27.
JASPER
Je näher ich New York komme, desto größer wird der Druck in meiner Brust. Meine Mom rief mich bereits vor Stunden an, um mir mitzuteilen, dass sie im Penthouse wartet. Sie musste mir erst die Adresse nennen, zu der mich nun das Navi führt. Witzig, dass meine Familie Immobilien im ganzen Land besitzt und ich bisher nur die protzige Villa in Boston von innen gesehen habe. Aber es ist auch nicht so, als hätte ich viel Zeit meines Lebens in den Staaten verbracht.
Nichts hier fühlt sich vertraut oder nach Heimat an. Ich bin nicht mehr als ein Tourist auf der Durchreise, der darauf wartet, dass ein Flieger ihn dorthin zurückbringt, wo er hingehört. Aber immer wenn ich über meine Abreise nachdenke, schleicht sich die Frage ein, ob es nicht auch irgendwie anders geht. Der Auslöser dafür sind die unvorhergesehenen Dinge, die sich in den vergangenen Wochen entwickelt haben, deren Ursprung bei Abbie liegen. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen Was wäre, wenn? und Auf keinen Fall , das mich mürbemacht. Abbie plus Jasper ist eine Gleichung, in der die entscheidende Variable fehlt.
Nachdem ich ihr letzten Freitag bei der Erfüllung der Aufgabe für Secret Enemy geholfen hatte, habe ich genau das getan, was sie wollte. An diesem Nachmittag haben sich unsere Wege getrennt, ohne dass ich einen weiteren Versuch gestartet hatte, die Sache mit ihr ins Reine zu bringen. Es war schlichtweg der falsche Moment. Weil ich nach wie vor nicht bereit dazu bin, ihre Fragen zu beantworten. Warum das Ganze? Wovor hast du Angst? Was genau ist das zwischen uns? Eine Unterhaltung hätte uns nicht weitergebracht.
Meinetwegen steckt die Stiftung ihrer Mom in finanziellen Schwierigkeiten, und das macht mich wahnsinnig. Die Westings hätten niemals mit hineingezogen werden sollen. Das ist nichts, was man mal eben aus der Welt räumt. Das Geschehene steht wie eine Wand zwischen uns. Ich konnte es in Abbies Blick sehen. Diese Mischung aus Ich will, aber ich kann nicht . Und ich habe keine Ahnung, welcher Teil am Ende siegen wird. Nur deswegen bin ich gegangen. Die Entscheidung muss sie alleine treffen. Ihre Nähe zu suchen und sie damit zusätzlich zu verwirren, wäre kontraproduktiv.
Sonntag habe ich einen Blick auf das Ranking geworfen. Ihr Statement Be free. Be wild. Be yourself. hat Abbie auf Platz sechs im Gesamtranking befördert. Damit ist sie in der nächsten Runde nicht dabei, denn die erreichen nur die besten fünf. Die Offenbarung, dass Abbie es auf das Preisgeld abgesehen hatte, um ihrer Mom zu helfen, hat sich angefühlt, als würde man mir ohne Vorwarnung in den Magen treten. Es wäre ein Leichtes, einen Scheck rüberzuschieben, aber ich bezweifle, dass mir das zum jetzigen Zeitpunkt Sympathiepunkte einbringen würde. Für sie würde es den Eindruck erwecken, als versuche ich mein Gewissen reinzuwaschen. Ich werde mir etwas einfallen lassen, wie ich ihr unauffällig unter die Arme greife, um ihr die Sorge um die Existenz ihrer Familie zu nehmen.
Mein Blick wandert zum Display in der Mittelkonsole. Verbleibende Fahrzeit: sechsunddreißig Minuten. Bei unserem gemeinsamen Mittagessen in Boston habe ich meiner Mom zugesagt, sie zu einer Veranstaltung zu begleiten. Aus Gründen, an denen ich nicht ganz unschuldig bin, ist Elijah Anderson aktuell keine angemessene Gesellschaft. Nur deswegen habe ich zugesagt. Ich bin nicht sonderlich scharf auf die Kreise, in denen sich meine Eltern bewegen.
Warum sich meine Mom nach allem, was passiert ist, noch zu diesen Anlässen blicken lässt, ist mir ein Rätsel. Sie braucht nur durch die Tür zu treten und das Getuschel beginnt. Dessen muss sie sich doch bewusst sein. Ich würde gerne sagen, dass meine Mom das Bauernopfer ist, das ich erbringen musste, aber so ist es nicht. Was sie bisher nicht realisiert hat, ist die Möglichkeit, die sich ihr nun bietet. Der einzige Grund, warum ich heute Abend einen Smoking tragen werde, ist also, um sie an die Hand zu nehmen und ihr eine Richtung zu zeigen. Ein Leben ohne einen Mann, der nichts verdient außer der Hölle, die ihn erwartet. Die Tür habe ich ihm bereits geöffnet.
Als mich ein Schild in New York begrüßt, wird die Luft im Mustang zunehmend dünner und ein beklemmendes Gefühl macht sich in meiner Brust breit. Nicht, weil ich meine Mom nicht sehen möchte, sondern weil ich nicht in einer Horde Menschen stehen und mich angaffen lassen will. Menschen, die sich in einer Welt bewegen, in der ich mich nicht wohlfühle. Die ich nicht verstehe. Mit der mich nichts verbindet und zu der ich dennoch gehöre.
Ich setze den Blinker und nehme die Ausfahrt Richtung Manhattan. Dort schlängle ich mich durch den stockenden Verkehr. Am Ende brauche ich fast eine Stunde, bis ich in die Tiefgarage fahre und den Mustang neben dem weißen Aston Martin meiner Mom einparke. Durch die Frontscheibe starre ich auf die graue Betonwand vor mir, dann nehme ich das Handy aus der Halterung und öffne meine Playlist für Situationen wie diese. Momente, in denen ich kneifen, wegrennen oder mich in Luft auflösen will.
Mein Kopf sinkt gegen die Kopfstütze. Ich schließe die Augen und atme ein paarmal tief durch, während World Gone Mad von Bastille durch das Wageninnere dröhnt. Für eine Weile knipse ich die Welt aus, damit sie sich in einen schwarzen Bildschirm verwandelt.
Keine Ahnung, wie lange es dauert, bis ich mich dazu aufraffe, aus dem Auto zu steigen. Fünfzehn Minuten. Zwanzig. Noch länger. Als ich die wenigen Meter zum Fahrstuhl gehe, fühlt es sich nach nicht lange genug an.
Ich gebe den Code für das Penthouse ein, den mir meine Mom geschickt hat. Im nächsten Augenblick schließt sich die Fahrstuhltür. Mein Blick trifft auf das Bild, das sich mir im Spiegel bietet. Cam hat recht, ich sehe müde aus. Aber was ich verspüre, ist nicht die Art von Müdigkeit, die man mit genügend Schlaf in den Griff bekommt. Ich bin erschöpft von der Person, die ich erschaffen habe, um mich unverwundbar zu machen. Und je weiter die Müdigkeit fortschreitet, desto mehr zerfallen die Mauern um mein Innerstes zu Staub.
Mit den Fingern fahre ich mir durch die Haare, um sie in Form zu bekommen, dann hole ich die Fliege aus meiner Hosentasche und binde sie mir um den Hals. Eine automatische Stimme begrüßt mich im Penthouse, als sich die Tür zum Penthouse öffnet und den Blick in einen Flur freigibt. Kurz sehe ich mich um, bevor ich ihn durchquere und in einem großzügigen Wohnbereich lande. Weiße Wände, schwarze Möbel, silberne Akzente – unpersönlich. Damit unterscheidet sich die Inneneinrichtung nicht von dem Haus in Boston. Auf dem Glastisch liegt ein Stapel Zeitschriften. Das Gesicht, das meinem viel zu ähnlich sieht, blickt mir entgegen. Die Schlagzeile lautet: Elijah Anderson, CEO von Anderson Real Estate, äußert sich exklusiv zu den Vorwürfen . Ich nehme die Zeitschrift in die Hand. Auf der darunterliegenden prangt ebenfalls ein Foto von ihm. Staatsanwaltschaft bereitet Anklage vor. Ein zufriedenes Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich den Zeitungsstapel durchsehe.
Flüchtig überfliege ich den Artikel der heutigen New York Times , in dem neue Details zu den Machenschaften des Mannes, den ich verachte, offenbart werden. Weitere fünf Firmen werden erwähnt, die angeblich ebenfalls in der Sache mit drinstecken, genauso wie mehrere Scheinfirmen, deren Transaktionen zur Verschleierung dienten. Die Ermittlungen dauern weiterhin an. Das angeblich kann getrost gestrichen werden. Die Info mit den entsprechenden Beweisen habe ich letzte Woche anonym an die zuständige Ermittlungsbehörde geschickt. Wenn man jemanden vernichten will, muss man ihn stückchenweise zerstören. Legt man alle Karten, die man auf der Hand hat, gleichzeitig auf den Tisch, sitzt der Schlag nur für den Augenblick. Effektiver ist es, erneut zuzuschlagen, sobald das Gegenüber sich sicher fühlt. Nur so zwingt man es endgültig in die Knie. Eine Strategie, die ich von Elijah persönlich gelernt habe.
»Sieh dir das nicht an«, erklingt wie aus dem Nichts die Stimme meiner Mutter.
Ich lege die Zeitung zurück auf den Tisch und wende mich ihr zu. »Hey, Mom«, sage ich, überbrücke die Distanz zwischen uns und küsse sie auf die Wange.
»Du bist spät«, merkt sie an.
»Viel Verkehr«, antworte ich knapp und lächle.
»Gut siehst du aus.« Sie greift nach meiner Fliege und zupft sie zurecht. »So erwachsen«, fügt sie hinzu.
»Ich bin erwachsen.«
»Natürlich. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Ein Wasser wäre nett.«
Unsere Konversationen brauchen in der Regel ihre Zeit, bis sie sich von verkrampft über erträglich zu herzlich verwandeln. Als bräuchten wir eine gewisse Aufwärmphase. Diese leicht unterkühlte Art ist eindeutig auf die Blutlinie Fernsby zurückzuführen.
Ich folge ihr in die Küche. Eine weiße Kücheninsel trennt das Wohnzimmer vom Essbereich. Während sie mir ein Wasser und sich selbst ein Glas Rotwein einschenkt, nehme ich auf einem der Barhocker Platz.
»Wie läuft das College?«, will sie wissen und lächelt.
»Gut.« Ich lächle nicht zurück, weil ich es hasse, sie anzulügen.
Die nächsten dreißig Minuten verbringe ich damit, brav die Fragen meiner Mom zu meinem Alltag in Waterbury zu beantworten. Dass ich die Wahrheit mehr als nur einmal verdrehe, gefällt mir zwar nicht, aber es ist unumgänglich. Denn die Wahrheit ist, ich besuche keine Kurse, knüpfe keine Freundschaften und habe keine schöne Zeit. Ich hasse es dort. Dieser Ort ist wie ein Schraubstock, der sich jeden Tag eine Windung enger dreht und mich zusammendrückt, bis ich nicht mehr atmen kann.
Einzig Cam und Aspen machen das Ganze erträglich. Und Abbie , meldet sich meine innere Stimme. Ja, vor allem sie, allerdings auf einer völlig anderen Ebene. Sie sorgt dafür, dass mein Verstand nicht pausenlos auf Hochtouren arbeitet, sondern sich regelmäßig in den Stand-by-Modus begibt, sobald sie in meiner Nähe ist. Das Kuriose daran ist, dass es mich wahnsinnig macht, dass sie diesen Effekt auf mich ausübt. Gleichzeitig genieße ich diese Ruhepause in meinem Kopf. Die Auszeit von meinen Gedanken, Erinnerungen und der Suche nach Antworten. Und ich ertappe mich immer öfter dabei, dass ich diesen Zustand herbeisehne, wie ein Junkie, der nach seinem nächsten Rausch lechzt.
Allerdings befinden wir uns aktuell in einer rückläufigen Phase. Als stünden wir wieder am Anfang und irgendwie auch nicht. Weil unsere Ausgangsbasis sich verändert hat. Momentan weiß ich nicht, ob das gut oder schlecht ist. Aber es ist anstrengend und ermüdend, wenn man bedenkt, wie einfach es wäre, könnte man alles streichen, bis nur dieses eine Gefühl übrig bleibt. Vertrauen. Denn daran scheitern wir gerade. Abbie vertraut mir nicht. Jedenfalls nicht in dem Maße, in dem es nötig wäre, um eine gemeinsame Richtung festzulegen. Wie auch immer die letztlich aussehen mag.
»Wir sollten langsam los«, sage ich, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen habe.
Mom schiebt den Ärmel ihres dunkelroten Kleides etwas zurück und sieht ebenfalls auf ihre Armbanduhr. »Oh, schon so spät.«
Mein Magen zieht sich zusammen, als ich die blauen Flecken an ihrem Handgelenk entdecke. Mein Verstand katapultiert sich in Rekordgeschwindigkeit um zweieinhalb Jahre zurück und ich kann absolut nichts dagegen tun, als die Erinnerung aufploppt.
Mittwoch. Es schneit. Dabei sollte es mit dem sich ankündigenden Frühling allmählich wärmer werden. Ich sehe aus dem Fenster, beobachte die Schneeflocken, die sich an der Scheibe sammeln. Miss Burton hat meine Aufmerksamkeit schon vor zwanzig Minuten verloren.
»… prüfungsrelevant.«
Schlagartig bin ich hellwach und richte meinen Blick auf die Tafel.
»Wie ich sehe, sind die He rr en aus der letzten Reihe aus ihrem Dämmerschlaf erwacht.«
Ein Lachen hallt durch den Klassenraum, das erst verstummt, als die Tür sich öffnet und die Rektorin im Rahmen erscheint. Ihre Miene ist ernst, während ihr Blick über die Reihen wandert und schließlich an mir hängen bleibt. Sofort macht sich ein ungutes Gefühl in meiner Brust breit.
Miss Burton geht zu ihr. Die beiden wechseln wenige Worte miteinander, dann sieht die Lehrerin zu mir. Ein mitleidiger Ausdruck zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Mein Herz setzt für zwei Schläge aus und kommt polternd wieder in Bewegung.
»Jasper, pack bitte zusammen und begleite Miss Turnbull«, sagt sie so sanft, dass sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen ausbreitet. Wenn die Rektorin dich höchstpersönlich aus dem Unte rr icht holt, dann gibt es dafür genau zwei mögliche Gründe. Erstens: Du hast richtig Mist gebaut. Zweitens: Es ist etwas passiert. Möglichkeit eins kann ich ausschließen.
Schweigend folge ich Miss Turnbull an den anderen Klassenräumen vorbei den langen Flur hinunter, der zu ihrem Büro führt. Dabei zähle ich die Schritte. Es sind einundvierzig. Mit jedem einzelnen beschleunigt sich mein Herzschlag. Schnürt mir die Luft zum Atmen ab. In meinem Geist formen sich Szenarien, die mich erwarten könnten.
Wortlos öffnet die Rektorin die Tür. Das Erste, was ich erspähe, ist Mom. Sie spielt gedankenverloren mit dem rechten Ärmel ihres Kleides, schiebt ihn hoch und wieder herunter. Es ist das erste Mal, dass ich die blauen Flecken an ihren Unterarmen entdecke. Und es ist die Bestätigung dessen, was ich längst geahnt habe.
»Mrs Anderson.«
Hastig zieht sie den Stoff über ihr Handgelenk. Unsere Blicke treffen sich. Ihre Augen sind gerötet. Sie sieht müde aus. Vielleicht liegt es an dem dunklen Hosenanzug, dass sie so viel älter aussieht, als ich sie in Erinnerung habe. Mom trägt nie Schwarz, sie liebt freundliche Farben. Blumen. Muster. Kleider.
Regungslos verha rr e ich in meiner Position, unsicher, ob ich mich setzen oder lieber stehen bleiben soll, weil somit der Weg nach draußen kürzer ist. Ein schwaches Lächeln erscheint auf ihren Lippen, als sie sich erhebt und die Distanz zwischen uns überbrückt. Sie legt die Arme um mich und für einen Wimpernschlag zögere ich, die Umarmung zu erwidern. Dann weint sie. Irgendjemand ist tot, ist mein erster Gedanke. Der zweite: Bitte, lass es meinen Dad sein.
Er ist es nicht. Es ist Maxwell Fernsby. Mein Großvater. Mein Anker. Mein Verbündeter. Mein Vorbild. Mein Alles.
»Jasper?« In der Art, wie meine Mutter meinen Namen ausspricht, schwingt ein Flehen mit, ihr diesen Abend nicht kaputtzumachen. Nicht wieder eine Diskussion über Elijah anzuzetteln. Denn genau das ist an meinem Geburtstag geschehen.
Sie liebt ihn. Ich verachte ihn.
Sie verteidigt ihn. Ich klage ihn an.
Ich reiße meinen Blick von ihrem Unterarm los und schlucke die Worte herunter, die mir auf der Zunge liegen. Seit ich es weiß, habe ich sie mehrfach darauf angesprochen. Es ist beängstigend, wie viele Ausreden sie für das Offensichtliche erfindet. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, der Polizei einen Tipp zu geben, aber Elijah ist, wer er ist. Und solange er dazu fähig ist, sie zu manipulieren, würde es rein gar nichts ändern. Ich hasse dieses Gefühl von Hilflosigkeit und klammere mich daran fest, dass er in der Hölle schmoren wird, wenn mein Plan aufgeht. Für das, was er meiner Mom antut, und für das, was er mir angetan hat.
Im Flur blickt sie unsicher in den Spiegel. »Wie sehe ich aus?«, fragt sie, als sich unsere Blicke treffen.
»Wunderschön.« Aber sie wäre noch schöner, würde sie nicht in diesem mit Gold getarnten Käfig stecken.
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange, dann helfe ich ihr in den Mantel und schiebe sie aus der Tür.