33.

JASPER

Noch ungefähr eine Stunde trennt mich von Waterbury. Ich biege in eine Tankstelle ab, weil die Anzeige bereits so weit im roten Bereich liegt, dass ich höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten zwanzig Minuten liegen bleibe. Stundenlang bin ich ziellos durch die Gegend gefahren, um das Chaos in meinem Kopf aufzuräumen und eine neue Strategie zu entwickeln. Eine, mit der ich beides haben kann, Abbie und meine Freiheit. Allerdings tappe ich, was das angeht, immer noch im Dunkeln. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich mit der Vergangenheit abschließen muss.

Während ich tanke, informiere ich Cameron über meine Ankunftszeit. Ich habe ihm bereits mitten in der Nacht in einer Nachricht geschrieben, dass er sich keine Sorgen machen muss. Ich bin mir sicher, er tut es nach unserem Telefonat trotzdem. Der Punkt ist, dass ich mich noch nicht bereit gefühlt habe, das Gespräch mit ihm zu führen, das längst überfällig ist. Denn das ist der Teil der Geschichte, der meine Schwächen offenbart und mich angreifbar macht. Auch wenn ich weiß, dass Cam weder über mich urteilen noch das Wissen zu seinem Vorteil nutzen würde, ist da diese Schwelle, über die ich bisher nicht springen konnte.

Letzte Nacht hat sich einiges in meinem Kopf verschoben. Abbie habe ich heute Morgen eine Nachricht geschickt und mich dafür entschuldigt, dass ich mich davongeschlichen habe. Ich wollte sie nicht wecken oder später ihrer Mom in die Arme laufen und sie dadurch in Erklärungsnot bringen. Sie hat geantwortet, ihre Mom habe den Frühstückstisch für drei Personen eingedeckt, was mich auflachen ließ.

Als sich das Eisentor vor mir auftut, auf dem das Waterbury-Logo prangt, kehrt schlagartig das beklemmende Gefühl zurück, das dieser Ort in mir auslöst. Wird Zeit, die Sache zu beschleunigen und endgültig von hier zu verschwinden. In den vergangenen Tagen habe ich mich gefragt, wie es anschließend weitergeht. Es gibt zwei Dinge, denen ich mir zu hundert Prozent sicher bin. Erstens: Ich will Abbie Westing. Zweitens: Ich kann nicht hierbleiben. Und ich habe keine Ahnung, wie sich das miteinander vereinen lässt.

Ich parke den Mustang in der Einfahrt des Bungalows und nehme die kleine Reisetasche von der Rückbank. Die Sonne geht gerade unter. Im Wohnzimmer brennt Licht. Das Empfangskomitee wartet bereits. Nichts anderes habe ich erwartet.

Bevor ich die Tür aufschließe, atme ich kurz durch. Im Flur stolpere ich beinahe über Cams Chucks, doch statt davon genervt zu sein, fühlt es sich vertraut an. Ich gebe es ungern zu, aber ich habe seine Gesellschaft vermisst.

»Jasper?«, ruft er, bevor er im Flur auftaucht.

»Hast du jemand anderen erwartet? Dann verschwinde ich wieder«, erwidere ich und stelle die Tasche ab.

»Lass den Quatsch! Ich habe mir Sorgen gemacht«, zischt er und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Und ich habe gesagt, dass du das nicht musst.« Ich hänge den Mantel an die Garderobe und schlüpfe aus meinen Schuhen.

»Entschuldige, dass ich nach unserem letzten Gespräch nicht entspannt die Füße hochgelegt habe.«

»Solange du sie nicht auf dem Couchtisch –«

»Können wir den Teil überspringen und direkt dazu übergehen, dass du meine Fragen beantwortest?«, schneidet er mir das Wort ab und erinnert mich damit sehr an mich selbst. Belanglosen Small Talk, um Zeit zu schinden, kann ich nicht ausstehen. Ich bevorzuge Unterhaltungen ohne Schnickschnack.

»Unbedingt«, antworte ich und grinse ihn an. »Was hältst du davon: Du setzt Teewasser auf und ich mache mich kurz frisch.«

Cameron nickt und verschwindet Richtung Küche. Ich nehme die Tasche, um sie in mein Zimmer zu bringen. Der Raum sieht genauso aus, wie ich ihn verlassen habe. Als wäre ich nie weg gewesen. Die leere Tasse steht immer noch auf dem Schreibtisch. Mit wenigen Schritten durchquere ich das Zimmer. Im Vorbeigehen stelle ich die Reisetasche auf dem Bett ab. In dem Moment, als ich nach der Tasse greife, fällt mein Blick auf das Schachbrett. Noch etwas ist mir in den letzten Wochen klar geworden. Egal wie viel Zeit vergeht, Noah und ich werden diese Partie nicht beenden. Denn wäre das eine Möglichkeit, wäre ich nicht hier. Manche Menschen muss man aufgeben. Nicht, weil man sie nicht mehr liebt, sondern weil man daran kaputtgeht, wenn man sie festhält.

Mit dem Zeigefinger stoße ich den schwarzen König auf dem Spielbrett um. »Sorry, Kumpel, es wird Zeit für eine neue Partie«, flüstere ich und stelle die Tasse wieder ab. Dann positioniere ich die Figuren in ihren Anfangspositionen, bevor ich das Schachbrett vom Schreibtisch nehme.

Noah gehört zu einem Kapitel, das unbeendet ist und mich nur zur Ruhe kommen lassen wird, wenn ich es eigenständig abschließe, damit ich zum nächsten übergehen kann. Dennoch ist das hier ist nicht mehr als ein Versuch, alle Stränge miteinander zu verknüpfen, statt mich in losen Fäden zu verfangen.

Cameron sieht mich verwundert an, als ich das Brett auf dem Küchentisch abstelle.

»Schwarz oder Weiß?«

Er zögert einen Moment. In seinem Gesicht ploppen die Fragen wie Spam-Meldungen auf.

»Pro Zug eine Antwort.«

»Klingt fair.« Bevor er sich mir gegenübersetzt, stellt er die Teekanne und zwei Tassen auf den Tisch.

»Also?«

Cameron dreht das Schachbrett, bis die schwarzen Figuren vor ihm stehen, was bedeutet, dass ich die Partie eröffnen werde. Mir ist es lieber, zu reagieren, als zu agieren, weil ein Spiel berechenbarer ist, wenn man den nächsten Zug seines Gegners erahnt.

Ich setze meinen Bauern auf e4 , Cameron seinen auf d5 . Damit wählt er die skandinavische Verteidigung. Das könnte eine spannende Partie werden.

Abwartend sehe ich ihn an.

»Okay, bei unserem Telefonat sind wir an der Stelle stehen geblieben, dass Noah ans Waterbury College gegangen ist. Da er nicht hier ist, wo ist er?«

»In London.« Ich stelle meinen Springer auf c3 .

Dame auf d5 . »Was macht er dort?«

»Nichts. Er liegt seit achtzehn Monaten auf dem städtischen Friedhof.« Es überrascht mich selbst, wie leicht mir die Worte über die Lippen kommen. Als wären sie bedeutungslos. Aber das sind sie nicht.

Läufer auf c4 .

Cameron hält in der Bewegung inne. »Es tut mir leid, dass du deinen Freund verloren hast. Ich weiß, wie du dich fühlst. Wann immer du jemanden brauchst, der dich versteht, ich bin da.«

Cams Vergangenheit und meine überschneiden sich exakt in diesem Punkt, obwohl sie sich nicht gleichen. Wir teilen ein Schicksal, und doch gehen wir völlig unterschiedlich damit um. Das war es, was mich nach unserer ersten Begegnung fasziniert hat und warum ich seine Nähe gesucht habe. Ich wollte verstehen, wie zwei Menschen, die etwas nahezu Identisches erlebt haben, verschiedene Richtungen einschlagen. Cam will Frieden, ich Rache.

Rache ist etwas, das vor allem denjenigen am Leben hindert, der auf sie aus ist, mein Junge , hat Granny El mal zu mir gesagt, als ich sie bei einem meiner Besuche gefragt habe, ob sie je das Bedürfnis hatte, sich an dem Fahrer des Wagens zu rächen. Der Kerl, der Cams Eltern auf dem Gewissen hat, ist im Vollrausch in ihren SUV gekracht und abgehauen. Hat sie sterben lassen, statt den Rettungsdienst zu verständigen. Vielleicht wären sie heute noch am Leben, hätte er nicht wie ein Feigling gehandelt. Aber Granny El hat recht. Rache ist ein Parasit, der sich von der Essenz des Lebens ernährt, bis man nur noch eine tote Hülle ist.

Und noch etwas ist von einem meiner Gespräche mit Cams Grandma hängen geblieben: Sie meinte, ich hätte mich irgendwann selbst verloren, und ich wollte wissen, wie sie darauf kommt, denn ich hatte das Gefühl, mich in meiner Rache endlich wiedergefunden zu haben. Jetzt weiß ich, dass sie in diesem Punkt ebenfalls richtiglag.

Augen sind der Spiegel der Seele, Jasper. Du musst nur mutig genug sein, selbst hineinzusehen. Die Seele ist das Zarteste, was wir in uns tragen. Sie hat Narben von all den Dingen, die uns verletzt haben, aber sie ist auch voll mit schönen Erinnerungen, die uns widerfahren sind. Sie kann heilen. Deine Seele ist so viel stärker, als du denkst. Aber du musst ihr gestatten, dein Herz an die Hand zu nehmen. Denn nur zusammen können sie zurückbringen, was verloren scheint.

Und das wäre? , habe ich sie gefragt.

Das Gefühl des Glücklichseins.

Das Problem an der Sache war, dass sich meine Seele und mein Herz an zwei verschiedenen Orten befanden und sich deswegen nicht die Hände reichen konnten. Aber jetzt sind sie sich näher als je zuvor. Weil sich zwischen all die Wut, den Hass und den Wunsch nach Rache weitere Gefühle gemischt haben. Zuneigung, Freundschaft und Hoffnung. Vielleicht auch Liebe. Da bin ich mir nicht ganz sicher, aber die Möglichkeit schließe ich längst nicht mehr aus. Und zum ersten Mal macht mir die Zukunft keine Angst. Denn ich werde Cam nicht länger ausschließen und akzeptiere, was wir sind. Freunde.

»Keine Einbahnstraße mehr, versprochen.« Ich grinse ihn an und er erwidert es, dann wird seine Miene ernst.

»Was ist ihm passiert?« Die Frage kommt so leise über seine Lippen, als wäre er sich nicht sicher, ob er es wirklich wissen will.

»Er war in Waterbury mit dem Fahrrad unterwegs, als ihn ein Auto erfasst hat.«

Cameron zuckt kurz zusammen und in dem Moment weiß ich, das hier ist eine bescheuerte Idee, weil ich ihn damit zwangsläufig auch an den schlimmsten Tag in seinem Leben erinnere. Und doch muss er es wissen, um mich zu verstehen.

»Hat man die Person erwischt?«, fragt er zögerlich, obwohl ich mir sicher bin, er kennt die Antwort. Cam hat immer gespürt, dass wir uns ähnlicher sind, als es den Anschein macht. Unser beider Abgründe haben uns zu einer Einheit werden lassen, ohne dass wir sie uns offenbaren mussten.

»Zug«, ermahne ich ihn, nicht gegen unsere Abmachung zu verstoßen. Bauer auf c6 . »Nicht offiziell.«

Cameron greift nach dem Turm, als Reaktion ziehe ich eine Augenbraue hoch. Dieser Spielzug wäre taktisch unklug, wenn er diese Unterhaltung weiterführen möchte. Er bemerkt seinen Fehler, stellt die Figur zurück und wählt einen anderen Zug. Ich schlage seinen Bauern.

»Deswegen bist du hier. Es war jemand aus dem College.«

»Ja.«

Nachdenklich mustert mich Cameron. Ich halte seinem Blick stand. Warte, bis er die Puzzlestücke zusammenfügt. Er nickt kaum merklich, während er meinen Springer ins Visier nimmt.

»Du hast also nicht nur nach eigenartigen Geldströmen gesucht, sondern nach der Person, die deinen Freund auf dem Gewissen hat. Bist du fündig geworden?«

»Ja. Es hat sich als nützlich erwiesen, an zwei Orten gleichzeitig sein zu können und doch am selben.«

»Du warst die ganze Zeit hier, während ich du war?«

»Sagen wir, ich war nie weit weg und hatte immer ein Auge auf dich.«

Läufer auf e6 . »Und ich dachte wirklich, du lässt dir irgendwo die Sonne auf den Bauch scheinen. Verrätst du mir, wer es war und was genau du vorhast?«

Ich zögere einen Moment. »Ich nehme die Verantwortlichen einen nach dem anderen vom Spielbrett.«

Cameron sieht mich eindringlich an, dann nickt er erneut. »Ich würde ja jetzt sagen, dass es Aufgabe der Polizei ist, die Verantwortlichen zur Strecke zu bringen, aber inzwischen weiß ich, du überlässt die Dinge ungern anderen und regelst stattdessen alles selbst. Daher spare ich mir einen Vortrag, weil ich dich ohnehin nicht davon abhalten kann. Aber ich hoffe, du bringst dich nicht selbst in Schwierigkeiten.«

»Hätte die Polizei ihren Job gemacht, statt beim Vertuschen der Sache zu helfen, müsste ich nicht dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«

»Und wie sieht die aus?«

»Dass ein paar Kids vom College im Drogenrausch eine Spritztour gemacht haben, bei der sie Noah über den Haufen gefahren und ihn haben liegen lassen, um ihren Arsch zu retten.«

»Und wie bist du dahintergekommen?«

»Ich würde sagen, es war Glück. Auf der Suche nach etwas, das ich gegen Elijah verwenden konnte, bin ich über Ungereimtheiten in Noahs Fall gestolpert. Dinge, die darauf hinweisen, dass das College die Angelegenheit vertuscht hat.« Ich greife nach der Tasse Tee und nehme einen Schluck, während Cam mich eindringlich mustert.

»Darf ich dir noch eine Frage stellen?«

Jetzt kommen wir zu dem Part, den ich bei unserem Telefonat angedeutet, aber nicht weiter vertieft habe. Weil das nichts ist, was man mal eben am Telefon offenbart. »Du möchtest wissen, warum ich Elijah so sehr hasse, dass ich ihn brennen sehen will?«

Er nickt. Ein paar Sekunden sehen wir einander an, dann atme ich tief durch und erzähle ihm alles, was ich Abbie bei unserem nächtlichen Spaziergang durch den schäbigen Teil von New York erzählt habe, allerdings weniger beschönigt, sondern in seiner vollen Härte. Wie Elijah mein Leben kontrolliert hat. Dass er meine Mom misshandelt. Und dass er mich innerhalb weniger Minuten mit einem Cricketschläger seelisch und körperlich zerstört hat. Wie ich monatelang am Abgrund balanciert und schließlich freiwillig hinuntergesprungen bin. Niemand hat mich gestoßen. Ich wünschte, es wäre so. Dann könnte ich jemandem die Schuld dafür geben, dass ich mir die Pillen wie Karamellbonbons eingeworfen habe. Dass ich zu sehr damit beschäftigt war, meine Zukunft zu hassen und meine Vergangenheit aus meinem Leben zu streichen. Ich steckte im Nirgendwo fest.

Elijah hat sich mein ganzes Leben lang wie mein persönlicher Endgegner in einem Computerspiel angefühlt und dieses Pochen in meinem Kopf entwickelte sich immer mehr zur Qual. Ich hatte nicht nur meine Träume, sondern auch mich selbst verloren. Am Ende war es Noah, der mich gerettet hat. Die Nachricht von seinem Tod hatte einen Effekt auf mich, als wäre ich aufgewacht und hätte die Hölle, in der ich festsaß, endlich erkannt. Es gab Tage, an denen ich mir sicher war, sie nie wieder zu verlassen. Tage, an denen ich dachte, sie verdient zu haben. Tage, an denen ich aufgeben wollte. Aber an den meisten Tagen hatte ich ein Ziel: sie zu überleben.

»An dem Tag als Noah beerdigt wurde, ist Elijah in London aufgetaucht. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, sich an meinem Leid zu ergötzen. Alles, was er zu mir gesagt hat, war, endlich sei der Junge nicht mehr mein Problem. Dass Noah nur in einem Sarg liege, weil ich es mir zur Aufgabe gemacht hätte, ihn zu beschützen, woran ich gescheitert sei.«

»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, außer dass es mir leidtut.« Das Entsetzen steht Cameron deutlich ins Gesicht geschrieben.

Ich sehe auf die Uhr. Mein nächster Zug besteht darin, meinen König vom Spielbrett zu nehme und danebenzustellen. Dann stehe ich auf.

»Das Spiel ist noch nicht vorbei«, merkt Cameron an.

»Doch, ist es«, antworte ich und gehe in mein Zimmer. Dort ziehe ich die untere Schublade des Nachtschranks auf. Kurz denke ich darüber nach, einen Rückzieher zu machen. Dafür ist es allerdings zu spät. Also nehme ich das Tagebuch heraus, das ich seit jenem Tag führe, als ich meine Träume aufgeben musste. Noah hat recht, es hilft, sich den Mist von der Seele zu schreiben. Was mir allerdings bisher schwerfiel, war, am Ende jedes Eintrags die Sache aufzuschreiben, die mich zuletzt glücklich gemacht hat. Denn da war einfach nichts. Bis jetzt, denn gestern, als Abbie in meinen Armen eingeschlafen ist, habe ich es zum ersten Mal wieder gespürt.

Als ich erneut die Küche betrete, hat Cameron sich nicht vom Fleck bewegt.

»Hier steht alles drin, was du sonst noch wissen willst. Ich bin nicht besonders gut darin, diesen Teil meiner Vergangenheit rational zu betrachten. Sagen wir, ich bin ein Schiffbrüchiger, der sich mit Mühe und Not über Wasser hält«, erkläre ich und lege das in Leder eingebundene Buch vor ihm auf den Tisch.

Für einen Augenblick sieht er mich an, dann schlägt er die erste Seite auf, liest ein paar Zeilen und starrt mich ungläubig an. »Du möchtest, dass ich dein Tagebuch lese?«

»In erster Linie möchte ich, dass nichts mehr zwischen uns steht.«

Cam klappt das Buch zu und hält es mir entgegen. »Vergiss es! Ich werde es nicht lesen. Was hier drinsteht, gehört dir allein. Wir alle haben Geheimnisse. Sie für sich zu behalten, bedeutet nicht zwangsläufig, dass man einer anderen Person nicht vertraut. Oft heißt es einfach, dass man sich ihnen erst selbst stellen muss, bevor man sie mit anderen teilt.«

»Okay.« Ich ringe mich zu einem Lächeln durch und nehme das Tagebuch wieder an mich.

»Hör auf so hart zu dir zu sein. Denn den Kampf gegen dich selbst wirst du nicht gewinnen, solange du dich selbst als den Feind siehst. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Manchmal muss man sich verlieren, um sich wiederzufinden.«

»Ich werde es im Hinterkopf behalten, wenn der Mistkerl mir das nächste Mal eine Knarre an die Schläfe hält.«

Cam reißt die Augen auf. In Anbetracht dessen, was ich ihm gerade erzählt habe, sollte ich auf derartige Metaphern verzichten.

»Entspann dich, Cam. Ich wollte damit sagen, dass ich mir bewusst bin, dass nicht jeder, gegen den ich kämpfe, auch tatsächlich mein Feind ist.« Ich sehe erneut auf die Uhr. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich brauche eine Dusche und habe danach noch etwas zu erledigen.«

»Kann ich dir dabei behilflich sein?«

»Nein, ich muss das alleine durchziehen. Für Noah und mich. Ich brauche diesen Abschluss.«

Cam nickt. »Verstehe.«

Einen Moment lang sehen wir einander an, dann verschwinde ich ins Badezimmer. Ich trete vor den Spiegel, stütze mich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und mustere den Kerl, der mir entgegenstarrt. Er fragt sich, was genau ich hier eigentlich mache. Warum ich nicht längst Waterbury den Rücken gekehrt und alle Fäden habe zusammenlaufen lassen, bevor es kompliziert wurde. Meinen Plan hätte ich innerhalb weniger Tage durchziehen können. Also warum zögere ich es unnötig hinaus?

Die Antwort ist simpel. Darüber muss ich gar nicht nachdenken. Abbie. Sie hat mich dazu verleitet, meinen Aufenthalt zu verlängern. Zwar nicht auf unbestimmte Zeit, aber lange genug, damit ich den Fokus auf mein Vorhaben verliere. Aus Ich helfe ih r ist Ich möchte sie kennenlernen und schließlich Ich will sie geworden. Damit meine ich nicht die sexuelle Ebene, sondern vor allem das Drumherum. In die Zwickmühle, in der ich nun stecke, habe ich mich völlig alleine befördert.

»Und jetzt?«, frage ich mein Spiegelbild.

Am Anfang dachte ich, Abbie würde zum Problem werden, weil ich sie nicht einschätzen konnte. Jetzt weiß ich, dass ich es die ganze Zeit gewesen bin, weil ich versucht habe, etwas zu kontrollieren, das sich unmöglich kontrollieren lässt: Gefühle. Aber was mich am meisten überrascht, ist, dass ich es genieße, dass mit ihr nichts vorhersehbar ist. Dass sie nie so agiert oder reagiert, wie ich es von ihr erwarte. Sie ist dieses eine Prozent Unberechenbarkeit, das mich wahnsinnig macht, und dennoch sorgt sie dafür, dass ich das Gefühl habe, die Kontrolle über mich selbst vollends zurückzuerlangen. Als wäre sie das Systemupdate, das längst überfällig gewesen ist.

Wie nach jedem Update steht nun der Neustart aus. Und ich habe keine Ahnung, wie der aussehen wird. Mein Flugticket zurück nach London ist bereits gebucht. Sie und ich können nicht mehr sein. Und wenn doch, wie sollte das funktionieren? Abbies Leben ist hier an diesem College. Gemeinsam mit ihren Freundinnen. Die einzige Option ist, ich bleibe hier, um mit ihr zusammen zu sein.

Allein bei dem Gedanken stellen sich mir die Nackenhaare auf. Dieser Ort und ich hatten keinen guten Einstand und ich bezweifle, dass ich jemals wirklich hier ankommen würde. Selbst wenn ich es Abbie zuliebe versuchen würde, Waterbury würde mich erneut brechen. Nicht weil Noahs Geschichte hier endete, während Abbies und meine ausgerechnet ihren Anfang fand, sondern weil Elijah am Ende gewinnen würde. Mal wieder. Irgendwie jedenfalls. Selbst wenn ich ihn in den Knast befördere, wäre ich hier. Dort, wo er mich mein ganzes Leben haben wollte, wogegen ich mich so verzweifelt gewehrt habe. Ich kann einfach nicht. Dieser Teil in mir ist um so vieles stärker als meine Gefühle für Abbie.

Das wird eine Unterhaltung, die ich nicht länger vor mir herschieben kann. Denn es widerstrebt mir, sie Hoffnungen hegen zu lassen, die ich niemals erfüllen werde.

Fuck! Ich würde ihr jeden Wunsch erfüllen, aber sollte sie mich bitten zu bleiben – es ginge nicht.

»Vorschläge?«, frage ich erneut mein Spiegelbild.

Schweigen.

»Dachte ich mir.«

Ich wende den Blick ab, weil ich keine Antworten finden werde, nur weil ich mir lange genug selbst ins Gesicht starre. Dazu müsste ich in mich hineinhorchen, aber das erweist sich als schwierig, denn dort ist eine lebhafte Diskussion im Gange. Herz vs. Verstand. Wer gewinnt? Ich bin nicht der Typ für Bauchentscheidungen, also liegt die Antwort nah.

Ich schäle mich aus den Klamotten und stelle die Dusche an. Das lauwarme Wasser hüllt mich ein, als ich unter den Strahl trete. Währenddessen erreicht die Diskussion ihren Höhepunkt. Bring es zu Ende, und dann nichts wie weg , sagt der Verstand. Du willst Abbie , sagt das Herz. Man bekommt nicht immer, was man will. Die Lektion habe ich auf die harte Tour gelernt. Man hat nur so lange die Kontrolle über alles, bis jemand kommt und sie einem nimmt. Manchmal dauert es nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde und das Leben schlägt eine Richtung ein, die man nicht hat kommen sehen. An diesem Punkt stehe ich nun erneut.

Ich drehe das Wasser ab, greife nach einem Handtuch und trockne mich grob ab. Anschließend wickle ich es mir um die Hüften und verlasse das Badezimmer. Es überrascht mich nicht, dass ich Cameron in die Arme laufe. Einen Moment blinzelt er und ich weiß, warum. Normalerweise renne ich nicht halb nackt durch das Haus. Sein Blick heftet sich auf die Narbe, die sich über meinen Brustkorb zieht. Ein kleines Andenken an den Tag, der alles veränderte. Hin und wieder habe ich darüber nachgedacht, sie ebenfalls unter Tinte zu verstecken. Aber es gibt Narben, die einen daran erinnern, dass man überlebt hat, und jene, die man nie wieder sehen will, weil sie in einem den Wunsch wecken, es wäre nicht so gewesen.

»Man ist nur ein wirklich böser Junge, wenn man Narben vorzuweisen hat«, unterbreche ich die Stille zwischen uns.

»Ich bin eher schockiert, dass du tätowiert bist«, gibt Cameron zu und schielt zu meinem rechten Arm, den von der Schulter über den Ellenbogen bis zum Handgelenk bunte Linien zieren. Das ist meine Art, dem Grau mit Farbe zu trotzen.

»Warum?« Tattoos sind nichts Verwerfliches.

»Weil du Blümchenhemden trägst und einen Stock im Arsch hast«, zieht er mich auf.

»Alles Tarnung. Hinter dieser Optik vermutet niemand einen tätowierten Bösewicht mit fragwürdigem Hobby, der sich auf einem Rachefeldzug befindet«, antworte ich und verkneife mir ein Grinsen, als er missbilligend das Gesicht verzieht. »Das war ein Scherz. Also das mit der Tarnung, aber der Rest stimmt, wie du weißt.«

Ein paar Sekunden sieht er mich eindringlich an, als würde er über etwas nachdenken.

»Wird Zeit, dem König mitzuteilen, dass ich ihn mit dem nächsten Zug matt setze.«

»Ich gebe dir ein Alibi und schwöre, dass wir den ganzen Abend zusammen waren, sollte die Sache schiefgehen.«

»Klingt verlockend. Wir beide bei Netflix and Chill.« Mit einem schiefen Grinsen zwinkere ich ihm zu und gehe die wenigen Schritte in mein Zimmer. Sobald ich saubere Kleidung angezogen habe, mache ich mich auf den Weg, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Fünfundzwanzig Minuten später stehe ich vor dem Haus meiner Zielperson. In der oberen Etage brennt Licht. Das Schlafzimmer. Das Fenster steht offen. Eindeutige Geräusche dringen nach draußen. Ich sehe auf die Uhr – kurz vor acht. Seine Freundin ist es nicht, mit der er sich vergnügt, die ist um die Uhrzeit im Fitnessstudio.

Ich gehe die wenigen Stufen nach oben, hole Spanner und Dietrich aus meiner Mantelinnentasche. Keine zehn Sekunden später ertönt ein leises Klicken und die Tür springt auf. Er sollte lernen, hinter sich abzuschließen, das würde das Ganze spannender gestalten.

Vorsichtig schiebe ich die Tür auf, schlüpfe ins Innere. Gedimmtes Licht erhellt den Flur gerade so viel, dass man sich orientieren kann. Mein Blick wandert zur Treppe, von wo aus mir ein »O ja!« entgegenhallt. Okay, lassen wir ihm seinen Spaß. Ich übe mich nur zu gern in Geduld, wenn es mir den Anblick seines nackten Hinterns erspart.

Mein Weg führt mich ins Wohnzimmer, wo das Licht der Stehlampe brennt. Ich schalte die Taschenlampe meines Handys ein, gehe auf besagte Stehlampe zu und lösche das Licht. Anschließend setze ich mich auf das Sofa und warte. Als das Schauspiel in der oberen Etage seinen Höhepunkt erreicht, schlage ich die Beine übereinander und lehne mich entspannt zurück. Schätzungsweise fünf Minuten später kommt Bewegung ins Haus. Schritte auf der Treppe folgen. Gedämpfte Stimmen. Eine Tür fällt ins Schloss.

Das Wohnzimmer erhellt sich.

»Was zur Hölle … Wie bist du hier reingekommen?!«, entfährt es dem Kerl, der halb nackt im Türrahmen steht.

»Hallo, Henry. Du solltest die Tür abschließen. Man weiß nie, wer sich uneingeladen Zutritt verschafft.«

Fassungslos starrt er mich an. »Wer bist du?«

»Wie unhöflich von mir. Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Noah Gibson.«

Seine Augen werden groß. »Nein, bist du nicht!«

»Mein Fehler, aber der Name sagt dir offensichtlich etwas.«

»Wer bist du?« , wiederholt er, diesmal deutlich nervöser.

Ich unterdrücke ein Grinsen. Es würde mich wundern, wäre er es nicht. Denn dann wäre er nicht nur ein Arschloch, sondern obendrein auch noch ein Narzisst. Ob er über so etwas wie ein Gewissen verfügt, darüber vermag ich nicht zu urteilen. Es ist mir auch egal, es macht Noah nicht wieder lebendig.

»Jemand, den du dir zum Feind gemacht hast.«

»Was soll der Scheiß?«

»Dir ist sicher nicht entgangen, dass deine Lakaien bereits aus dem Spiel genommen wurden.«

»Drohst du mir gerade?«

»Das ist nicht mein Stil.«

»Was willst du?« Sein Blick fixiert mich, als könnte er die Antwort in meinem Gesicht ablesen. »Du willst Geld«, schlussfolgert er und könnte damit nicht weiter danebenliegen.

Langsam stehe ich vom Sofa auf, knöpfe meinen Mantel zu und durchquere den Raum. Sein Blick folgt mir aufmerksam.

»Weißt du, was mich an Menschen wie dir stört? Dass sie glauben, Geld mache sie unantastbar, und dass sie über die Arroganz verfügen anzunehmen, sie hätten die absolute Kontrolle.«

Henry öffnet den Mund und schließt ihn wieder.

»Ich brauche nicht länger als fünf Minuten, um dir zu demonstrieren, dass du weder das eine bist noch über das andere verfügst.«

»Bist du hier, um mir einen Vortrag zu halten?«, spottet er und grinst. Auch wenn er sich bemüht es zu verbergen, spiegelt sich in seinen bernsteinfarbenen Augen die Angst.

Ich stelle mich direkt vor ihn, mustere ihn abschätzig. Sekunden vergehen, in denen ich ihn ansehe, ohne etwas zu sagen. Aber das muss ich auch nicht, die Ader an seinem Hals pulsiert. Nichts ist effektiver, als mit der Angst von Menschen zu spielen. Angst setzt das rationale Handeln außer Kraft und lässt sie unvorsichtig werden. Ich kann an seinem Blick ablesen, dass ich mein Ziel erreicht habe.

»Ich bin hier, damit du niemals das Gesicht vergisst, das deine Illusion von Macht und Kontrolle wie eine Seifenblase platzen lassen wird.«

Einen Moment starrt er mich an, länger dauert es nicht, bis Henry die Bedeutung meiner Worte versteht und die Angst gewinnen lässt.

In einer schnellen Bewegung weiche ich ihm aus, als er mich packen will. »Na, na, kein Grund, handgreiflich zu werden.«

»Ich mach dich fertig!« , brüllt er und stürmt erneut auf mich zu.

Ein Schritt nach rechts reicht und er rennt ins Leere. »Netter Versuch.«

Aus schmalen Augen fixiert er mich. Seine Brust hebt und senkt sich hektisch. Es überrascht mich, dass er keinen erneuten Angriff wagt. Aber er würde mich ohnehin nicht zu fassen bekommen, egal wie oft er es versucht. In dem Punkt habe ich einiges dazugelernt.

»Du hast zweiundsiebzig Stunden, um die richtige Entscheidung zu treffen, bevor ich sie dir abnehme.«

»Fahr zur Hölle!«, zischt er.

»Da war ich bereits«, erwidere ich gedehnt. Dann verlasse ich das alte Herrenhaus, ohne die Tür hinter mir zu schließen.