29.
JASPER
»Sie können mich hier rauslassen«, sage ich zu dem Taxifahrer, weil ich es in der Enge nicht mehr aushalte. Ich brauche dringend etwas Bewegung, um meinen Verstand wieder mit meiner Gefühlswelt in Einklang zu bringen.
»Sind Sie sicher? Das hier ist keine gute Gegend«, erklärt er und fummelt nervös an seiner Mütze herum, als könne er selbst nicht schnell genug von hier wegkommen.
»Ja«, versichere ich ihm und reiche ihm fünfzig Dollar. »Stimmt so. Und danke fürs Mitnehmen.«
Ohne zu zögern, steige ich aus dem Wagen, atme die kühle Nachtluft ein und sehe mich um. Der Fahrer hat recht, ich sollte mich keinesfalls hier herumtreiben, dennoch gehe ich die Straße entlang. Vorbei an den heruntergekommenen Häusern. Stecke zwanzig Dollar in den Pappbecher eines Kerls, der auf dem Boden sitzt und mich nach ein bisschen Kleingeld fragt. Höchstwahrscheinlich kauft er sich davon Alkohol, denn neben ihm steht eine leere Flasche. Aber wer bin ich, darüber zu urteilen, worin er Halt findet?
Egal wie viel Zeit vergangen ist, es war nicht genug, um mich auf ein Wiedersehen mit dem Mann vorzubereiten, den ich einst als meinen Vater bezeichnet habe und der mich seit jenem Tag, an dem ich in den Abgrund gestürzt bin, mit purer Verachtung straft. In dem Augenblick, als er vor mir stand, war alles wieder da. Die Bilder. Das Bersten. Der Schmerz. Die Monate, die folgten. Nicht mehr zu wissen, wer ich bin, wer ich sein will. Ob ich überhaupt noch sein will. Noah. Der Fall. Das Liegenbleiben. Das Wiederaufstehen. Der Kampf gegen mich selbst. Jedes noch so kleine Detail.
Und dann war sie da, Abbie, und mit ihr die Angst. Es war die Art, wie er sie angesehen hat, die in meinem Verstand einen Kurzschluss verursacht und mich die Kontrolle hat verlieren lassen. Dieses zerstörerische Funkeln in seinen Augen. Als hätte ich ihn zu einer weiteren Runde herausgefordert, mir alles zu nehmen. Und ich hasse mich dafür, dass ich ihm mit meiner Reaktion verraten habe, dass Abbie mein Schwachpunkt ist. Wie groß der tatsächlich ist, habe ich erst so richtig verstanden, als der Kellner sie abschleppen wollte und ich beinahe meinen Anspruch angemeldet hätte. Eifersucht – ein effektives Mittel, um unterdrückte Gefühle an die Oberfläche zu befördern, die man krampfhaft für sich zu behalten versucht.
Und ich war eifersüchtig. Allein die Vorstellung, der Typ könnte Erfolg bei ihr haben, hat mich wahnsinnig gemacht. Nur deswegen bin ich ihr zum Buffet gefolgt, um die Wogen zwischen uns zu glätten und sie für mich zu gewinnen. Um reinen Tisch zu machen. Ihr all die Antworten zu geben, nach denen sie so verzweifelt sucht und die sie davon abhalten, über ihren Schatten zu springen und sich auf mich zuzubewegen. Ich wollte mich ihr öffnen. Zehn Minuten später habe ich nicht nur einen Schritt zurück gemacht, sondern zusätzlich einen Burggraben zwischen uns ausgehoben. Ich habe keine Ahnung, ob ich eine Brücke bauen werde, weil ich nicht weiß, wie ich sie vor Elijah beschützen soll, sollte mein Plan nicht funktionieren und er davonkommen.
Ich hatte mich darauf verlassen, dass er heute nicht auftauchen würde. Dass er in Boston bleiben würde. Jetzt frage ich mich, ob meine Mom bewusst gelogen hat oder es ebenfalls nicht wusste. Wir haben nie darüber geredet, was an jenem Tag vor über zwei Jahren nach dem Training passiert ist. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil bereits eine andere Version der Geschichte im Umlauf war, als ich Tage später im Krankenhaus aufgewacht bin. Eine, die den Täter zum Retter macht.
Hätte ich aufklären können, dass ich nicht mit einer Gruppe Jugendlicher aneinandergeraten bin? Sicher. Und dann? Hätte man mir geglaubt? Dem Jungen, der ständig genau in solchen Situationen steckte und von seinem Dad rausgeboxt wurde? Dem Jungen, der gegen seinen Dad rebelliert und keine Gelegenheit auslässt, um ihm eins auszuwischen? Vielleicht. Fakt ist, meine Weste ist nicht so strahlend weiß wie die des Täters. Elijah wäre mit einem Klaps auf die Finger davongekommen.
Ich hatte selbst oft genug erlebt, wie es läuft. Wie dein Status dich unantastbar macht, wenn ausreichend Geld fließt. Diesen Krieg hätte ich verloren, genau wie die Schlacht, die in den Monaten darauf folgte. Schmerztherapie, Physiotherapie, Reha, Psychotherapie, das volle Programm. Mit dem Ergebnis, ich würde nie wieder Cricket spielen. Damit hat er genau das erreicht, was er wollte.
Die gebrochene Rippe, die sich in meinen Lungenflügel gebohrt und sie damit zum Kollabieren gebracht hat, war das kleinere Übel. Die blauen Flecken nicht der Rede wert. Ein zertrümmertes Gelenk des Schlagarms zerstört Träume. Niemand bietet dir einen Vertrag an, wenn du beim Schwingen eines Minigolfschlägers an deine Belastbarkeitsgrenze stößt. Zu diesem Zeitpunkt habe ich geglaubt, dies wäre das Ende. Ich habe mich geirrt. Es folgte erst zehn Monate später. Auch darüber redet meine Mom nie. Denn wenn man nicht über Dinge spricht, scheinen sie weniger real. Ich kann es ihr nicht verübeln. Die Methode, Dinge zu verdrängen, wende ich selbst an.
»Hast du dich verlaufen?«, spricht mich ein Typ an. Als ich nicht reagiere, läuft er neben mir her.
Flüchtig sehe ich ihn an. Ich erkenne einen Dealer, wenn er vor mir steht. Die Art, wie er sich unauffällig umsieht, ob die Cops um die Ecke kommen.
»Alles klar bei dir?«
Das vorsichtige Herantasten. Und Dealer spüren, wenn sie einen potenziellen Kunden vor sich haben.
»Oder brauchst du etwas?«
Ich bleibe stehen, wende mich ihm zu und sehe ihn offen an. Versuche gar nicht erst irgendwas zu verbergen. Weil es egal ist. Weil sich unsere Wege kein zweites Mal kreuzen werden. Aus nervösen Augen mustert er mein Gesicht. Seine Lippen zucken, während er nicht still stehen kann und leicht hin und her wippt. Es ist offensichtlich, dass sich nicht nur andere Leute an dem Zeug erfreuen, das er vertickt. Und ich kann es verstehen. Diesen Weg des Vergessens habe ich ebenfalls ausprobiert. Jedenfalls für eine Weile.
Die erste Pille tut nicht weh, die zweite auch nicht. Es sind all jene, die danach kommen, die dich schleichend in die Abhängigkeit ziehen. Dir vorgaukeln, dass du die Leere kontrollierst, nicht sie dich. Durch die dir plötzlich alles möglich erscheint. Die dich mit neuem Leben füllen. Sobald der Rausch verfliegt, krachst du in die Wirklichkeit und realisierst, dass du sie nur erträgst, wenn du nicht daran teilnimmst. Wenn du dich ausklinkst. Fliehst. So lange, bis du nicht mehr davonlaufen kannst. Oder schlimmer – nicht zurückkommst.
Bevor du begreifst, dass du rein gar nichts kontrollierst, weil Kontrolle nicht mehr als eine Illusion ist, steckst du bereits viel zu tief drin. Es ist wie ein Hamsterrad, aus dem du nicht aussteigen kannst, weil der Versuch dir das Genick brechen könnte. Irgendwann gelangst du an den Punkt, an dem du entweder gewinnst oder verlierst.
Auf diese Phase meiner Vergangenheit bin ich wahrlich nicht stolz, aber als ich mich in diesem Schwebezustand meiner Existenz befand, bin ich als eine völlig andere Person zurückgekehrt. Eine, die das Nichts in sich als Teil ihres Ichs angenommen und den verlorenen Jungen weggesperrt hat, damit ihn niemand mehr verletzen kann. Aber jetzt ist er frei und ich befürchte, er lässt sich nicht wieder einfangen.
Eins hat sich mit seiner Rückkehr dennoch nicht verändert: die Entschlossenheit, kein weiteres Mal zu verlieren. Nicht gegen Elijah.
Für einen Moment schließe ich die Augen, atme tief durch, vergrabe die Hände in meinen Hosentaschen, balle sie zu Fäusten. Bis sich der Schmerz in meinen Handinnenflächen ausbreitet. Dann sehe ich den Typ vor mir an und frage mich, wie nah er am Abgrund balanciert.
»Nein, kein Interesse.« Ich lasse ihn stehen.
»Wenn du es dir anders überlegst, ich bin hier, mein Freund«, ruft er mir nach, als wären wir alte Bekannte.
Ohne Ziel laufe ich weiter. Wo sollte ich auch hin? Mein Wissen über New York beläuft sich auf Reportagen und Fotos. In London kenne ich jede Ecke. Die guten wie die schlechten. Die, die man sich ansehen, und jene, von denen man sich fernhalten sollte. Mein Blick fällt auf die flackernde Reklamebeleuchtung eines Diners. Statt weiterzugehen, bleibe ich stehen, sehe durch das Schaufenster. In dem Laden sitzen eine Handvoll Leute. Keiner davon sieht aus, als wäre er angenehme Gesellschaft. Vermutlich müsste ich nur durch die Tür gehen und falsch gucken und sie würden mich aus dem Laden prügeln.
Das Vibrieren meines Handys verhindert, dass ich die Tür öffne und es auf einen Versuch ankommen lasse.
Abbie: Sag mir nur, dass du okay bist.
Ich antworte ihr nicht, weil ich lügen müsste. Nichts ist okay. Absolut gar nichts. Nach kurzem Zögern wähle ich Camerons Nummer. Er hebt beim dritten Klingeln ab.
»Alles okay?« Kein Hallo. Kein dummer Kommentar.
»Nein.« Ein Wort, das unsere Basis verändern wird. Weil ich nicht in das Loch zurückkann, aus dem ich gekrochen bin. Aber vor allem, weil ich es nicht alleine schaffen werde, nicht erneut hineinzufallen. Weil der Jasper, der sich hinter der Person versteckt, die ich erschaffen habe, aus dem Schatten getreten ist. Und mit ihm alles, was ihn zerstört hat.
»Wie schlimm ist es?«
Dass er nicht fragt, was los ist, überrascht mich nicht. Cameron hat es längst geahnt, nur nie ausgesprochen, weil ich ihm nie die Gelegenheit dazu gegeben habe, Fragen zu stellen. Aber mehr als einmal stand es ihm ins Gesicht geschrieben. Was ist mit dir passiert? Was versteckst du? Was übersehe ich? Bist du okay?
Es raschelt im Hintergrund. Wahrscheinlich, weil er gerade aus dem Bett klettert, um das Zimmer zu verlassen, während er mit mir spricht.
»Erzähl mir, wie dein Tag war«, sage ich und setze meinen Weg nach Nirgendwo fort.
»Was? Warum?« Cam klingt so verwirrt, wie ich mich fühle.
»Weil ich sonst umdrehe und mir entweder die Fresse polieren lasse oder ein paar Pillen besorge, um mir für eine Weile das Hirn wegzupusten«, antworte ich von mir selbst angepisst, da ich ernsthaft in Erwägung gezogen habe, in alte Muster zurückzufallen. Wenn auch nur für einen winzigen Moment. Aber das macht es nicht besser.
»Du machst was?«, fragt er panisch. Erneut raschelt es. Müsste ich raten, würde ich sagen, er zieht sich gerade die Jeans an.
»Du hast gesagt, ich soll anrufen, wenn ich vorhabe etwas Dummes zu tun. Ist es gerade unpassend?« Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee ist, Cam in die Sache mit hineinzuziehen.
»Was? Natürlich nicht! Bist du in Waterbury?« Cameron ist gestern mit Aspen zu einem romantischen Wochenende nach Plymouth aufgebrochen. Dass ich nach New York muss, hatte ich nicht erwähnt. Es erschien mir nicht wichtig.
»Nein«, antworte ich und sehe nach links und rechts, als sich der Weg gabelt. Ich entscheide mich ohne einen bestimmten Grund für links.
»Wo bist du dann?«, will Cam wissen.
»New York.«
»Du hockst in New York, während du darüber nachdenkst, dir Drogen zu besorgen und dich verprügeln zu lassen? Du wolltest ein verdammtes Buch lesen!« Dass ihn mein Ausbruch in Aufruhr versetzt, bringt mich zum Grinsen. Dennoch – das fasst es ganz gut zusammen. »Warte mal kurz.« Ein dumpfes Geräusch, dann herrscht Stille. »Bist du noch dran?«
»Ja. Will ich wissen, was du gerade machst, dass du so gehetzt klingst?«
»Ich ziehe mich an.«
»Und warum tust du das?« Ich habe so eine Ahnung.
»Weil ich in den Wagen steige, um dich abzuholen.«
Das ist völlig überzogen.
»Wirst du nicht. Ich bin mit dem Auto hier und werde später zurück nach Waterbury fahren.« Ich biege in den Park ab, der plötzlich vor mir auftaucht, und setze mich auf die erste Bank, die meinen Weg kreuzt.
»Gib mir deinen Standort, damit ich weiß, wohin ich den Suchtrupp schicken muss, sollte ich dich nicht über das Telefon davon abhalten können, riesige Scheiße zu bauen.«
Nicht die schlechteste Idee. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Gegend einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, ist durchaus hoch. Immerhin trage ich einen Smoking und auf meiner Stirn klebt ein Rich-Kid-Label. Damit Cameron sich etwas beruhigt, komme ich seiner Bitte nach.
»Okay, und jetzt?«
»Unterhalten wir uns.«
»Worüber möchtest du reden?«
»Noah.« Mit ihm beginnt meine Geschichte und ich werde sie Cam erzählen. Das bin ich ihm schuldig. Irgendwie.