28.
ABBIE
Platz sechs. Kein Preisgeld. Kein Jasper. Kein rein gar nichts. Secret Enemy ist für mich vorbei.
Ich habe es nicht in die nächste Runde geschafft. Dabei dachte ich wirklich, die Aktion würde mir viele Punkte einbringen. Aber für ein aussagekräftiges Statement hätte ich wahrscheinlich die Verwaltung niederbrennen müssen.
Dion hat meinen Frust bemerkt, also kam ich nicht drum herum, ihr zu verraten, dass ich weitergespielt und ihre Bedenken bezüglich X ignoriert habe. Sie hat mit ihrer typisch dramatischen Art reagiert und anschließend drei Tage lang geschmollt. Nach aktuellem Stand gewinnt Henry zum vierten Mal in Folge Secret Enemy . Ich glaube immer noch, er hat einen Weg gefunden zu schummeln. Dennoch bin ich froh, dass das Spiel für mich vorbei ist. Für mich war Aufgabe vier schon eine nervliche Zerreißprobe und ich will nicht wissen, was mich in Runde fünf und sechs erwartet hätte.
Das Geldproblem löst sich mit meinem Ausscheiden allerdings nicht in Luft auf und das bereitet mir massives Kopfzerbrechen. Heute Morgen habe ich bereits eine Liste der Dinge in meinem Besitz erstellt, die ich verkaufen könnte. Aber viel kommt da auch nicht zusammen. Ein prall gefüllter Designerkleiderschrank wie der von Dion mit lauter limitierten Klamotten und Taschen ist sicher die reinste Goldgrube. Ich hingegen habe dreihundert Dollar weniger auf dem Konto vorzuweisen, die ich für die Teilnahme am Spiel blechen musste.
Ein leises Klopfen an der Tür lenkt meine Gedanken wieder zu meinem Spiegelbild. Unsicher sehe ich an mir herab, streiche den Stoff des taupefarbenen, ärmellosen Kleides glatt, das meine Mom für den heutigen Abend für mich ausgewählt hat. Es ist hübsch. Schlicht und nicht zu freizügig. Lediglich der Rückenausschnitt zeigt etwas mehr Haut als nötig. Aber nicht so viel, dass ich mich damit unwohl fühle. Die Vorderseite hingegen verdeckt vollständig mein Dekolleté.
»Du siehst bezaubernd aus«, ertönt die Stimme meiner Mom hinter mir.
Ich drehe mich zu ihr um und lächle sie an. »Es ist auch ein sehr schönes Kleid«, erwidere ich.
Meine Mom mag in ihrer Erziehung streng gewesen sein, aber sie hat mir nie das Gefühl gegeben, sie würde mich nicht lieben. Sie hat lediglich sehr klare Vorstellungen, wie ich zu sein habe. Und grundsätzlich teile ich ihre Meinung. Es ist nichts verkehrt daran, höflich, bescheiden und strebsam zu sein, aber es fühlt sich oft an, als wäre ich die langweiligste Person auf diesem Planeten.
»Wenn dein Dad dich sehen könnte, würde er sagen …« Sie verstummt und betrachtet mich wehmütig.
»Was für eine magandang babae ich bin«, beende ich ihren Satz. Eines Tages wirst du eine wunderschöne junge Frau sein. Das hat er immer zu mir gesagt, wenn ich über mein Aussehen gemeckert habe, weil ich nicht so eine schöne blonde Mähne wie Aspen habe, die in weichen Wellen über meine Schultern fällt, sondern Haare, die schwer und starr herunterhängen. Oder weil ich nicht wie Dion makellose Haut hatte, sondern sich auf meiner Stirn ein Pickel an den nächsten reihte.
Über den Spiegel blicke ich in das Gesicht meiner Mom, das meinem nur bedingt ähnelt, weil sich die optischen Merkmale von Dad durchgesetzt haben. Die schwarzbraunen Haare, die dunklen Augen, die breite Nase und die Gesichtsform. Von Mom habe ich die geringe Körpergröße und die zierliche Statur. Nach dem Tod meines Dads war es schwer für meine Mom, mich anzusehen, ohne in Tränen auszubrechen.
Als ihre Augen verdächtig glänzen, wende ich den Blick ab, gehe zum Kleiderschrank und nehme den Mantel heraus.
»Da ist übrigens gestern ein Brief für dich angekommen.«
Oh, oh, ich ahne, wer der Absender ist.
»Willst du mir vielleicht erklären, warum dir die NYU Unterlagen für die Aufnahme eines Studiums schickt?«
»Heißt das, ich wurde angenommen?«, entfährt es mir etwas zu euphorisch und lasse ihre Frage unbeantwortet.
»Ja, aber ich würde gerne wissen, warum du dich überhaupt an der NYU beworben hast.«
»Versprich mir, dass du nicht böse bist?«
»Natürlich bin ich nicht böse auf dich, ich würde allerdings gerne deine Beweggründe für diesen Schritt erfahren.«
»Zuerst war es nur eine fixe Idee. Ich dachte, ein Wechsel an die NYU wäre eine finanzielle Entlastung und ich könnte dich besser unterstützen, wenn ich nicht die ganze Woche in Waterbury festsitze«, beginne ich und sehe sie entschuldigend an.
»Gott, Abbie, hast du etwa gedacht, ich kann dein College nicht bezahlen? Wie kommst du denn darauf?« Sie klingt nicht so aufgebracht, wie ich erwartet hätte.
»Ich habe dein Telefonat mit Mrs Stanley belauscht. Du hast gesagt, dir brechen die Geldgeber weg und du weißt nicht, wie du die Löcher stopfen sollst. Die Studiengebühren in Waterbury sind dreimal so hoch wie an der NYU .«
»Und deswegen hast du dich sofort dort beworben?«
»Ja, irgendwie schon. Aber das ist nicht der einzige Grund. Ich vermisse dich. Ich vermisse New York. Um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, nicht nach Waterbury zu gehören.«
»Aber deine Freundinnen sind doch dort«, sagt sie irritiert.
»Und ich glaube, das ist das Problem. Seit dem Kindergarten hängen wir aufeinander. Es fühlt sich an, als hätte ich nie eigenständig existiert, immer nur in Verbindung mit den beiden. Im Gegensatz zu mir kommen Aspen und Dion wunderbar alleine klar. Ich denke, ich brauche mal etwas Zeit für mich, um herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Ich liebe meine Freundinnen, aber im Augenblick sind sie mir zu viel«, offenbare ich meiner Mom die Wahrheit.
Ein Lächeln erscheint auf ihren Lippen. »Warum hast du denn nicht gesagt, dass du am College unglücklich bist?«
»Ich wollte dich nicht enttäuschen. Du warst dort. Dad war dort. Ihr habt euch dort verliebt. Ich habe immer geglaubt, ich müsste nach Waterbury, um dort ebenfalls mein Glück zu finden.« Ich zucke mit den Schultern. All die Jahre hat sich die Vorstellung in meinem Kopf richtig angefühlt. Aber eben nur so lange, bis ich in meiner Zukunft angekommen war.
Mom nimmt mich in die Arme. »Die Entscheidungen, die du triffst, sollen dich glücklich machen und dir nicht vernünftig erscheinen. Okay. Ob Waterbury oder die NYU , selbst wenn du kein College besuchen willst und andere Wege gehst, ich werde immer stolz auf dich sein, weil du mein tapferes, kluges Mädchen bist.«
»Du bist also wirklich nicht sauer, wenn ich die Uni schmeiße und stattdessen im Central Park als Pantomimin arbeite?«, frage ich scherzhaft, weil das als Kind eine sehr lange Zeit mein Traumberuf war.
»Vielleicht reden wir darüber, wenn du es ernsthaft in Betracht ziehst«, erwidert sie und lacht. Ihr Lachen wirkt fremd, weil ich es zuletzt vor langer Zeit gehört habe. Aber es klingt schön.
Ich drücke sie fest an mich, weil ich erleichtert bin, dieses Gespräch nun hinter mir zu haben. Die Vorstellung der Reaktion meiner Mom, sollte ich an der NYU angenommen werden, hat mir einige Bauchschmerzen bereitet. Dass sie so locker damit umgeht, hätte ich nicht erwartet. Meine Mom ist in ihren Ansichten mehr als gerade. Es stand nie ein anderes College zur Debatte. Ich bin quasi schon mit der Einschreibung für Waterbury auf die Welt gekommen. Jetzt meinen eigenen Weg zu gehen, egal wie er letztlich aussehen wird, fühlt sich seltsam befreiend an. Seit ich ausgezogen bin, hat Mom sich verändert. Als würde der neu geschaffene Raum uns beiden guttun. Wenn ich an die NYU wechsele, werde ich mir eine kleine Wohnung suchen und nicht zurück in mein Kinderzimmer ziehen.
Ist es verrückt, dass ich Vorfreude empfinde, obwohl es bedeutet, Aspen und Dion vorerst hinter mir zu lassen?
»Wollen wir los, bevor sich die Stanleys über das Buffet hermachen und wir an einem Salatblatt knabbern müssen?«
Mom sieht auf ihre Uhr. »Oh, das Taxi wartet auch bereits«, sagt sie und eilt aus dem Zimmer.
»Miss kita« , flüstere ich und sehe zu dem Foto auf dem Nachtschrank. Ich vermisse meinen Dad wirklich, aber ich glaube, dass er gerade auf seiner Wolke sitzt und zufrieden lächelt. Kurz atme ich durch, dann folge ich meiner Mom.
Dreißig Minuten später hält der Fahrer vor dem The Shed , einem abstrakt aussehenden Gebäude, das im Grunde eine mit viel Glas versehene Stahlkonstruktion ist, über die jemand lieblos einen weißen gesteppten Überwurf gestülpt hat. Direkt daneben befindet sich eine gigantische nicht weniger abstrakte Treppenkonstruktion, die an einen Trichter erinnert und deren Stufen kein Ziel haben. Es ist nicht mehr als eine Touristenattraktion, die interessant anzusehen ist.
»Na gut, lass uns Hände schütteln und freundlich lächeln, um ein paar neue Gönner aufzutreiben«, sagt Mom, sobald sie neben mich auf den Bürgersteig tritt.
»Wir schaffen das schon«, spreche ich ihr Mut zu, nehme ihre Hand und gehe auf den Eingang zu. Unser Ziel ist die oberste Etage. Jonathan und Carmen Stanley feiern heute ihren zwanzigsten Hochzeitstag. Sie unterstützen die Stiftung seit der Gründung, weil ihr jüngster Sohn ungefähr zur selben Zeit wie mein Dad an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben ist. Es war ihre Idee, dass wir heute kommen und die Gelegenheit nutzen, um neue Kontakte zu knüpfen.
Als wir den Saal betreten, ist er gut gefüllt. Die Blumendekoration in Weiß, Gold und Rosa ist so omnipräsent, dass man sie gar nicht übersehen kann. Unzählige runde Tische, helles Porzellan, poliertes Besteck. Eine Bühne im vorderen Bereich, auf der eine Band in weißen Anzügen für musikalische Unterhaltung sorgt. Bedienungen, die sich mit vollen Tabletts durch die Gäste schlängeln und deren Ausdruck zwischen freundlich und genervt schwankt.
Eine Servicekraft hält uns ein Tablett entgegen, auf dem sich kleine Glasschälchen befinden. Mit einem Lächeln nehme ich eins davon und rieche unauffällig an dem Inhalt. Ein Shrimpscocktail. Da ich zuletzt zu Mittag etwas gegessen habe, verschlinge ich ihn regelrecht. Bevor die Bedienung mit dem Tablett weiterzieht, schnappe ich mir ein weiteres Schälchen und stelle das leere darauf ab. Meine Mom sieht mich erstaunt an. Statt etwas zu sagen, zucke ich mit den Schultern und gehe weiter.
Auf einer langen Tafel türmen sich hübsch eingepackte Geschenke. Abrupt bleibe ich stehen und wende mich meiner Mom zu. »Wir haben kein Geschenk dabei«, sage ich leise.
Einen Moment sieht sie mich verwundert an, als wüsste sie nicht, wovon ich rede. Mit einem Nicken deute ich in die richtige Richtung.
»Ach, das meinst du. Jonathan und Carmen haben gesagt, dass sie kein Geschenk wollen.«
»Augenscheinlich haben sich daran nicht alle gehalten.«
»Lynn, meine Liebe«, dringt eine schrille Stimme an mein Ohr. Im nächsten Moment tritt Mrs Stanley mit ausgebreiteten Armen aus der Menge und stürmt regelrecht auf uns zu. Der Hosenanzug, den sie trägt, erinnert stark an eine Diskokugel aus den Siebzigern. Ihr schlohweißes Haar hat sie akkurat hochgesteckt. Das Highlight bildet allerdings das mit blauen Steinen besetzte Diadem, das perfekt zu ihren High Heels passt, die denselben Farbton aufweisen. Plötzlich komme ich mir in meinem taupefarbenen Kleid underdressed vor.
»Es ist so schön, dass ihr gekommen seid.« Küsschen rechts, Küsschen links. Widerwillig halte ich erst die eine, dann die andere Wange hin.
»Danke für die Einladung, ich weiß eure Hilfe sehr zu schätzen.«
»Liebes, Jonathan und ich helfen gern.«
»Ich weiß, trotzdem, mir bedeutet das viel.«
Einer der Kellner bleibt neben uns stehen. Carmen greift nach einem Glas Champagner, meine Mom ebenfalls. Als er nicht weitergeht, sehe ich ihn an. Sein Gesicht ist freundlich. Strohblonde Haare, die ihm wirr in die Stirn hängen, als wäre er erst kurz zuvor mit den Fingern hindurchgefahren. Hohe Wangenknochen. Volle Lippen, die einen frechen Zug haben. Unsere Blicke treffen sich. Tiefbraune Augen, wie flüssige Schokolade. Aber es sind nicht die braunen Augen, die mich in meinen Träumen um den Verstand bringen. Ich hatte gehofft, mit dem nötigen Abstand würde es sich legen, dass Jasper meine Gedanken beherrscht.
Auffordernd hält mir der Kellner das Tablett entgegen.
»Damit lässt sich der Abend besser überstehen«, flüstert er kaum hörbar und grinst. So ganz unrecht hat er mit seiner Aussage nicht.
Er zwinkert mir zu, als ich nach einer Champagnerflöte greife. Gleichzeitig nimmt er mir das leere Schälchen ab.
»Danke.«
»Ich komme später noch mal und versorge dich mit Nachschub.« Und dann verschwindet er zwischen den Leuten.
Ich sehe ihm nach, bis mein Blick an einer anderen Person hängen bleibt. Jasper. Unsere letzte Begegnung ist eine Woche her. Er hat Wort gehalten, als er, nachdem er mir bei der Erfüllung der vierten Aufgabe geholfen hatte, meinte, unsere Wege würden sich hier trennen. Kein zufälliges Aufeinandertreffen. Kein Anruf. Keine Textnachricht. Als hätte unsere Verbindung nie existiert. Als wäre sie nicht mehr als eine Illusion gewesen.
Das Verrückte ist, dass ich sie jetzt, da er nur wenige Schritte von mir entfernt steht, überdeutlich spüre. Mein Herz sehnt sich nach seiner Nähe. Mein Verstand hingegen will dem Gefühl nicht nachgeben. Für einen Moment wünschte ich, er würde in meine Richtung sehen und mir die Entscheidung abnehmen, indem er die Distanz zwischen uns überbrückt. Was er nicht tun wird, denn er ist in Begleitung einer Frau. Auch wenn ich kein Recht dazu habe, verspüre ich Eifersucht beim Anblick der beiden.
Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, weil sie mir den Rücken zugedreht hat. Das kastanienbraune Haar fällt lockig über ihre Schultern. Sie trägt ein langärmliges, enges bernsteinfarbenes Etuikleid und High Heels in schwindelerregender Höhe. Dennoch ist sie einen halben Kopf kleiner als Jasper, der zu meinem Leidwesen in dem schwarzen Smoking umwerfend aussieht. Er wirkt abwesend, während sich sein Date mit jemandem unterhält.
»Abbie, Schatz, wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, höre ich meine Mom neben mir sagen.
»Ich dachte, ich hätte eine Freundin gesehen, habe mich aber geirrt«, antworte ich.
»Carmen hat gerade erzählt, dass sie die Geschenke nachher verlosen und der Erlös der Stiftung zugutekommt. Ist das nicht großartig?«
»Ja, ganz großartig«, erwidere ich abgelenkt, weil mein Kopf sich automatisch wieder in Jaspers Richtung dreht. An der Stelle, wo er bis vor wenigen Sekunden stand, steht nun jedoch ein Kerl mit Halbglatze. Ich suche den Raum nach ihm ab, kann ihn aber unter den vielen Leuten nicht ausmachen.
»Sucht doch schon mal euren Tisch. Wir haben Platzkarten aufgestellt. Es müsste einer der äußeren sein. Wir eröffnen gleich das Buffet«, sagt Carmen und lächelt freundlich.
Die Stanleys sind wirklich nett und haben das Herz am richtigen Fleck. In den vergangenen Jahren bin ich ihnen ein paarmal begegnet und es war immer herzlich. Carmen ist etwas überdreht, aber der seelenruhige Jonathan gleicht das aus.
»Carmen gibt sich bei der Dekoration so unglaublich viel Mühe, findest du nicht auch?«
»Mhm«, brumme ich und suche erneut den Raum nach Jasper ab, ohne zu wissen, zu welchem Zweck. Er ist mit einer anderen hier, als hätte er mich ersetzt. Was Quatsch ist, weil wir nie mehr waren als die wenigen farbigen Momente, die wir gemeinsam erschaffen haben. Momente, die daraus entstanden sind, dass er sein Gewissen erleichtern wollte. Aber er hat auch gesagt, dass etwas zwischen uns ist, das sich nicht ignorieren lässt. Anscheinend kann er es doch.
Er ist wie ein Chamäleon. Immer wenn ich denke, ich hätte ihn durchschaut, verändert sich sein Wesen. Seine unberechenbare Art macht mich mindestens so wahnsinnig, wie sie mich fasziniert. Es ist mir ein Rätsel, wie jemand anziehend und abstoßend zugleich sein kann. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er genau das in seinem Gegenüber auslösen will. Diese Verwirrung. Diese Neugier. Diesen Drang dahinterzukommen, welches Spiel er spielt. Wohl wissend, dass es unmöglich ist, weil er die Regeln aufstellt und somit allen immer einen Schritt voraus ist.
Mom schiebt mich weiter in den Saal hinein und auf die Tischgruppe zu, die Carmen erwähnt hat. Neugierig lese ich die Platzkarten und halte nach unseren Namen Ausschau. Fitzgerald. Hoffentlich sitzen wir nicht mit Ava an einem Tisch. Sie redet wie ein Wasserfall, und das am liebsten über sich selbst. Gonzales. Sind das die mit den Luxusautohäusern oder die mit der Restaurantkette? Hastings. Vielleicht sollte ich Dion anrufen? Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln.
Nach drei weiteren Tischen verstehe ich das System. Sie sind alphabetisch eingeteilt. Deswegen sitzen die Fitzgeralds, Gonzales und Hastings gemeinsam an einem Tisch. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet mit Jasper an einem Tisch zu landen, auf unmöglich. Die Erkenntnis lässt mich tatsächlich erleichtert aufatmen. Ich würde ungern mit ihm und seinem Date an einem Tisch sitzen. Gedanklich gehe ich die möglichen Nachnamen durch. Young. Die sind ganz nett. Wilson. Wäre auch okay. White. Nur nicht die Walkers.
»Lynn«, unterbricht eine vorsichtig klingende Stimme meinen Gedankengang. Ich sehe auf und direkt in Jaspers Gesicht.
»Scarlett«, entfährt es meiner Mom überrascht.
Mein Blick landet auf der Frau neben ihm. Kastanienbraunes Haar, bernsteinfarbenes Etuikleid und wunderschön. Das ist seine Mom, kein Date. Die Ähnlichkeit zu Jasper ist nicht zu übersehen. Er ist ihr Ebenbild, nur mit härteren Konturen und dunklem Haar. Diese Erkenntnis sollte mich nicht derart erleichtern, genauso wenig, wie mein Herz bei seinem Anblick Fahrt aufnehmen sollte. Aber genau das passiert, als sich unsere Blicke festhalten, als hätten sie einander vermisst.
»Du erinnerst dich an Jasper? Ihr habt euch letzten Sommer in Cincinnati kennengelernt.«
»Ja, natürlich. Freut mich, dich wiederzusehen.«
»Das ist –«
»Hallo, Abbie«, schneidet Jasper meiner Mom mit einem selbstgefälligen Grinsen das Wort ab.
Ihr Kopf schnellt raketenartig in meine Richtung. »Ihr kennt euch?«
Aus mir völlig unerklärlichen Gründen beginnen meine Wangen zu glühen. »Nicht wirklich«, behaupte ich.
Jasper zieht nur die linke Augenbraue hoch, wahrscheinlich weil wir uns für nicht wirklich ziemlich nahegekommen sind.
»Jasper besucht auch das Waterbury College«, erklärt Mrs Anderson und lächelt stolz.
»Scheint ein kleiner Campus zu sein«, antwortet meine Mom. Ich kann ihren skeptischen Blick auf mir spüren. Sie fragt sich gerade, ob Jasper der Grund dafür ist, dass ich so dringend das College wechseln will. Aber Jasper hat damit rein gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Dem Teil, der ihn zu sehr mag, gefällt die Vorstellung nämlich nicht, ihn nicht mehr zu sehen.
»Ja, ist sehr überschaubar. Man läuft immer wieder denselben Menschen über den Weg.« Seiner Stimme hört man klar und deutlich ein Grinsen an.
Ich würde ihm gerne sagen, dass er den Mund halten soll, weil meine Mom sehr wohl eins und eins zusammenzählen kann.
»Wo sitzt ihr?«, unterbricht Mrs Anderson die Unterhaltung, bevor es unangenehm wird.
»Wir suchen gerade unseren Tisch«, antwortet meine Mom.
Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Jasper nach einer der Tischkarten greift und sie in den Fingern dreht, bis die Schrift lesbar ist. Westing.
»Ich nehme an, es ist dieser«, sagt er gedehnt und stellt die Karte neben eine weitere. Anderson.
»Das muss ein Fehler sein. Die Tische sind alphabetisch eingeteilt. A kommt am Anfang und W am Ende des Alphabets«, plappere ich drauflos und kassiere dafür einen amüsierten Blick. Seine selbstgefällige Art hasse ich mindestens so sehr, wie ich es liebe, wenn sich seine Mundwinkel auf diese Art verziehen. Als hätte nur ich die Macht, ihn zum Lächeln zu bringen. Ich schwöre, ich habe ihn noch nie jemanden anderen mit diesem Funkeln in den Augen anlächeln sehen.
»Wie schön, ihr habt euch bereits zusammengefunden.«
Nahezu zeitgleich drehen wir die Köpfe zu Carmen, die mit einem strahlenden Lächeln neben dem Tisch steht. Bevor einer von uns antworten kann, ergreift sie erneut das Wort.
»Ich hoffe, es ist okay für euch. In Anbetracht der aktuellen Umstände wollte ich Scarlett mit jemandem zusammenbringen, den sie kennt und der eine gute Seele hat.« Sie sieht zu meiner Mom. Wir wissen alle, welche Umstände sie meint. Es zeugt schon von Stärke, dass Mrs Anderson hier ist. Ich kann mir vorstellen, dass sie nicht nur mit neugierigen Blicken, sondern auch mit unangenehmen Fragen konfrontiert wird. Ist Jasper mitgekommen, um seiner Mom beizustehen? Das passt allerdings nicht dazu, dass er sie überhaupt erst in die Situation gebracht hat. Also, was steckt dahinter, dass er seine Familie derart bloßstellt? Dass er gerade den Abstand zu ihr verringert, als wolle er sie beschützen, verwirrt mich zusätzlich.
»Natürlich, ich könnte mir keine bessere Gesellschaft vorstellen«, antwortet meine Mom.
Ich könnte das sehr wohl.
Seine Mom lächelt Carmen dankbar an. Plötzlich bereue ich meinen letzten Gedanken. Ich möchte nicht mit den Andersons tauschen. Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen, sie stecken nach wie vor mitten im Desaster.
»Und Sie, junger Mann, sind der Freund unserer bezaubernden Abbie?«
Unserer? Das klingt mehr als seltsam, aber ich verkneife mir einen Kommentar. »Was? Nein!«, platze ich stattdessen heraus, was Jasper ein leises Lachen entlockt. Ich würde ihm wirklich gerne vor das Schienbein treten oder ins Gesicht boxen. Okay, nicht ins Gesicht, wäre schade drum. Aber in den Magen. Das geht klar. Warum kitzelt der Kerl ausgerechnet diese Seite an mir hervor? Im Traum hätte ich nicht gedacht, dass ich überhaupt zu solchen Gedanken fähig bin. Ihm ins Gesicht boxen, ernsthaft?
»Das ist Jasper, mein Sohn.«
»Ach wie schön. Sind Sie aus London zu Besuch?«
»Nein, er besucht das Waterbury College.«
Jasper atmet sichtlich tief durch und setzt dann ein Lächeln auf, das auf seinen Lippen völlig deplatziert wirkt.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Stanley. Danke für die Einladung«, sagt er steif. Fühlt er sich etwa unwohl?
»Carmen, Mrs Stanley war meine Schwiegermutter. Gott habe sie selig, den Drachen.«
Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. »Entschuldigung«, schiebe ich hinterher und sehe zu Jasper, der aufrichtig grinst.
»Nun gut, ihr Lieben, genießt den Abend. Ich suche Jonathan, damit er endlich das Buffet eröffnet, bevor jemand vor Hunger ohnmächtig wird.«
Meine Mom ist die Erste, die sich setzt. Ich kann Jaspers Blick auf mir spüren, als ich mich ebenfalls hinsetze und das halb volle Glas vor mir abstelle. Er wählt den Platz mir gegenüber. Irgendwie habe ich nichts anderes erwartet, denn mich aus der Reserve zu locken, erheitert ihn und scheint für heute sein Ziel zu sein. Seine Mom lässt sich neben ihm nieder. Ein Geräusch, als würde jemand mit einer Gabel gegen ein Glas tippen, dringt durch die Lautsprecher. Ein Mikro pfeift. Autsch!
»Entschuldigt, die Technik ist mir heute nicht wohlgesonnen«, hallt Jonathans Stimme durch den Saal. »Aber wir freuen uns sehr, dass ihr alle gekommen seid, um gemeinsam mit uns unser Jubiläum zu feiern. Ich sehe auch ein paar Gesichter, die bereits bei unserer Hochzeit dabei waren. Zwanzig Jahre, wo ist die Zeit nur geblieben? Ich kann voller Stolz sagen, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war, dieser Frau auf einer Verbindungsparty auf die Designerschuhe zu kotzen!«
Gelächter hallt durch den Saal.
»Wenn eine Frau dich heiratet, obwohl du ihre Lieblingsschuhe ruiniert hast, ist es Liebe. Merkt euch diesen Rat fürs Leben.«
»Brauchst du Nachschub?«
Erschrocken zucke ich zusammen, als nicht nur die Worte in mein Ohr dringen, sondern ich auch einen warmen Windhauch auf der Wange spüre. Ich lehne mich etwas nach rechts, um den Kellner von vorhin ansehen zu können, der sich zu mir heruntergebeugt hat. Dann huscht mein Blick für nicht länger als einen Wimpernschlag zu Jasper. Dennoch entgeht mir nicht, wie er missbilligend die Augenbrauen zusammenzieht.
Ich greife nach meinem Glas, trinke es in einem Zug aus und reiche es dem blonden Kerl mit einem breiten Lächeln.
»Unbedingt. Die Gesellschaft heute Abend ist nicht besonders sympathisch«, flüstere ich laut genug, dass er und auch Jasper es hören.
»Wenn dir die Party hier zu lahm ist, ich habe in zwei Stunden Feierabend.«
Okay, vielleicht war es doch keine gute Idee, Jasper provozieren zu wollen, wenn dabei ein Angebot für einen One-Night-Stand herausspringt. Ich rutsche unbeholfen auf dem Stuhl herum und denke darüber nach, wie ich höflich ablehne.
Ein Räuspern, das eindeutig aus Jaspers Richtung kommt, lässt den Kellner den Blick von mir abwenden und zu ihm schauen. Die Rede von Jonathan rückt augenblicklich in den Hintergrund, als sich meine Aufmerksamkeit auf das Blickduell der beiden Männer am Tisch richtet.
»Ich störe nur ungern diesen plumpen Annäherungsversuch, aber besteht die Möglichkeit, eine Tasse Tee zu bekommen?«, fragt Jasper gelangweilt.
»Was?«, entgegnet der Kellner perplex.
»Ich hätte gerne einen Earl Grey.«
»Nein, ich glaube nicht, dass es Tee gibt.«
»Es macht Ihnen doch sicher nichts aus, kurz nachzufragen.«
Wow, Jaspers stoische Arroganz beeindruckt nicht nur mich, sondern auch den Kerl neben mir.
»Natürlich«, sagt er kleinlaut.
»Danke, sehr freundlich.« Lässig lehnt er sich im Stuhl zurück, holt sein Handy hervor und ignoriert die Tatsache, dass ich ihn anstarre. Ich reiße meinen Blick von ihm los und sehe dem Kellner nach, vermute aber, dass er nicht zurückkommen wird.
»Lange Rede, kurzer Sinn: Das Buffet ist eröffnet.«
Schlagartig kommt Bewegung in den Saal. Stühle werden zurückgeschoben und alle scheinen dasselbe Ziel zu haben.
»Wie geht es denn Elijah?«, fragt meine Mom an Mrs Anderson gewandt.
»Die Sache nimmt ihn mit und er vergräbt sich noch mehr in Arbeit. Da die Ermittlungen weiterhin andauern, sind ihm in vielen Dingen die Hände gebunden. Das macht ihn wahnsinnig.«
»Wisst ihr denn inzwischen, wie es zu den Anschuldigungen gekommen ist?«
»Nein, es war wohl ein anonymer Hinweis.«
Ich sehe zu Jasper, dessen Mundwinkel zucken, während er starr auf das Display sieht.
»Du wirst sehen, am Ende wird alles gut«, sagt meine Mom, greift über den Tisch und legt ihre Hand auf die von Scarlett, die sie dankbar anlächelt.
»Ja, ganz gewiss. Es tut mir leid, dass du in die Sache mit hineingezogen wurdest. Wenn ich irgendwas tun kann … Carmen meinte, die Stiftung leide darunter und dir brechen wichtige Gelder weg.«
Jasper sieht zu seiner Mom und dann zu mir. Er mustert mich, als warte er darauf, dass ich etwas dazu sage. Ihn auffliegen lasse. Einen Moment halte ich seinem Blick stand, dann stehe ich von meinem Stuhl auf.
»Ich plündere mal die Häppchen«, verkünde ich und deute in Richtung Buffet. Kurz darauf quetsche ich mich zwischen den Leuten hindurch und stelle mich in die Schlange.
»Alles okay?«, fragt Jasper hinter mir. Ich hätte wissen müssen, dass er mir folgen würde.
»Musste das wirklich sein?«, erwidere ich, ohne ihn anzusehen.
»Was genau?«
»Den armen Kerl mit deiner Arroganz zu bestrafen«, spreche ich die Situation mit dem Kellner an und lasse bewusst die Unterhaltung unserer Mütter aus, weil es ohnehin zu nichts führen würde. Ihm tut es leid, aber es ändert nichts an dem, was geschehen ist. Er verrät mir nicht das Warum und ich brauche die Antwort darauf, um ihn zu verstehen. Und das würde ich gerne, weil ich die Tatsache, dass ich in ihn verliebt bin, weder ausblenden noch rückgängig machen kann.
Jasper verringert offenbar den Abstand zwischen uns, denn ich spüre plötzlich seinen Oberkörper in meinem Rücken. Er beugt sich vor.
»Wäre es dir lieber gewesen, wenn in der nächsten Sekunde eine Hand unter dein Kleid gewandert wäre?«
Genau wie vorhin spüre ich einen warmen Windhauch, als Jaspers Atem meine Wange streift. Nur dass sich diesmal eine Gänsehaut auf meinem Hals bildet, die sich langsam über den Rest meines Körpers ausbreitet.
»Wie kommst du darauf, dass er das vorhatte?«, frage ich heiser, weil seine Nähe mich nicht kaltlässt. Ganz und gar nicht. Hitze wandert von den Zehenspitzen hinauf bis zu meinen Wangen, als ich seine Hände an meiner Taille wahrnehme. Jasper weiß genau, welche Wirkung er auf mich hat, und nutzt sie gerade zu seinem Vorteil.
»Er wollte mit den Fingerspitzen über die Innenseite deiner Schenkel streichen, um sich zu vergewissern, ob die Haut dort so zart ist wie in seiner Fantasie«, flüstert er und entfacht damit ein Feuer in meinem Inneren, das mich niederbrennt und gleichzeitig dafür sorgt, dass ich mich lebendig fühle. Jasper Anderson geht mir auf eine Art unter die Haut wie niemand sonst. Ich wünschte, es wäre möglich, bei null anzufangen. Doch würden wir uns nach wie vor wie Magnete anziehen, wenn alles, was uns zusammengeführt hat, auch nicht mehr existieren würde?
»Was macht dich da so sicher?« Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, als seine Lippen mein Ohrläppchen streifen.
»Weil ich seit unserer ersten Begegnung an nichts anderes denken kann.« Seine Hände streichen von meiner Taille abwärts zu den Außenseiten meiner Oberschenkel und wieder hinauf. »Das und noch viel mehr will ich herausfinden.«
Die Worte vibrieren in meinem Ohr und breiten sich wellenartig in Brust, Bauch und zwischen besagten Schenkeln aus. Und warum tust du es nicht? Wo der Gedanke herkommt, darüber muss ich gar nicht nachdenken, die Antwort kenne ich längst.
»Und ich werde es, wenn du mich lässt. Abbie. Eine Chance, obwohl ich die nicht verdiene, und ich beweise dir, dass du mir vertrauen kannst. Ich werde deine Fragen –«
Er verstummt abrupt, aber ich glaube, er wollte sagen, dass ich die Antworten von ihm bekomme, die ich brauche, damit wir zueinanderfinden. Dass er diesen Schritt auf mich zu machen, sich nicht länger verschließen will und mir erklären wird, warum er es getan hat. Mehr habe ich nie verlangt. Er soll die Dinge nicht ungeschehen machen. Was ich will, ist Ehrlichkeit.
Der Griff um meine Taille wird fester. Weil ich mehr von ihm spüren will, lehne ich mich kaum merklich gegen ihn und werde im selben Augenblick nach vorne geschoben. Weg von ihm. Ein protestierender Laut entweicht mir, als er die Verbindung zwischen uns kappt.
Er atmet tief durch. »Wir führen unsere Unterhaltung später fort«, sagt er und klingt plötzlich nervös.
Ich blicke über meine Schulter und sehe gerade noch, wie Jasper aus der Warteschlange tritt und in der Menge verschwindet.
Das könnte ihm so passen! Er kann nicht das, was auch immer er gerade mit mir angestellt hat, tun und sich danach einfach aus dem Staub machen. Ohne zu wissen, was genau ich ihm eigentlich sagen will, folge ich Jasper, sehe mich nach ihm um und laufe wenige Sekunden später prompt in ihn hinein. Seine Hand schnellt zurück, landet an meiner Hüfte. Er hält mich an Ort und Stelle, als wolle er mich hinter sich verstecken. Ich bin mir zumindest ziemlich sicher, dass er weiß, dass es meine Brüste und nicht die einer anderen sind, die sich in diesem Augenblick gegen seinen Rücken drängen.
An seiner rechten Schulter vorbei werfe ich einen Blick auf das, was ihn wie erstarrt im Raum hat anhalten lassen. Schwarzer Anzug. Ebenso hochgewachsen wie Jasper. Die gleichen markanten Konturen. Rabenschwarzes Haar. Spitzes Kinn. Strenger Zug um die Lippen. Mein Blick trifft auf den des Mannes, der vor Jasper steht. Braun, kühl, neugierig, erhaben, aber vor allem missbilligend. Eine Mischung, die dafür sorgt, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Das Unbehagen verstärkt sich, als sich Jaspers Finger beinahe schmerzhaft in mein Fleisch bohren.
»Ich wollte gerade gehen.« Jaspers Ton ist scharf wie eine Messerklinge, als er mit seinem Dad spricht. Es ist unmöglich, nicht zu wissen, wer Elijah Anderson ist. Auch ohne die aktuellen Medienberichte ist sein Gesicht eins der bekanntesten des Landes.
Mit einem gezielten Blick versucht Mr Anderson seinen Sohn in die Knie zu zwingen. Ich frage mich, was genau zwischen den beiden vorgefallen ist, dass Jasper seinen Dad den Wölfen zum Fraß vorwirft, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass sich alles um ihn dreht. Jaspers Blick kann ich nicht sehen, aber er wird dem seines Dads mit seiner typischen Abgeklärtheit standhalten.
In dem Moment, als Mr Anderson den Kopf zur Seite neigt und mich damit vollends ins Visier nimmt, dreht sich Jasper abrupt um. Ich weiche nicht zurück, obwohl ich es vermutlich sollte. Noch nie habe ich so viel Hass vermischt mit Schmerz gesehen wie in dieser Sekunde in seinen Augen. Aber ich weiß, dass er nicht mir, sondern seinem Dad gilt. Das freundliche Braun ist einem Schwarz gewichen, das einen in die Tiefe zu ziehen droht, sobald man es wagt, sich auf die Schlucht zuzubewegen. Und in diesem Augenblick stehe ich gemeinsam mit ihm an der Klippe.
Jaspers Blick fixiert mich, wird weicher und voller Emotionen, die ungefiltert auf mich einstürzen. Eisern halte ich ihnen stand. Es fühlt sich an, als träfen wir eine stumme Übereinkunft. Eine, die uns aneinanderkettet und dazu zwingt, das Offensichtliche nicht länger zu ignorieren: dass das zwischen uns tiefer geht. Das klingt mindestens so verrückt, wie es sich anfühlt, denn bis vor wenigen Minuten hätte ich geschworen, dass Jasper nicht dasselbe empfindet wie ich. Etwas, das über körperliche Anziehung hinausgeht.
Und dann passiert es: Ich wehre mich nicht länger gegen meine Gefühle, vertraue Jasper mein Herz an und hoffe, dass er uns am Ende nicht beide in dieses dunkle Nichts stößt, das ihn gerade umgibt.
»Deine Freundin?«
Der herablassende Ton seines Vaters jagt mir einen Schauer über den Rücken. Keinen der angenehmen Art.
Jasper sieht zu seinem Dad, antwortet aber nicht.
»Hübsch, die Kleine. Offensichtlich hast du wenigstens den Frauengeschmack von mir geerbt, mein Sohn.« Die Bezeichnung Sohn spuckt er Jasper spöttisch vor die Füße. Was zur … »Wenn ich mich vorstellen darf, Elijah –«
»Wag es ja nicht!«, schneidet Jasper ihm das Wort ab, greift nach meiner Hand und zieht mich ohne Vorwarnung mit sich durch die Menge. Weg von seinem Dad. Raus aus dem Saal, bis mir kühle Luft entgegenschlägt. Er hastet die Treppenstufen vor dem The Shed hinunter. Ich stolpere hinter ihm her, weil er seine Finger nach wie vor fest um meine geschlossen hat. Sobald mein Fuß den Gehweg berührt, bleibt er abrupt stehen.
»Fuck!«, brüllt er, wirbelt herum und lässt mich so ruckartig los, als hätte er sich verbrannt. Er weicht einen Schritt zurück, als ich einen auf ihn zu mache.
Dann sehe ich sie – Angst. Roh. Wild. Brutal. Verletzend. Grausam.
»Was war das gerade?«, presse ich hervor, weil der Anblick eines gefallenen Jasper mir die Luft abschnürt. Er ist in die dunklen Tiefen des Abgrunds gestürzt, in den ich vor wenigen Sekunden einen Blick werfen durfte.
»Ich sollte nicht hier sein … du solltest nicht hier sein … wir sollten nicht hier sein«, redet er wirr, geht auf den Bordstein zu und hebt einen Arm, als sich ein Taxi nähert.
»Jasper, was ist da drinnen mit deinem Dad passiert?«, frage ich erneut, weil ich es gerne verstehen würde.
Ich greife nach seinem Unterarm, um ihn von der Straße zurückzuziehen. Grob schlägt er meine Hand weg. Ich stolpere rückwärts und verliere beinahe das Gleichgewicht.
Entsetzen spiegelt sich in Jaspers Gesicht wider, dann wendet er sich von mir ab. »Geh wieder rein, Abbie«, sagt er schroff.
»Nein«, widerspreche ich.
»Ich habe gesagt, du sollst verdammt noch mal zurück auf die Party gehen!« Verzweiflung liegt in jedem einzelnen Wort und fährt mir bis ins Mark. Was ist ihm bloß widerfahren, dass er vor meinen Augen gerade derart die Kontrolle verliert?
»Das werde ich nicht, bevor ich weiß, ob es dir gut geht.« Ich kann das Zittern in meiner Stimme hören. Es rührt nicht von der Kälte her, sondern daher, dass ich jetzt diejenige bin, die Angst hat. Angst um ihn. Und sie wird nicht weniger, als er sich zu mir umdreht.
Für einen Moment schließt er die Augen, atmet tief durch, sieht mich an. Und da ist er wieder, der abgeklärte Ausdruck in seinem Gesicht, der den Anschein erweckt, nichts auf der Welt könne ihm etwas anhaben. Aber es ist zu spät. Ich weiß jetzt, dass es nicht so ist. Dass hinter der Fassade ein Abgrund lauert, der beängstigend ist.
Das Taxi hält neben ihm.
»Abbie, lass mich gehen. Bitte«, sagt er unendlich sanft. Es steht damit im völligen Kontrast zu dem Ton, den er eben noch an den Tag gelegt hat.
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Weil ich ihn nicht gehen lassen will. Weil er nicht bei mir bleiben will. Weil er längst weg ist. Er hat die zarten Ketten, die uns vor wenigen Minuten noch zusammengehalten haben, gesprengt. Und ich habe keine Ahnung, warum. Was ihm derart Angst macht, dass er davonläuft. Vor mir. Vor seinem Dad. Vielleicht sogar vor der ganzen Welt.
»Tu das nicht«, flüstere ich und schlucke die Enge in meinem Hals herunter, bevor sie mich endgültig erstickt.
Einen winzigen Augenblick zögert er, dann steigt er in das wartende Taxi und verschwindet auf den endlosen Straßen New Yorks.