

»Wäre das hier ein True-Crime-Doku-Fall, wäre es jemand anderes gewesen, der ihren Account dafür genutzt hat. Bleibt nur die Frage: Wer und vor allem warum?«

»Vielleicht eine Warnung an alle Teilnehmenden, dass jemand ihre Geheimnisse ausgräbt?«, schlägt Dion als Lösung vor.

»Wer hätte denn ein Interesse daran, Paula zu schaden, indem er sie auffliegen lässt?« Vielleicht ist, was Dion sagt, doch gar nicht so weit hergeholt.

»Jemand, der mit seinem Prüfungsergebnis nicht zufrieden war.« So weit waren wir schon mal.

Ich weiß nicht, warum, aber Henry kommt mir in den Sinn. Vielleicht hatte er von Paula die Prüfungsaufgaben und ist dennoch durchgefallen? Was hat er auf der Party gesagt? – Er sei wider Erwarten durch Psychologie gerasselt.

»Würdest du deswegen so viel Aufwand betreiben? Ich meine, sie zu verpetzen, reicht doch völlig aus. Warum die Verbindung zu Secret Enemy , wenn es hier nur um eine verpatzte Klausur geht?«

Das klingt viel zu einfach, als dass es die Lösung sein kann. Henry ist ein arroganter Mistkerl, aber Rache passt nicht zu ihm. Dafür scheint ihm alles viel zu gleichgültig zu sein. Ich würde sogar sagen, er genießt seinen verlängerten Aufenthalt am College. Schließlich ist er King of the Campus. Ist das der Grund? Dieser bescheuerte imaginäre Thron? Henry hat drei Jahre in Folge gewonnen, und das vermutlich, weil er entweder verdammt gut ist oder einen Weg gefunden hat zu schummeln. Betrügt er, indem er die Konkurrenz ausschaltet?

Was ist mit Miguel? Hat er auch eine Botschaft erhalten?

Erneut öffne ich die App, tippe auf die Galerie und scrolle mich durch die Bilder. Lange suchen muss ich nicht, denn viele haben die Wochenaufgabe bisher noch nicht erfüllt und die Anzahl an Teilnehmenden ist inzwischen überschaubar. Ich zeige meinen Fund Dion.

»Nein, man spürt nichts. Es fehlt einem eben nur etwas. Und jeden Tag fehlt einem mehr, wenn man davon einmal befallen ist. Bald werden wir gar nicht mehr vorhanden sein.«

»Hast du eine Ahnung, was die Zitate bedeuten sollen?«

»Nein. Vielleicht hilft uns die Herkunft, das Rätsel zu lösen.« Ich schließe die App und gebe den Spruch bei Google ein. »Es stammt aus Die unendliche Geschichte

Als Nächstes tippe ich den Spruch ein, den Paula erhalten hat. Der Zauberer von Oz. Deswegen kam er mir bekannt vor.

»Und?«, fragt Dion und beugt sich zu mir herüber.

»Der Verfasser liest gerne alte Literatur«, antworte ich und zucke mit den Schultern.

»Ja, aber was will er uns damit sagen?«

»Vielleicht, dass Paula kein Herz hat, weil sie mit den Gefühlen von Erickson gespielt hat, und dass Miguel mit seiner Dealerei dafür sorgt, dass Menschen nichts mehr fühlen und aufhören zu existieren.«

»Bleibt immer noch das große Rätsel um das Warum.«

»Glaubst du, Henry könnte dahinterstecken?«, frage ich sie und spreche damit meinen Verdacht aus.

»Henry? Niemals. Das Bücherregal in seinem Wohnzimmer ist nur Dekoration, um den Charme des alten Hauses zu unterstreichen. Wie kommst du darauf?«

»Ich habe mich nur gefragt, wie er es geschafft hat, drei Jahre hintereinander zu gewinnen.«

»Bestimmt nicht, indem er die Konkurrenz ausgeschaltet hat. Außerdem ist er seit seiner Kindheit mit Paula und Miguel befreundet. Er verrät sie doch nicht, um ein Spiel zu gewinnen.«

»Und wenn Henry als Spielausstatter Zugriff auf die Profile der Teilnehmenden hat? Denn so richtig wissen wir nicht, was genau seine Aufgaben im Zusammenhang mit Secret Enemy sind. Wir haben uns lediglich auf seine Aussagen verlassen«

»Ha, da ist sie ja wieder, die Verschwörungstheoretikerin. Aber mit Henry irrst du dich. Vielleicht ist jemand scharf auf das Preisgeld und schaltet die Topleute aus«, wirft sie ein.

Ja, das wäre denkbar. Nur dass höchstwahrscheinlich niemand das Geld benötigt. Nahezu jeder auf diesem College verfügt über Reichtum. Alle außer vielleicht den Teilnehmenden des Förderprogramms, von denen aber sicher niemand auf der Party war und eine Einladung zu Secret Enemy erhalten hat. Außerdem müsste es jemand sein, der genügend Zeit hatte, hinter die Geheimnisse der Teilnehmenden zu kommen.

»Mmh, ich glaube nicht, dass Geld das Motiv ist.

»Sondern?«

»Es kommen noch Rache, Eifersucht und Liebe infrage. Aber was verbindet Paula mit Miguel?«

»Sie waren mal ein Paar. Also Eifersucht eines verschmähten Liebhabers?«, mutmaßt Dion und grinst.

»Oder Liebhaberin?«, ergänze ich, dass es sich auch um eine Täterin handeln könnte. Oder wir sind völlig auf dem Holzweg und sehen Gespenster, wo gar keine sind.

»Wie auch immer, nach der Sache mit Paula und Miguel drücke ich lieber den Exit-Button.«

»Warum?«, frage ich grinsend. Eine panische Dion ist mir gänzlich neu.

»Sweetheart, ich habe so viele Leichen im Keller, die reichen für einen privaten Friedhof«, antwortet sie trocken.

»Wirklich? Welche denn?«, necke ich sie.

Sie beugt sich zu mir herüber und sieht mir tief in die Augen. »Wenn ich dir das verrate, muss ich dich töten und dazupacken«, sagt sie geheimnisvoll und entlockt mir ein Lachen. »Was ist mit dir?«, fragt sie plötzlich.

»Was soll mit mir sein?«

»Keine Angst um deine Geheimnisse?«

»Ich glaube nicht, dass ich über Geheimnisse verfüge, die von öffentlichem Interesse sind.« Das einzige Geheimnis, das ich hüte, ist, dass ich mich an der NYU beworben habe und meine Freundinnen nichts davon wissen. Ich ignoriere die leise Stimme, die mir mitteilt, dass dies ein guter Zeitpunkt wäre, um damit herauszurücken. Aber noch habe ich keine Antwort von der Uni. Also wozu das Drama heraufbeschwören, wenn es am Ende möglicherweise völlig unnötig ist, sollte ich eine Absage erhalten?

»Stimmt, dir müssten wir schon etwas Brauchbares andichten. Du bist der Inbegriff von anständig.«

Das Piepen ihres Handys unterbricht unsere Unterhaltung.

»Genau deswegen wollte ich Henry heute Abend nicht dabeihaben«, poltert Dion ungehalten, nachdem sie auf das Display gesehen hat. Anschließend lässt sie das Handy neben sich aufs Bett fallen.

»Was ist mit Henry?«, weiche ich ihrer Frage aus.

»Er ist unzuverlässig«, mault sie.

»Hat er abgesagt?« Für meinen hoffnungsvollen Ton würde ich mich gerne selbst rügen. Am Valentinstag sitzen gelassen zu werden, ist schlimmer als an allen anderen Tagen im Jahr.

»Nein, aber er verspätet sich, obwohl ich ihm einen detaillierten Zeitplan geschickt habe mit der Notiz, dass er zwingend einzuhalten ist. Also, wie wichtig ist ihm das Ganze, wenn er nicht pünktlich ist? Es war seine Idee mitzukommen, ich habe ihn nicht darum gebeten.«

»Wie stark verspätet er sich denn?«, frage ich, weil Dion einen Hang zur Dramatik hat.

»Zehn Minuten«, schnaubt sie.

Ich verkneife mir ein Lachen, weil ich es geahnt habe.

»Die holt ihr sicher auf der Fahrt nach Manhattan wieder raus«, sage ich. Was genau ich da gesagt habe, wird mir erst klar, als Dions Kopf in meine Richtung schnellt und sie mich ansieht, als hätte ich die oberste Freundinnenregel gebrochen. Lass deine Freundinnen niemals hängen. Und genau das habe ich gerade angedeutet.

»Warte – warum bist du noch nicht umgezogen?«, fragt sie verdutzt, als sie bemerkt, dass ich in einer Leggings und Schlabberpulli auf dem Bett sitze.

»Ähm …«

»Heißt das, du kommst nicht mit?«

»Ja, ich denke, das bedeutet es.«

»Du denkst?« Ihr Ton ist eine Mischung aus missbilligend und enttäuscht.

»Na ja, Aspen hat Cameron, du hast Henry und ich bin nicht sonderlich scharf darauf, dass deine Mom jemanden für mich organisiert.«

»Warum hast du nicht jemanden gefragt, nachdem klar war, dass du als Einzige kein richtiges Date hast?«

Meint sie die Frage ernst? Dafür gibt es genau drei Gründe. Erstens: Wen hätte ich fragen sollen? Der einzige Kerl, mit dem ich gewissermaßen in Kontakt stehe, ist Jasper. Dion hat sehr deutlich gemacht, dass er unerwünscht ist. Zweitens: Er hat sicher bessere Pläne, schließlich hat er heute Geburtstag. Drittens – und das ist der entscheidende Grund: Es gibt keine vernünftige Erklärung, warum ich ihn hätte fragen sollen. Davon abgesehen, dass ich mich das ohnehin nicht getraut hätte.

»Weil da niemand ist.«

Skeptisch mustert sie mich. Meine beste Freundin glaubt mir nicht. Sie selbst hat gesagt, noch offizieller als der Valentinsball gehe nicht.

Jasper übt eine Anziehung auf mich aus, aber geht es auch darüber hinaus? Angenommen, es wäre so, bleibt die Frage: Beruht das Ganze auf Gegenseitigkeit? Es gibt Augenblicke, da würde ich Ja sagen, allerdings gibt es mindestens genauso viele, die ein Nein vermuten lassen. Es ist zum Verrücktwerden und ich habe keine Ahnung, wie ich unauffällig herausfinden kann, was genau das zwischen uns ist. Ob da überhaupt etwas zwischen uns ist.

Ich kann nicht an seine Tür klopfen und fragen: Hey, können wir kurz klären, ob wir aufeinander stehen? Das wäre, was Dion tun würde. Aber ich? Unwahrscheinlich. Ich würde vor Jasper stehen und kein Wort herausbringen.

»Woran hast du gemerkt, dass Henry an dir interessiert ist?«, frage ich, ohne darüber nachzudenken. In der nächsten Sekunde steigt mir die Röte ins Gesicht. Das ist kein Thema, über das wir normalerweise sprechen.

Ein Grinsen erscheint auf den dunkelvioletten Lippen meiner Freundin. Weil ich damit höchstwahrscheinlich ihren Verdacht, dass da sehr wohl jemand ist, bestätigt habe. Als Jasper mich von der Party abgeholt hat, hat sie eine Andeutung gemacht, als wüsste sie etwas. Aber ahnt sie auch, um wen es sich handelt? Nein, sie hätte mich sonst längst daran erinnert, dass wi r Jasper nicht mögen.

»War er nicht. Ich bin sehr hartnäckig, wenn ich etwas will.«

Ungläubig sehe ich sie an, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Henry damals kein Auge auf sie geworfen hat. Ich meine, er sieht sie an, als wäre sie sein verdammtes Universum.

»Und wie hast du ihn umgestimmt?« Okay, das klingt, als wäre ich verzweifelt. Was ich nicht bin. Maximal verwirrt, aber nicht verzweifelt.

»Ich habe ihn geküsst«, antwortet sie und zuckt mit den Schultern, als wäre es selbsterklärend.

Bei mir hat das Chaos, in dem ich stecke, genau damit angefangen, dass ich Jasper geküsst habe. Nein, er hat mich geküsst. Macht das einen Unterschied? Vielleicht. Fakt ist allerdings, wir haben es nicht getan, um das Feuer der Leidenschaft zwischen uns zu entfachen, sondern weil es Teil von Secret Enemy war. Dennoch, irgendwas haben wir damit ins Rollen gebracht.

Das Klingeln an der Tür lässt uns zusammenzucken. Dion sieht auf ihre goldene Armbanduhr und erhebt sich vom Bett.

»Sieben Minuten. Ich werde ihn später zappeln lassen, damit er lernt, pünktlich zu sein.«

Es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, was genau sie damit meint. »Bist du enttäuscht, dass ich nicht mitkomme?«

Dion geht um das Bett herum, bis sie neben mir steht, dann beugt sie sich zu mir herab und umarmt mich. »Du könntest mich niemals enttäuschen, Abbs. Du bist meine beste Freundin und ich liebe dich, vergiss das nie.«

Dion hat durchaus auch eine einfühlsame Seite, allerdings versteckt sie die häufig hinter ihrer toughen Art. Zuneigung verteilt sie in geringen Dosen, aber dafür sind sie umso bedeutungsvoller.

Als es erneut klingelt, schnaubt sie genervt. »Erst verspäten und dann drängeln.« Mit einem Kopfschütteln geht sie auf die Tür zu, bleibt stehen und dreht sich noch mal zu mir um. »Es gibt im Übrigen kein Gesetz, das besagt, dass der erste Schritt nicht auch von dir ausgehen kann. Wenn du wissen willst, ob jemand scharf auf dich ist, schmeiß dich in sexy Klamotten und sende ein eindeutiges Signal, in welche Richtung dein Interesse geht.« Sie schenkt mir ein ermutigendes Lächeln, das ich erwidere.

»Habt einen schönen Abend und grüß deine Mom von mir.«

»Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.« Und dann verschwindet sie aus dem Zimmer. Zwei Minuten später fällt die Eingangstür ins Schloss.

Okay, Abbie Westing, lass uns mutig sein.