34.
ABBIE
Mal wieder verbringe ich den Abend alleine. Aspen ist bei Cameron und Dion ist nach dem Abendessen zu Henry verschwunden. Dieses Gefühl, in Waterbury festzusitzen, wird mit jedem Tag intensiver. In New York könnte ich … keine Ahnung … irgendwas tun, statt auf dem Bett zu sitzen und zum ersten Mal seit fünf Jahren mein Hörbuch-Abo im vollen Umfang zu nutzen. Das hier ist wie Stubenarrest. Aber das ist dann wohl die Quittung dafür, dass man sich an seine Freundinnen klammert, die plötzlich neue Wege einschlagen, während man selbst noch an der Kreuzung steht und auf ein Signal hofft, in welcher Richtung der Honigtopf wartet.
Seit die Zusage für die NYU in meiner Schreibtischschublade liegt, überlege ich, wie ich Dion und Aspen die Neuigkeiten beibringe. Ich weiß, dass Aspens erste Wahl die NYU war und dass sie nur mit nach Waterbury gekommen ist, um unsere Freundschaft nicht zu zerreißen. Ich war es, die sie überredet hat mitzukommen, und jetzt bin ich diejenige, die es hier nicht aushält. Es fühlt sich unfair an, sie hängen zu lassen. Das Geld, das meine Mom dadurch sparen würde, ist zwar ein gutes Argument und die beiden würden es verstehen, aber es ist längst nicht mehr der Hauptgrund.
Dion ist der Ansicht, ich sollte mich von meiner Mom abnabeln. Ich hingegen bin mir inzwischen sicher, mir würde etwas Distanz zu Aspen und Dion guttun. Das wird mir immer dann bewusst, wenn ich auf Jasper treffe und er in mir nicht die Freundin der beiden sieht, sondern Abbie. Seit dem Kindergarten versuche ich mit ihnen mitzuhalten, wohl wissend, dass ich immer zwei Schritte zurückbleiben werde. Nicht, weil sie mir absichtlich das Gefühl geben. Es ist eher … hach, ich weiß auch nicht. Als befände ich mich in einer Art Dämmerschlaf und würde immer nur dann wach, wenn Jasper in meiner Nähe ist, um mich herauszufordern und dennoch keinerlei Erwartungen an mich zu stellen. Bei ihm habe ich nicht den Eindruck, die nicht aneckende Person sein zu müssen, die andere in mir sehen. In den letzten Monaten habe ich mich häufig gefragt, wann genau es angefangen hat, dass ich leiser wurde, mich selbst zurückgenommen habe, um allen anderen mehr Raum zu geben.
Ein dumpfes Geräusch erweckt meine Aufmerksamkeit. Ich nehme die Kopfhörer ab und lege sie auf dem Nachtschrank ab. Dann sehe ich mich danach um, ob irgendwas umgefallen ist. Nichts, stattdessen höre ich den Regen, der leise gegen die Scheibe prasselt. Der zugezogene Vorhang bewegt sich, als hätte ihn ein Windstoß erfasst. Ein Knacken, das nicht von Tropfen herrührt, die auf Glas treffen, lässt meinen Puls in die Höhe schießen.
Hastig springe ich aus dem Bett und eile durch das Zimmer. Mit einem Ruck reiße ich den schweren Stoff genau in dem Augenblick beiseite, als sich das bodentiefe Fenster öffnet und eine dunkle Gestalt versucht ins Innere zu gelangen. Erschrocken schreie ich auf und weiche zurück, denke bereits darüber nach, was ich als Waffe benutzen könnte, um der Person, die jetzt den Kopf hebt und mich angrinst, eins überzuziehen.
»Gott, kannst du nicht wie jeder Mensch an der Tür klingeln?«, entfährt es mir, als ich direkt in Jaspers Gesicht blicke.
»Ich wollte unbedingt einmal den Trick mit dem Strick ausprobieren«, erwidert er und hebt die Hand, an der eine dünne Kordel baumelt. In einer schnellen Bewegung schüttelt er sich das Wasser aus den Haaren und bringt sie anschließend mit den Fingern wieder in Form. Mein Blick wandert über ihn. Er ist völlig durchnässt. Die Sportkleidung klebt an seinem Körper. Zu seinen Füßen bildet sich eine kleine Pfütze.
»Du tropfst alles voll«, merke ich an.
»Ich wurde vom Regen überrascht und dein Bungalow war näher als meiner«, antwortet er und zuckt mit den Schultern.
»Du suchst also Unterschlupf?«
»Ja, das auch.« Mit der rechten Hand greift er sich in den Nacken und zieht den nassen Pulli über den Kopf. Dabei rutscht sein Langarmshirt nach oben und gibt den Blick auf sein Sixpack frei. Als er merkt, woran meine Aufmerksamkeit hängen geblieben ist, zieht er den Stoff herunter und schmunzelt. »Ich würde gerne mit dir über etwas sprechen.«
»Mmh«, sage ich, weil ich gedanklich noch bei dem Anblick von Haut festhänge, die sich über feste Muskeln spannt.
»Ich meine es ernst.«
Blinzelnd sehe ich ihn an. Gerade schlüpft er aus den Laufschuhen und begutachtet seine nassen Socken, bis er sich ihrer ebenfalls entledigt.
»Du willst reden?«, frage ich ungläubig, als er nach dem Bund der Trainingshose greift.
»Ja.« Er schiebt sie nach unten.
»Warum ziehst du dich dann aus?«, poltert es aus mir heraus.
»In der Zwischenzeit trockne ich meine Kleidung auf der Heizung.«
Das kann unmöglich sein Ernst sein. Doch, ist es, denn er hängt tatsächlich seine Klamotten über die Heizung.
»Und du glaubst, ich kann eine Unterhaltung mit dir führen, während du halb nackt vor mir stehst?«
»Ich kann mich auch komplett ausziehen.« Ein freches Grinsen erscheint auf seinen Lippen, als er die Daumen in den Gummibund seiner Boxershorts einhakt.
»Untersteh dich!«, ermahne ich ihn. »Warte hier!«, weise ich ihn an, bevor ich aus dem Zimmer eile und ins Bad husche, um ein großes Handtuch zu holen. Bevor ich zurückgehe, werfe ich einen Blick in den Spiegel und überlege, ob ich wenigstens Wimperntusche auftragen sollte. Ich verwerfe den Gedanken allerdings, als ich an mir herabsehe und den gepunkteten Pyjama entdecke. Das ist noch so ein schlechter Running Gag zwischen uns. Warum taucht er immer dann auf, wenn ich das Teil aus dem Kleiderschrank krame? Ich besitze durchaus auch Nachtwäsche, die wenigstens sexy angehaucht ist. Zwar nur dezent, aber besser als das Modell, in dem ich wie eine Teenagerin aussehe – was daran liegt, dass der Schlafanzug aus genau der Zeit stammt und ich es nicht übers Herz bringe, ihn auszusortieren.
Nachdem Jasper sich gestern Morgen aus meinem Bett geschlichen hat, haben sich in meinem Kopf jede Menge Szenarien abgespielt, aber in keinem kam er durch ein Fenster geklettert, zog sich aus und sagte: Wir müssen reden . Wobei ich die Vorstellung durchaus heiß finde, auch wenn meine Fantasie in eine andere Richtung geht, als er möglicherweise beabsichtigt.
Als ich das Zimmer wieder betrete, steht Jasper neben dem Bett und hat meine pinken Kopfhörer auf. Bitte lass Enya und Jonah nicht das tun, was sich vor wenigen Minuten bereits angekündigt hat. Jasper grinst so breit, als er mich im Türrahmen entdeckt, dass mir schwindlig wird. Hitze schießt mir in die Wangen, weil er sich sichtlich ein Lachen verkneift und für einen winzigen Augenblick die Unterlippe zwischen die Zähne zieht.
»Und ich dachte, du stehst auf True-Crime-Podcasts«, sagt er eine Spur zu laut, vermutlich weil die Kopfhörer ihm das Gefühl für seine eigene Lautstärke nehmen.
Ich werfe das Handtuch auf den Schreibtischstuhl und gehe auf ihn zu. »Gib sie her!«, sage ich und unterstreiche meine Worte, indem ich nach den Kopfhörern greife.
Geschickt weicht er aus. »Vergiss es, es wird gerade spannend.«
Wie ich dieses herausfordernde Schmunzeln hasse und gleichzeitig liebe.
»Lass den Quatsch!« Erneut mache ich einen Schritt auf ihn zu, dann schiele ich zum Nachtschrank, auf dem mein Handy liegt. Er muss geahnt haben, was ich vorhabe, denn er ist schneller und nimmt es an sich.
»Willst du wissen, was die beiden gerade treiben?«
Energisch schüttle ich den Kopf, weil ich es bereits ahne. Er sieht das anders, denn es erscheint ein teuflisches Funkeln in seinen Augen, als er auf mich zukommt. Im Vorbeigehen wirft er das Handy aufs Bett. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber mein Körper reagiert mit einem Kribbeln, das sich verdächtig nach Vorfreude anfühlt.
Jaspers Blick gleitet über mich und bleibt kurz an meinen Brüsten hängen, bevor er mir in die Augen sieht. Ein Schritt. Noch einer. Dann steht er vor mir.
»Er hat ihr seine Liebe gestanden«, sagt er nun deutlich leiser. Mein Herz setzt für einen Schlag aus und kommt polternd wieder in Bewegung. »Und sie erwidert sie.« Das Braun seiner Augen wird noch dunkler. Er schiebt seine Hand in meinen Nacken, zieht mich zu sich heran. Ganz automatisch neige ich den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Er küsst sie.«
Im nächsten Moment streichen seine Lippen über meine. Hinterlassen die Sehnsucht nach mehr. Er greift mit der freien Hand nach meiner und führt sie unter sein Shirt. Meine Finger treffen auf warme, regenfeuchte Haut. Jasper schiebt sie höher, lässt sie seine Bauchmuskeln erkunden. Stöhnt leise, als ich mit den Nägeln zärtlich darüberkratze.
Erneut küsst er mich, diesmal fordernder. Mit den Fingerspitzen ertaste ich eine Unebenheit auf seinem Brustkorb. Er zieht scharf die Luft ein, schiebt meine Hand minimal nach links, bis ich seinen Herzschlag spüren kann. Schnell. Kräftig. Genau wie meiner. Unsere Finger verschränken sich und für einen Moment frage ich mich, ob er spiegelt, was er hört, oder sein eigenes Skript schreibt.
Egal wie die Antwort ausfällt, das Verlangen, das mich durchströmt, lässt sich nicht zurückdrängen. Ich stöhne in seinen Mund. Spätestens jetzt ist ihm klar, dass mich dieses Spiel zwischen uns erregt. Der Kuss wird sanfter, bis er ihn beendet und einen winzigen Schritt zurücktritt.
»Er zieht sich aus«, sagt er und lässt den Blick erneut über mich gleiten. Meine Brustwarzen richten sich unter dem dünnen Top auf. Einer seiner Mundwinkel zuckt. »Willst du, dass ich mich ausziehe, Abbie?«
»Ja«, formen meine Lippen, weil ich alles von ihm sehen will. Mit beiden Händen greift er nach dem Kragen seines Shirts, weitet ihn und zieht es sich schließlich in einer fließenden Bewegung über den Kopf. Mein Blick folgt dem Stoff, der Zentimeter für Zentimeter mehr Haut freilegt. Für wenige Sekunden bleibt meine Aufmerksamkeit an der Unebenheit hängen, die ich ertastet habe. Die Narbe beginnt auf seinen Rippen und endet zwei Finger breit unter seiner Brustwarze. Ich zwinge mich, nicht länger auf die Stelle zu starren. Mein Herz bricht ein bisschen bei dem Anblick, denn ich habe so eine Ahnung, wem er sie verdankt. In diesem Moment hasse ich Elijah Anderson dafür, was er seinem Sohn angetan hat.
Mit einer Handbewegung fordert Jasper mich auf, ebenfalls mein Shirt auszuziehen. Ich zögere, weil ich von den bunten Linien, die seinen rechten Arm bis zum Handgelenk vollständig bedecken, fasziniert, aber vor allem überrascht bin. Ein Tattoo steht im völligen Kontrast zu dem, was er verkörpert. Angezogen fällt er in die Kategorie konservativer Upperclass Boy, nackt schreit er regelrecht nach unbezwingbarem Rebell. Und ich gebe zu, beide Versionen üben einen Reiz auf mich aus, aber die, die gerade vor mir steht, bringt mich augenblicklich mit einem unschuldigen Lächeln endgültig um den Verstand.
Jasper nimmt die Kopfhörer ab, schließt die Lücke zwischen uns und beugt sich zu mir herab. Inzwischen schlägt mir mein Herz bis zum Hals, während mein Körper in Flammen aufgeht, als sein warmer Atem auf meine Haut trifft.
»Ich will, dass du dich für mich ausziehst«, flüstert er mir ins Ohr. Federleicht wandern seine Lippen über meinen Hals, hinab zur Schulter, treffen auf den schmalen Träger des Tops. Mit der Zungenspitze schiebt er ihn beiseite, bis er über die Rundung meiner Schulter rutscht. »Ich will deinen Mund auf mir spüren. Und ich wüsste zu gern …« Er ergreift mein Handgelenk, küsst meine Fingerknöchel, bevor er meine Hand auf seine Brust legt und sie nach unten schiebt. »… wie es sich anfühlt, wenn sich deine Lippen um …«
Er lässt den Satz unbeendet, als sich mein Blick auf seine Erektion heftet, die sich deutlich unter den Boxershorts abzeichnet. Ich ziehe die Hand zurück, umfasse im nächsten Augenblick sein Gesicht und küsse ihn. Tief. Innig. Und unmissverständlich.
Etwas fällt zu Boden. Vermutlich die Kopfhörer. Dann liegen seine Hände auf meinem Po, pressen mich an ihn. Seine Erektion spüre ich hart an meinem Bauch. Das Wissen, dass ich ihn derart errege, lässt mich mutiger werden. Bisher habe ich in Sachen Sex nie die Führung übernommen. Es hat mich auch nie gereizt. Aber Jasper weckt in mir den Wunsch herauszufinden, wie weit ich gehen kann. Mit ihm. Nur mit ihm. Weil nur er dieses Verlangen in mir auslöst.
Ich dränge ihn in Richtung Bett, bis er mit den Waden gegen den Rahmen stößt. Meine Hände landen auf seinen Schultern und fordern ihn mit sanftem Druck auf, sich hinzusetzen. Grinsend sieht er zu mir auf. Ein Funkeln liegt in den Augen, das verrät: Ich will dich . Und ich will ihn nicht weniger.
Ohne den Blick von ihm zu lösen, greife ich nach dem Saum meines Tops und ziehe es aus.
Jasper stößt ein »Fuck!« aus.
Ich schlucke, als er meine Brüste fixiert und seine Zungenspitze für den Bruchteil einer Sekunde hervorblitzt, um seine Lippen zu befeuchten. Unter seinem intensiven Blick erschaudere ich und sehne mich danach, nicht nur angesehen, sondern berührt zu werden.
Als kenne er meine Gedanken, umfasst er meine Hüften, schiebt mit den Knien meine Beine auseinander und platziert mich auf seinem Schoß. Seine Finger vergräbt er in meinem Nacken. Als ich ihn küssen will, hält er mich davon ab.
»Wir verschieben die Unterhaltung, aber lass uns zumindest eine Sache klären«, flüstert er.
»Okay«, hauche ich.
»Normalerweise bin ich kein egoistischer Mensch, aber in diesem Fall teile ich nicht. Weil ich durchdrehen würde, wenn dich ein anderer so berühren dürfte wie ich. Du gehörst mir allein oder wir lassen es.« Seine Worte klingen sicher schärfer, als er beabsichtigt hat, denn mit den Fingerknöcheln streicht er gleichzeitig liebevoll über meine Wange.
Das wäre jetzt der Augenblick, in dem ich ihm sagen sollte, dass ich Waterbury verlassen werde.
Dass ich es nicht tue und stattdessen nicke, ist ihm gegenüber nicht fair. Ich fühle mich wie eine Heuchlerin, als ich mich erst von ihm küssen und schließlich vollständig ausziehen lasse. Mein Herz bricht ein bisschen mehr, als er sich über mich schiebt und sich in seinen Augen so viel mehr als Verlangen entdecken lässt.
Als unsere Körper eins werden, ist es gleichermaßen In-Richtung-Himmel-Fliegen und In-die-Hölle-Stürzen. Bittersüß. Weil es nicht nur Sex, sondern Liebe ist. Und es fühlt sich nach Sterben an, als ich eine kleine Ewigkeit später in seinen Armen einschlafe.