23.
JASPER
Waterbury. Wie ich dieses College hasse. Nach Boston steht es auf Platz zwei meiner Liste unliebsamer Orte.
Es ist kurz nach neun, als ich auf das Gelände fahre. Der Campus ist wie leer gefegt, weil der Großteil der Studierenden den Tag der Liebe außerhalb feiert und die Vorlesungen morgen ausfallen.
Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Boston hat immer diesen Effekt auf mich. Jedes Mal, wenn das übergroße Schild am Straßenrand mich begrüßt, fühlt es sich an, als hätte man mir einen Strick um den Hals gelegt, der sich mit jeder Sekunde enger zusammenzieht. Diese Stadt ruft in mir keinesfalls das Gefühl von Nachhausekommen hervor, eher das Gegenteil ist der Fall.
In der Ferne, hübsch eingebettet in die Skyline, prangt das Logo von Anderson Real Estate auf einem der Wolkenkratzer. Auch wenn es in dem Dunst, der über den Dächern hängt, nicht zu erkennen ist, weiß ich, dass es da ist. Wie ein Mahnmal, das mich daran erinnert, dass ich schleunigst von hier verschwinden sollte, weil ich nicht erwünscht bin. Der einzige Grund, warum ich immer wieder in den Wagen steige und nach Boston fahre, ist meine Mom. Ohne sie würde mich niemand auch nur in die Nähe bekommen. Dieselbe Luft zu atmen wie Elijah, fühlt sich jedes Mal wie ersticken an, und dazu muss er nicht einmal im selben Raum sein. Dieselbe Stadt reicht völlig aus, um mich in ein nervöses Wrack zu verwandeln, das sich dreimal umsieht, ob er nicht hinter irgendeiner Ecke lauert.
Ich habe den Tag mit meiner Mom verbracht und bis sie auf Elijah zu sprechen kam, war es auch wirklich nett. Aber sie braucht bloß seinen Namen zu erwähnen und meine Stimmung kippt nicht nur, nein, sie rauscht ungebremst in den Keller. Weil ich einfach nicht verstehe, warum sie sich an einen Menschen klammert, der pures Gift ist. Genauso wenig, wie sie nachvollziehen kann, dass ich mich mit aller Macht von Elijah losreißen will.
Mit gemäßigtem Tempo nähere ich mich dem Bungalow. Sofort fällt mir die Gestalt auf, die sich vor dem Eingang herumtreibt. Cameron ist mit Aspen in Manhattan, um am Valentinsball der Carmichaels teilzunehmen. Dass er immer mehr in diese Kreise rutscht, bereitet mir Unbehagen, ohne genau zu wissen, woher das Gefühl von Missbilligung kommt. Vielleicht, weil ich Sorge habe, er könnte sich selbst untreu werden und sich in eine Gesellschaft hineinziehen lassen, die sich über Macht, Glamour und Intrigen, aber vor allem über Geld definiert. Nichts, womit ich mich identifizieren kann.
Ich werde langsamer und beobachte das Treiben vor der Haustür. Die Person schleicht zum Fenster.
Okay, wer bist du und was soll das werden?
In dem Augenblick, als ich in die Einfahrt biege, erfasst der Scheinwerfer meines Wagens den ungebetenen Gast.
»Fuck!«, entfährt es mir. Sobald ich geparkt habe, stelle ich den Motor ab, steige aber nicht sofort aus. Stattdessen lasse ich den Kopf gegen die Kopfstütze sinken. Nach so einem Tag ausgerechnet auf Abbie zu treffen, ist ein schlechter Witz. Weil mein Verstand sich in einer Art Leerlauf befindet und ich auf egal, was sich gleich ereignen wird, nicht vorbereitet bin. Denn sie steht sicher nicht grundlos vor der Tür.
Ich atme einmal tief durch, dann öffne ich die Fahrertür und klettere aus dem Mustang.
»Hey, Aschenputtel, solltest du nicht einen Prinzen daten und auf einem Ball tanzen?« Genau solche Anspielungen muss ich unterlassen, wenn ich sie auf Abstand halten will.
»Und solltest du nicht eine Geburtstagsfete schmeißen, anstatt allein abzuhängen?«, erwidert sie und lächelt frech.
»In der Regel haben alle an diesem Tag andere Pläne. Also, warum bist du hier und nicht in Manhattan?« Der miese Verräter kriecht aus seiner Ecke hervor und streut den Gedanken, dass sie meinetwegen auf einen Abend voller Love-Vibes verzichtet hat. Dass sie jetzt hier ist, spricht dafür, aber es könnte auch unzählige andere Gründe geben.
Die da wären? , wirft die Stimme in meinem Kopf ein.
Ich ignoriere sie, auch wenn es mir zunehmend schwerfällt, ihr nicht zuzuhören.
»Ich tue dem armen Kerl einen Gefallen und erspare ihm meine Gesellschaft.«
»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.« Die eigentliche Frage, die mir auf den Lippen liegt, ist, von welchem Kerl sie da redet.
Ich gehe auf Abbie zu und bleibe mit genügend Abstand vor ihr stehen.
»Na ja, wenn man auf dem Valentinsball der Carmichaels ohne Date auftaucht, bekommt man von Dions Mom eins zugewiesen«, erklärt sie und verzieht dabei kaum merklich das Gesicht.
»Verstehe, Tinder für Superreiche. Nur dass man sich das Match nicht selbst aussuchen kann. Klingt spannend.« Was für ein Nonsens.
»Ja, so in etwa, aber es kann durchaus spaßig werden.«
»Wirklich? Warum bist du dann hier bei einem Kerl, der angeblich nicht weiß, wie man Spaß hat?«, rutscht es mir viel zu schroff heraus. Jedenfalls hat sie das kürzlich behauptet, als sie eine Kurzanalyse meiner Persönlichkeit vorgenommen hat.
Das Lächeln in ihrem Gesicht verrutscht. Schlagartig habe ich ein schlechtes Gewissen, sie zum Blitzableiter für meine miese Laune gemacht zu haben. Abbie kann am allerwenigsten dafür, dass mein Geburtstag bisher eher desaströs statt denkwürdig war.
»Sorry, war ein langer Tag, ich habe es nicht so gemeint.«
»Dann komm ich ein anderes Mal wieder.« Ein winziger Anflug von Erleichterung schwingt in ihrer Stimme mit.
Warum ist sie hier, wenn sie es nicht sein will? Nachdenklich sehe ich sie an. Ich sollte sie nach Hause schicken.
»Lass uns drinnen bei einer Tasse Tee weiterreden«, sage ich stattdessen und deute mit einer Kopfbewegung in Richtung Bungalow.
Abbie seufzt leise und sieht unsicher zwischen mir und der Tür hin und her.
»Außer du hast dich zufällig hierher verirrt und bist nicht scharf auf meine Gesellschaft. Sollte ich in einem ungünstigen Moment zurückgekommen sein, gehe ich jetzt rein und tue so, als hätte ich dich nicht gesehen.« Einen Moment grinse ich sie an, dann gehe ich auf den Eingang zu.
Ich kann hören, wie Abbie hinter mir tief durchatmet, bevor ich ihre Schritte wahrnehme. Das mulmige Gefühl, das sich urplötzlich bemerkbar macht, ist wie eine Warnung. Weil Abbie mein heutiger Farbklecks in dem ganzen Grau ist und sie mich zerstört, sollte sie aufhören mein Innerstes zu kolorieren, bevor sie ihr Werk beendet hat. Vermutlich ergibt das keinerlei Sinn. Aber ich will nicht als ein unfertiges Gemälde in der Versenkung enden. So wie die unzähligen Programme auf meiner Festplatte, die nicht funktionieren und darauf warten, dass ich sie zum Laufen bringe oder in den Papierkorb verbanne.
Im Bungalow zögert sie, den Mantel auszuziehen. Ihre Finger verkrampfen sich um den Reißverschluss. Irritiert hebe ich eine Augenbraue und betrachte sie eingehend. Erst jetzt registriere ich, dass sie auffälliger als gewöhnlich geschminkt ist. Die zusätzliche Farbe nimmt ihr den unschuldigen Ausdruck und lässt sie älter wirken. Vielleicht auch ein bisschen verruchter, dominanter. Dennoch gefällt mir, was ich sehe. Mehr als es sollte. Aber so richtig bekomme ich nicht zu fassen, welche Wirkung sie gerade auf mich ausübt. Welchen Teil von mir diese Version ihres Gesichts anzieht. Den, der sie kennenlernen, oder den, der sie flachlegen will. Höchstwahrscheinlich beide. Was trägt sie unter dem Mantel? Etwa nichts? Ich kann nicht verhindern, dass mir dieses Bild durchaus zusagt.
»Alles okay?«, frage ich und hänge meine Jacke an die Garderobe.
Ein Grinsen erscheint auf ihren rosa glänzenden Lippen, als ihr Blick über mich wandert. Ich sehe an mir herab, kann aber nichts entdecken, was ein derartiges Schmunzeln rechtfertigen würde.
»Hübsches Hemd«, sagt sie betont ernst, obwohl sie sich sichtlich ein Lachen verkneift.
Das Hemd war ein Geschenk von Cameron. Er hat es bei einer Shoppingtour mit Aspen entdeckt. Für ihn war es eher ein Scherz, aber ich mag das Teil. Es ist schwarz und zeigt die Bad Guys von Super Mario in kleinen Abbildungen. Cam meinte, es unterstreiche meine Persönlichkeit. Mich erinnert es an die vielen Stunden vor der Spielekonsole mit meinem Grandpa.
»Ja, hatte vorhin eine Verabredung und wollte mich aussagekräftig kleiden«, schieße ich zurück, wohl wissend, dass ich diese Neckereien lassen sollte.
»Ah … und … wie lief es?« Neugier mit einer Spur Unsicherheit und vielleicht auch einem Hauch Eifersucht.
»Es war nett«, äußere ich vage und heize damit Abbies Missfallen an. Denn dass ihr die Vorstellung, ich könnte tatsächlich jemanden gedatet haben, gegen den Strich geht, steht ihr für eine Nanosekunde ins Gesicht geschrieben. Und mir sollte dieser Umstand kein Lächeln ins Gesicht zaubern. Meine Gesichtsregung entgeht ihr nicht, sie interpretiert sie aber eindeutig falsch, denn sie macht einen Schritt auf die Tür zu. Okay, hier läuft gerade etwas schief.
»Vielleicht gehe ich doch besser«, sagt sie zögerlich und ich fühle mich plötzlich wie der größte Arsch auf dem Planeten. Sie ist aus einem bestimmten Grund hier bei mir und nicht in Manhattan. Man muss kein Genie sein, um dahinterzukommen, warum sie ausgerechnet heute vor meiner Tür stand, gesunder Menschenverstand reicht aus. Aber der entscheidende Punkt ist, ich will nicht, dass Abbie geht.
Mit zwei Schritten überbrücke ich die Distanz zwischen uns. »Und ich denke, du bleibst«, sage ich, greife nach dem Reißverschluss ihres Mantels und ziehe ihn langsam nach unten. Unsere Blicke treffen sich. In ihrem lässt sich die Frage ablesen: Was tust du da? Wenn ich das wüsste. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich die Ausfahrt, die mich weg von ihr führt, längst verpasst habe.
»Ich war in Boston mit meiner Mom zum Essen verabredet«, kläre ich sie auf, auch wenn ich ihr keine Rechenschaft schuldig bin. Aber mich stört der Gedanke, Abbie könnte annehmen, ich würde von einem Bett ins nächste hüpfen.
Sie nickt. Mir wäre es lieber, sie würde etwas sagen.
Ich öffne den Mantel, als würde ich ein Paket auspacken. Mein erster Impuls ist, den Reißverschluss wieder zuzuziehen, als ich Haut erspähe. Abbie trägt ein rosafarbenes schulterfreies Kleid, das ihr bis zu den Knien reicht. Der tiefe Herzausschnitt ist wie eine Einladung, die Kuhle zwischen ihren Brüsten mit der Zunge zu erkunden. Beim Anblick ihrer Winterboots muss ich schmunzeln, weil sie nicht zum Rest passen, der sie wie ein gottverdammtes Geschenk des Himmels aussehen lässt.
Als ich ihr wieder ins Gesicht sehe, haben ihre Wangen den Farbton ihres Kleides angenommen.
Was hattest du vor, Abbie Westing, als du dich so zurechtgemacht hast? Wolltest du mir gefallen? Oder war das Outfit für dein a rr angiertes Date auf dem Ball bestimmt? Hast du spontan entschlossen deine Pläne zu ändern? Fuck! Sag, dass das hier nur für mich ist. Denn ich ertrage den Gedanken nicht, es könnte für einen anderen sein.
Nichts davon kommt mir über die Lippen, stattdessen ziehe ich ihr den Mantel aus und streiche dabei mit den Fingerspitzen über ihre Schultern. Sie erschaudert und eine Gänsehaut breitet sich auf ihrem Dekolleté aus. Weiche, warme Haut, die in mir das Verlangen nach mehr als unschuldigen Berührungen weckt. Bevor ich ihm nachgebe, um ein paar Antworten auf die unzähligen Fragen zu bekommen, die mir seit Wochen den Verstand rauben, wende ich mich ab und hänge den Mantel an die Garderobe.
Als ich mich wieder zu ihr umdrehe, treffen ihre Lippen auf meine, bevor ich zurückweichen kann. Meine Hände landen an ihrer Taille, ziehen sie näher zu mir heran, bis ich ihren Körper an meinem spüre. Ich erwidere ihren Kuss, weil in diesem Augenblick der Teil von mir gewinnt, der Abbie als die Farbpalette betrachtet, die sein abgefucktes Leben bunter macht.
Abbies Lippen teilen sich, ihre Zunge taucht in meinen Mund, als ich ihn öffne und zulasse, dass dieser Kuss zu mehr wird. Zu was genau, darüber denke ich gerade nicht nach. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, wie sie schmeckt und wie sie sich unter meinen Fingern anfühlt.
Ein leises Stöhnen entweicht ihr, als ich eine Hand in ihren Nacken schiebe und die Führung des Kusses übernehme, um das vorsichtige Herantasten zu beschleunigen. In meiner Fantasie habe ich sie schon hundertfach geküsst, habe ihr die Kleider vom Leib gerissen, bin mit ihrem Körper verschmolzen. Fuck, ich habe mir sogar vorgestellt, wie es klänge, würde sie meinen Namen stöhnen und mich anflehen, sie endlich zu ficken. Aber mindestens genauso oft habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, sie ganz langsam auszuziehen, jeden Zentimeter von ihr zu küssen, als hätte ich alle Zeit der Welt, weil es nicht darum geht, sie flachzulegen, sondern darum, sie zu lieben. Dieser Strudel aus rohem Verlangen und Gefühlen, die ich nicht kontrollieren kann, reißt mich regelmäßig mit sich, bis er mich ausspuckt und ohne eine allumfassende Erkenntnis zurücklässt. Weil ich darauf niemals eine Antwort finden werde, solange ich mir den Kopf darüber zerbreche, anstatt ein paar Grenzen zu übertreten.
Abbie drängt mich zurück, als hätte sie gerade eine ganz ähnliche Eingebung gehabt. Mit der Hüfte stoße ich erst gegen den Schuhschrank, dann gegen die Wand hinter mir, weil Abbie planlos ist, wo genau sie eigentlich mit mir hinwill. Ihre Hände streichen über meine Brust, tasten nach den Knöpfen des Hemdes, während meine ihr Gesicht umfassen, während ich von ihrem Mund Besitz ergreife. Ungehemmt und getrieben von Begierde, die sich wie ein Flächenbrand zwischen uns ausbreitet, siegt die Ungeduld.
Abbie hat inzwischen mein Hemd weit genug aufgeknöpft, dass sie ihre Finger unter den Stoff schieben und über meine Schlüsselbeine streichen kann. Sie wandern weiter. Tiefer. Jetzt bin ich es, der in ihren Mund stöhnt, als sie mit den Fingerspitzen meine Brustwarzen streift, die unter der Berührung wie auf Knopfdruck hart werden.
Fuck! Ich will diese Frau mit jedem Teil von mir und ich will jeden Teil von ihr, als wären wir ein verfluchtes Puzzle, das nun zusammengesetzt werden kann, weil das fehlende Stück aufgetaucht ist.
Ich komme in Bewegung, ziehe sie mit mir, stolpere rückwärts durch den Flur, bis wir an meiner Zimmertür angelangen. Sie prallt mit dem Rücken dagegen, als ich sie herumwirble und gleichzeitig einen Schritt nach vorn mache, ohne auch nur eine Sekunde meine Lippen von ihren zu lösen. Weil Abbie zu küssen sich anfühlt wie Atmen und nicht wie das Gefühl des Erstickens, das mich stetig begleitet. Weil Abbies Küsse wie bunte Farbspritzer auf grauem Untergrund sind. Lauter farbige Momente, die sich in meinem Innersten einnisten. Weil alles an Abbie sich wie der längst überfällige Neustart nach einem Software-Update anfühlt. Einem, von dem ich mir inzwischen sicher bin, es zu brauchen, um nicht weiter an etwas festzuhalten, das sich wie ein Virus durch meine Seele frisst.
Ich greife um sie herum nach der Klinke und drücke sie nach unten. Die Tür springt auf, zeitgleich schlinge ich einen Arm um ihre Körpermitte, damit sie nicht in den Raum hineinfällt, weil sie den Halt im Rücken verliert, und taste nach dem Lichtschalter. Das Nächste, was ich spüre, ist der Bettrahmen, weil ich mit den Waden dagegenstoße, und kurz darauf die Matratze unter sowie Abbies Gewicht auf mir.
Die Arme neben meine Schultern abgestützt sieht sie auf mich herab. Der Lipgloss ist verschwunden, stattdessen glänzen ihre leicht geschwollenen Lippen feucht von unseren Küssen. Ihre Wangen sind gerötet und die dunklen Haare rahmen ihr Gesicht ein. Verlangen lässt ihre Augen noch dunkler wirken und gleichzeitig funkeln. Ich fand sie schon bei unserer ersten Begegnung hübsch, aber jetzt ist sie das Schönste, was ich je gesehen habe. Und was wir hier im Begriff sind zu tun, ist absolut falsch. Shit!
Abbie schließt die Lücke zwischen uns, küsst mich, aber diesmal erwidere ich es nicht. Mein Gewissen gewinnt die Oberhand. Sie bemerkt es und löst sich von mir.
»Habe ich was falsch gemacht?«, flüstert sie und sucht meinen Blick.
Wie kommt sie nur darauf, sie hätte etwas falsch gemacht? Abbie ist perfekt. Nur eben nicht für mich. Weil sie es nicht verdient hat, dass ich sie in die ganze Scheiße mit hineinziehe, die hinter dem Rücken aller läuft.
Heuchler. Das hast du längst!
Ja, das hatte ich in den letzten Minuten erfolgreich verdrängt. Aber es ist ein Gesetz, dass dich das Karma fickt, wenn du am wenigsten damit rechnest.
Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch, ohne dabei wirklich Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen. Das Gefühl des Erstickens ist zurück.
»Nein«, antworte ich erschöpft. Und zum ersten Mal weiß ich, woher diese Müdigkeit kommt. Ich bin von mir selbst ausgelaugt. Davon, jemand zu sein und niemand zu sein.
»Ich habe dich überrumpelt.«
»Nein.« Ja, es kam unerwartet, aber hätte ich es nicht gewollt, wäre sie nicht in die Nähe meiner Lippen gekommen.
»Ich hätte vorher fragen müssen«, plappert sie weiter.
»Was?« In meinen Ohren beginnt es zu rauschen.
»Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« Hastig rückt sie von mir ab und klettert vom Bett.
»Lass das, Abbie«, sage ich und setze mich auf.
»Es tut mir leid, ich hätte das nicht tun sollen.«
Es fühlt sich an, als würde sich in meinem Kopf ein dichter Nebel bilden, während eine Entschuldigung nach der anderen ihren Mund verlässt.
»Abbie, hör bitte auf dich zu entschuldigen. Du hast nichts falsch gemacht. Ich will das hier, aber es geht nicht … nicht so.« Ich mache eine kurze Pause, damit sich mein Verstand klärt und ich kein noch größeres Chaos anrichte, weil ich meine Worte nicht überdacht habe. Denn aus der Sache kommen wir beide nur halbwegs unbeschadet heraus, wenn ich endlich reinen Tisch mache.
»Du hast recht, das hier ist unüberlegt. Du und ich … wir –«
»Abbie, kannst du mir vielleicht einfach ganz kurz zuhören?«, unterbreche ich sie. Denn egal, was sie sagen will, es wird sich ändern, sobald sie die Wahrheit kennt. Es war nie meine Absicht, Abbie wehzutun, aber genau das wird in weniger als einer Minute der Fall sein.
»Das mit deiner Mom ist meine Schuld.« Das nennt man die Wahrheit nicht in Watte packen plus fehlende Einleitung . Kurz und schmerzlos ist es dennoch nicht. Großartig, auf der Empathielinie habe ich soeben einen gewaltigen Schlenker gemacht und bin vom Kurs abgekommen.
Abbies Augen weiten sich. »Wie meinst du das, es ist deine Schuld?« Ihre Stimme bricht, weil sie ahnt, dass wir jeden Augenblick aus der Balance geraten.
»Ich habe den Geldwäscheskandal von Anderson Real Estate und dem Waterbury College aufgedeckt.«
»Du hast was?«, fragt sie überrascht. »Warum?«, fügt sie vorsichtig hinzu, nicht sicher, ob sie die Antwort auch tatsächlich hören will.
»Ich hatte meine Gründe.« Die Details würde ich gerne für mich behalten, auch wenn sie es dann eher verstehen würde.
»Welche denn?«, hakt sie nun entschlossener nach.
»Das ist nicht wichtig«, erwidere ich bestimmt.
»Ich denke schon. Mich würde nämlich interessieren, was wir dir getan haben, dass wir zu einer deiner Zielscheiben geworden sind.«
Genau das habe ich befürchtet – sie reagiert emotional, nicht rational. Ich kann ihr nicht verübeln, dass sie ihre statt meiner Familie in den Fokus rückt.
»Du musst wissen, ich habe nicht geahnt, dass die Stiftung deiner Mom in die Sache mit hineingezogen werden würde. Aber, und das ist die Wahrheit, zu dem Zeitpunkt war es mir auch egal, wie groß die Schneise sein würde, die ich schlagen musste. Mir ging es nur um Anderson Real Estate .«
»Hasst du deine Familie so sehr, dass du sie zerstörst?« Abbie starrt mich fassungslos an, weil es außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt, etwas anderes als Liebe für die eigene Familie zu empfinden.
Ich könnte ihr sagen, dass sich mein Hass nur gegen Elijah richtet, aber was macht das schon für einen Unterschied? Es macht weder ungeschehen, dass sie und ihre Mom zwischen die Fronten geraten sind, noch ändert es die Situation, in der wir uns augenblicklich befinden. Es ist nicht mehr als ein überflüssiges Detail.
»Du musst darauf nicht antworten. Es ist offensichtlich.«
Ich stehe vom Bett auf und mache einen Schritt auf Abbie zu. Sie weicht zurück und hebt abwehrend die Hand, damit ich mich ihr nicht nähere.
»Es tut mir leid«, sage ich, suche ihren Blick, aber sie lässt nicht zu, dass ich ihn finde.
»Was genau? Dass du beinahe die Existenz meiner Familie ruiniert hast oder dass du dich trotz allem in mein Leben geschlichen und nichts gesagt hast, obwohl du mehrfach die Gelegenheit dazu hattest?«
»Es tut mir leid, Abbie«, wiederhole ich, weil ich ihr nicht widersprechen kann, denn genau so war es.
»Warum, Jasper? Wolltest du dein Gewissen erleichtern, indem du dich als Beschützer und Retter aufspielst?«
Auch dem habe ich nichts entgegenzusetzen, wenngleich es nur ein Teil der Wahrheit ist. Sie würde mir nicht glauben, dass ich sie mag, sollte ich es ihr jetzt sagen. Damit würde ich dem Ganzen unnötig die Krone aufsetzen.
»Ich bringe es wieder in Ordnung.«
»Vielleicht hättest du vorher darüber nachdenken sollen, welche Konsequenzen dein Handeln für andere haben kann.«
»Du verstehst das nicht.«
»Nein, das tue ich wirklich nicht.«
Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen kann, um die Wogen zu glätten. Im Grunde wäre es auch egal, weil Abbie sich gerade in einem Zustand aus Verwirrung, Wut und Unverständnis befindet. Der Versuch, dieser Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, hätte nicht den gewünschten Erfolg. Vernünftiger ist es, ihr Zeit zu geben, damit sie ihre Gedanken sortieren kann, und dann neu anzusetzen. Und genau diesem Impuls folgt sie instinktiv, denn sie geht auf die Tür zu.
»Was auch immer dir deine Eltern angetan haben, es hätte sicher einen anderen Weg gegeben, als einen derartigen Rachefeldzug zu starten.«
Ich sehe ihr nach, hadere mit mir, ob ich sie aufhalten oder gehen lassen soll. Sie sieht über die Schulter. Diesmal treffen sich unsere Blicke. Sekunden vergehen, in denen wir uns ansehen. Versuchen, das zwischen uns festzuhalten und gleichzeitig loszulassen. Weil wir einander nicht egal sind. Weil da immer noch dieser magnetische Sog existiert. Weil Abbie und ich einzeln grau und zusammen bunt sind. Sie weiß das und ich ebenfalls.
»Soll ich dir verraten, was das Tragische an diesem Moment ist? Mein Bauchgefühl hat mich vor dir gewarnt, und trotzdem bin ich meinem Herzen gefolgt.« Dann verschwindet sie durch die offene Tür.
Für den Bruchteil eines Augenblicks starre ich auf die Stelle, wo sie stand, bevor sie entschieden hat, aus meinem Leben zu verschwinden. Dann folge ich ihr, obwohl ich es nicht sollte.
»Warte!«
»Worauf? Auf eine weitere Entschuldigung? Du kannst es nicht rückgängig machen.«
Nein, das kann ich nicht, aber das wirklich Tragische ist, ich würde es auch nicht tun, selbst wenn ich könnte. Nicht einmal für Abbie. Und genau deswegen verdiene ich ihre Vergebung nicht.
»Wir sind hier fertig und ich werde jetzt gehen, bevor einer von uns beiden etwas sagt, das er später bereut.«
Sie nimmt ihren Mantel vom Haken, zieht ihn an und greift in die Tasche, dann sieht sie mich mit einem schwachen, aber traurigen Lächeln an. »Ich hätte mir einen anderen Abschluss für diesen Abend gewünscht.« Ein leises Seufzen. Im nächsten Augenblick zieht sie eine der übrig gebliebenen Plastikenten aus ihrer Manteltasche und stellt sie auf dem Schuhschrank ab. Grau mit bunten Punkten. Eine kleine Karte baumelt am Hals des Spielzeugs, genau wie ein Stift.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, bleibt kurzzeitig mein Herz stehen. Weil es sich wie Sterben anfühlt, von ihr verlassen zu werden. Und mit jedem Schritt, den ich auf die Quietscheente zu mache, poltert es schmerzhaft in meiner Brust.
Ich nehme die Ente in die Hand und werfe einen Blick auf die Karte.
Wenn das Grau dich zu verschlucken droht, halt mit bunten Farben dagegen.
Happy Birthday, Jasper.
PS : Hiermit hast du offiziell einen farbigen Punkt bei mir frei.
Was meint sie damit? Ich sehe mir die Ente genauer an. Es befinden sich drei Punkte darauf. Nicht aufgedruckt, sondern gemalt. Ich drehe das Kärtchen um.
Grün – Dirty-Dancing-Moment
Lila – Schwimmhalle
Weiß – Labyrinth
Blau –
Ich ziehe die Kappe des Stiftes ab – Blau.
Fuck, ich bin so ein Idiot!