24.
ABBIE
Dass der Valentinstag so für mich endet, hätte ich nicht erwartet. Ich wollte nur ein Mal mutig sein. Was habe ich jetzt davon? Enttäuschung. Das ist das dominierende Gefühl. Dabei sollte ich wütend auf Jasper sein. Aber das bin ich nicht, ich bin enttäuscht. Von ihm, weil er es so weit hat kommen lassen, dass ich Gefühle für ihn entwickle, obwohl er mir etwas verheimlicht. Von mir, weil ich es geahnt und ignoriert habe.
Dabei verletzt mich nicht einmal die Tatsache, dass er dafür verantwortlich ist, dass die Stiftung meiner Mom in Schieflage geraten ist. Ich glaube ihm, dass es nicht seine Absicht war, uns mit hineinzuziehen. Was mich verletzt, ist, dass er nicht ehrlich war, weil ich jetzt jedes seiner Worte infrage stelle. Was ist wahr und was hat er gesagt, weil er angenommen hat, ich wolle es hören? Was hat dazu gedient, sein Gewissen zu bereinigen? Waren seine Annäherungsversuche aufrichtig oder nur Mittel zum Zweck?
Die Art, wie er mich geküsst hat, wirkte echt. Das Bedauern in seinem Blick ebenfalls. Aber mein Urteilsvermögen ist anscheinend eine Vollkatastrophe. Jasper hat eine nette Illusion geschaffen, indem er mich glauben ließ, wir säßen im selben Boot. Im Traum wäre ich nicht darauf gekommen, er könnte der Steuermann sein.
Das Schlimmste an der Sache ist allerdings, dass ich nun mit einem bunten Haufen an Gefühlen dasitze und keine Ahnung habe, was ich damit anfangen soll. Denn zwischen all der Verwirrung, Enttäuschung und den Zweifeln verstecken sich Zuneigung, Verständnis und Hoffnung. Eine Mischung, die nicht zusammenpasst und dennoch dafür sorgt, dass ich nicht aus der Balance gerate. Was verrückt ist, weil es keinen Sinn ergibt. Jasper hat mich enttäuscht und ich mag ihn nach wie vor. Gleichzeitig hoffe ich, dass am Ende alles gut wird. Aber für wen genau?
Mein Handy vibriert auf dem Badschrank. Auch ohne auf das Display zu sehen, weiß ich, dass es Jasper ist. Seit ich gestern Abend gegangen bin, hat er bereits viermal angerufen. Dass ich ein hoffnungsloser Fall bin, wurde mir in dem Augenblick klar, als ich mich dabei ertappt habe, mir zu wünschen, er stünde vor der Tür, statt anzurufen. Gott, ich kann sogar noch seine Haut unter meinen Fingern und seine Lippen auf meinen spüren.
Als das Vibrieren verstummt, nehme ich das Telefon zur Hand und stelle es aus, weil ich früher oder später schwach werden und seinen Anruf entgegennehmen würde.
Die sich plötzlich öffnende Badezimmertür lässt mich zusammenzucken.
»Hey, warum bist du hier statt in deiner Vorlesung?«, fragt Dion überrascht, als sie mich beim Zähneputzen entdeckt.
Ich spucke den Schaum ins Waschbecken und spüle mir den Mund mit Wasser aus. »Hab verschlafen«, antworte ich knapp und löse das Handtuch von meinem Kopf.
»Du hast was?« Dass ich eine Vorlesung sausen lasse, ist noch nie vorgekommen. Aber ich gebe zu, ich befinde mich in einem Motivationsloch. Zum einen, weil ich mich frage, wozu das Ganze, wenn wir uns möglicherweise das nächste Semester nicht leisten können. Zum anderen ist mein Kopf voll mit anderen Dingen.
Seufzend wende ich mich ihr zu. »Ich dachte, du kommst erst heute Abend aus Manhattan zurück.«
»Ich habe es nicht länger ertragen. Es ist mir ein Rätsel, wie es Paare 24 /7 miteinander aushalten.«
Dion durchquert das Badezimmer, klappt den Toilettendeckel hoch und knöpft im nächsten Moment ihre Jeans auf. Ich drehe ihr den Rücken zu, um ihr die nötige Privatsphäre zu gewähren, auch wenn es Dion herzlich egal ist. Grundsätzlich würde ich sagen, meiner Freundin ist nichts unangenehm.
»Babe, habt ihr irgendwo Milch?«, ruft Henry aus der Ferne.
»Im Kühlschrank«, antwortet sie ihm.
»Da habe ich gerade nachgesehen.«
»Dann sieh genauer hin!«, stößt sie genervt aus.
Ich verkneife mir ein Lachen. Dion drückt die Klospülung und tritt neben mich ans Waschbecken.
»Brauchen wir einen Müllsack und einen Spaten?«, fragt sie und lächelt aufmunternd.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil du aussiehst, als hätte dir jemand wehgetan.«
»Nein, ich habe nur schlecht geschlafen.« Dion glaubt mir nicht, denn sie zieht ihre rechte Augenbraue hoch. Natürlich nimmt sie es mir nicht ab. Sie ist Dion, Meisterin im Durchschauen. Ihr wäre Jaspers falsches Spiel nicht entgangen. Sie hatte von Anfang an recht, was ihn betrifft.
Das Klopfen an der Tür erspart mir ein Kreuzverhör. »Alles okay, da drinnen?«
Dion verdreht die Augen. »Wäre er nicht so fantastisch im Bett, hätte ich ihn längst in die Wüste geschickt«, sagt sie so laut, dass ich mir sicher bin, dass Henry es gehört hat.
»Nein, hättest du nicht, du liebst ihn«, flüstere ich.
Dions Miene wird ernst. »Sweetheart, wenn ich mir in einer Sache sicher bin, dann darin, dass das, was ich für Henry empfinde, weit entfernt von Liebe ist. Aspen und Cameron, das ist Liebe. Henry und ich sind höchstens eine Zwischenstation auf der Suche nach der Endhaltestelle. Verrat mich nicht, aber ich habe auf dem Valentinsball darüber nachgedacht, mich heimlich mit Hastings aus dem Staub zu machen.«
»Dion!«, entfährt es mir geschockt.
»Was? Ich schwöre, ich habe brav an meinem Pinot genippt und über seine schlechten Witze gelacht. Mir ist bisher nie aufgefallen, wie gerne Henry sich selbst reden hört. Und er macht seltsame Geräusche beim Essen. Das Schlimmste ist allerdings, meine Mom findet ihn ganz r eizend . Weißt du, was das bedeutet, Abbs?«
»Nein«, antworte ich und kann mir ein Grinsen nicht länger verkneifen, weil Dion mich gerade, ohne es zu wissen, von den schweren Gedanken ablenkt.
»Reizend bedeutet, dass sie nächste Woche an ihrem Zeichenbrett Entwürfe für ein Brautkleid macht.«
»Ja, das bietet sich an, sie ist Designerin. Oder wäre dir jemand anders lieber?«, frage ich todernst.
»Hast du mir gerade zugehört? Henry schmatzt beim Essen und liebt Flachwitze.«
Wir sehen einander an und dann lachen wir. Henry und Dion werden keinesfalls vor dem Traualtar enden. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die beiden das Ende der Woche erleben.
Erneut klopft es.
»Möglicherweise werde ich Henry in meinem Leichenkeller verscharren, wenn er mir weiterhin auf die Nerven geht.«
»Ich schweige wie ein Grab, sollte er spurlos verschwinden.«
»Okay, ich werde ihm jetzt helfen, die Milch im Kühlschrank zu finden, und ihn dann aus dem Haus werfen.«
Es vergehen zehn Minuten, bis ich das Bad verlasse und in meinem Zimmer verschwinde, um mir frische Sachen anzuziehen. Als ich die Küche betrete, sitzt Dion mit dem Handy in der Hand allein am Tisch.
»Wo ist Henry?«, frage ich und öffne den Hängeschrank. Ich nehme die bunten Frühstücksflocken heraus, mustere sie und stelle sie wieder zurück, weil sie mich zwangsläufig an Jasper erinnern. Im Kühlschrank finde ich einen Joghurt mit Schokoladensplittern und beschließe, dass er die Alternative zu den bunten Kringeln wird.
»Ich habe es mir anders überlegt und ihn direkt vor die Tür gesetzt«, klärt meine Freundin Henrys Verbleib auf.
»Verstehe«, sage ich und setze mich neben sie.
»Was machst du da?«, fragt Dion, als ich Secret Enemy auf meinem Handy öffne und das Enemy-Symbol antippe.
»Ich schalte die nächste Aufgabe frei.«
»Das wirst du nicht!« Sie nimmt mir das Handy aus der Hand.
»Und warum nicht?«
»Weil wir ganz sicher nicht die Nächsten auf der Liste des Verrückten sein werden.«
»Wir haben doch nichts zu verbergen.« Amüsiert grinse ich sie an, weil sie mich ansieht, als wäre ich übergeschnappt.
»Wir vielleicht nicht. Aber wir wissen, dass Cameron sich vergangenes Semester unter falschem Namen ins College geschlichen hat. Was wir nicht wissen, ist, warum. Aber was, wenn der Sprücheschreibende es weiß und es enthüllt, sollte eine von uns das Ranking anführen. Glaubst du wirklich, Cameron und der florale Hemdträger haben hier nicht irgendein Ding gedreht?«
Bis gestern Abend hätte ich gesagt, dass nichts Großes hinter dem Rollentausch gesteckt hat, aber irgendwie muss Jasper sich die Informationen zu der Geldwäsche beschafft haben. Und da das College in die Sache verwickelt ist und er sich ein bisschen zu gut auf dem Campus und in den Gebäuden auskennt, liegt der Verdacht nah, dass es eine Verbindung gibt. Wenn ich Dion davon erzähle, wird sie fragen, woher ich das weiß. Sie würde eins und eins zusammenzählen und mir einen Vortrag darüber halten, wie dumm es ist, sich in Jasper zu verlieben, und dass sie von Anfang an recht damit hatte, dass man ihm nicht trauen kann. Aber der eigentliche Grund, warum ich es ihr nicht verrate, ist, dass ich nicht will, dass sie Cameron auf ihre Blacklist setzt, jetzt, da sie ihm eine Chance gegeben hat. Und weil mein bescheuertes Herz hofft, dass in Jasper ein guter Mensch steckt, der eine unüberlegte Entscheidung getroffen und deren Konsequenzen nicht einkalkuliert hat.
»Aber das Geheimnis betrifft uns nicht direkt. Wir sind höchstens Mitwisser. Paula und Miguel haben die Dinge selbst getan und nicht nur davon gewusst. Also warum sollte X uns für das Geheimnis einer anderen Person bestrafen? Das ergibt keinen Sinn.«
»Und wenn X weiß, dass wir im vergangenen Semester Be My Date sabotiert haben und somit vermutlich die Ergebnisse des letzten Abschlussjahrgangs in die Tonne gehören? Was glaubst du, ist die Sache nah genug an uns dran, um dafür vom College zu fliegen?«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Dann wäre William Sullivan ebenfalls mit dran, weil er so nett war, uns zu helfen. Er sitzt in Informatik neben mir, ist eine Quasselstrippe und der Überflieger in unserem Kurs. Die meiste Zeit beschäftigt er sich damit, nebenbei eine App für seinen Bruder zu entwickeln. Ich hatte ihm ein paar Fragen gestellt. Zum Beispiel, wie man in ein Programm hineinkommt, zu dem man keinen Zugang hat, oder ob es möglich sei, einen Algorithmus auszutricksen, und wenn ja, wie man es anstellen müsse. Natürlich wollte er wissen, warum genau mich das interessiert.
Will ist ein netter, ehrlicher Kerl. Und ein Romantiker. Er hat eine vertrauenserweckende Ausstrahlung. Vermutlich habe ich ihn deswegen in unser Vorhaben eingeweiht. Sein Freund Jason war im Abschlussjahrgang und hat dabei geholfen, Will ins Programm zu schleusen. Wie genau das Ganze am Ende funktioniert hat, keine Ahnung. Das weiß ich wirklich nicht. Aber wenn Dions Theorie stimmt und Person X davon weiß, sollten wir keinesfalls das Risiko eingehen weiterzuspielen. Damit wäre meine Chance auf das Preisgeld dahin.
Klingt nach einer Geld-oder-Liebe-Entscheidung. Nur ohne Liebe. Und ohne Geld, denn wenn wirklich die führenden Spielenden ausgeschaltet werden, dann, damit X Secret Enemy am Ende gewinnt. Und damit wäre ich wieder bei Henry als Drahtzieher des Ganzen. Man gewinnt das Spiel sicher nicht dreimal in Folge, ohne nachzuhelfen.
»Abbs, du hörst mir schon wieder nicht zu.«
»Entschuldige, ich habe nur gerade darüber nachgedacht, ob überhaupt jemand außer der Person, die die Nachrichten verschickt, Secret Enemy gewinnen kann.«
»Zum Wohle unserer Freundin und zu unserer eigenen Sicherheit werden wir es nicht darauf ankommen lassen.« Dion tippt auf ihrem Handy herum.
»Was machst du da?«
»Ich habe den Exit-Button gedrückt.« Abwartend sieht sie mich an.
»Ich habe in dem Punkt noch keine finale Entscheidung getroffen«, sage ich und schließe die App.
»Du willst weiterspielen?«
»In erster Linie will ich herausfinden, wer dahintersteckt.« Und das Preisgeld gewinnen , füge ich in Gedanken hinzu. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass wir uns irren.
»Und wie genau willst du das anstellen?«
»Darüber denke ich aktuell nach.« Ich werde eine Strategie brauchen, um an möglichst viele Punkte zu kommen.
Ich sehe auf die Uhr. Da ich unter anderem noch den Zeit-halbieren-Enemy einsetzen muss, rechne ich kurz die Stunden aus, die mir bleiben, um eine finale Entscheidung zu treffen.