36.
JASPER
Seit dreißig Minuten starre ich nachdenklich auf den Bildschirm meines Laptops. Das liegt hauptsächlich daran, dass ich nach wie vor keinen Plan habe, wie ich mit Abbie zusammen sein kann, wenn ich nicht in den Staaten bleibe. London ist nicht gerade um die Ecke. Und wie schwer es ist, in Kontakt zu bleiben, wenn man sich in verschiedenen Zeitzonen befindet, musste ich bereits bei Noah feststellen. Eine ernsthafte Beziehung auf verschiedenen Kontinenten erscheint mir schier unmöglich. Vor allem, wenn sie sich noch im Entwicklungsstadium befindet.
Die andere Sache ist, dass ich glaube, meinem Leben zuerst eine neue Richtung geben zu müssen, um Abbie gerecht zu werden. Denn mein Verstand ist immer noch zu sehr damit beschäftigt, all die offenen Tabs zu schließen. Es erscheint mir nicht fair, ihr nicht die Priorität einzuräumen, die sie verdient. Und gerade versuche ich, das irgendwie in einer Textnachricht auszudrücken, was armselig ist. Also lösche ich die Worte wieder. Ich werde Abbie, sobald ich den heutigen Abend überstanden habe, einen Besuch abstatten und mit ihr das Gespräch führen, das ich angedeutet habe, bevor wir eine andere Richtung einschlugen.
»Worüber denkst du so angestrengt nach?«, ertönt Camerons Stimme hinter mir.
»Musst du dich immer so anschleichen?«, motze ich ihn an, lege das Handy beiseite und klappe den Laptop zu.
»Habe ich nicht, ich habe extra laut den Kühlschrank geschlossen.«
»Sorry, ich wollte dich nicht anfahren. Ich versuche nur gerade eine Lösung für ein Problem zu finden.«
»Kann ich dir dabei irgendwie behilflich sein?«
»Nein, oder vielleicht doch«, sage ich, stehe vom Sofa auf und setze mich zu Cam an den Küchentisch. Er sieht mich kurz an und taucht dann den Löffel in die Schüssel mit den Cornflakes. »Aktuell beschäftigt mich die Frage, wie kompatibel ich mit einem Leben in Waterbury bin.«
»Willst du meine Meinung dazu hören?«
»Ja«, antworte ich, weil mich seine Ansicht interessiert und ein anderer Blickwinkel durchaus hilfreich sein kann.
»Gar nicht.« Cam schiebt sich eine weitere Ladung Cornflakes in den Mund, während ich ihn abwartend ansehe.
»Kannst du das genauer definieren?«
Er legt den Löffel beiseite und fokussiert sich auf mein Gesicht. »Weil du nicht hier sein willst.«
»Das wolltest du auch nicht, und doch scheinst du jetzt glücklich zu sein.«
»Ich wollte nicht als du hier sein. Klar, am Anfang war es seltsam in Waterbury, aber ich habe mich gefragt, wie es wäre, als ich selbst dieses College zu besuchen. Ich wäre auch hier, wenn ich mich nicht in Aspen verliebt hätte, sofern sich mir trotzdem die Chance auf einen Platz geboten hätte. Aber Aspen ist ein wirklich netter Bonus. Du hingegen überlegst hierzubleiben, weil du dich in Abbie verguckt hast. Es ist vielleicht nicht das, was du hören willst, aber es wird nicht funktionieren. Ich saß lange genug in Bellbrook fest, weil ich bei den Menschen sein wollte, die ich liebe, und habe mich dabei selbst verloren. Dann hast du mich hierhergeschickt und ich habe mich daran erinnert, dass ich vor dem Tod meiner Eltern Ziele hatte. Und das war nicht für ein paar lausige Dollar im Truckstop zu schuften. Was ist mit dir?«
»Ich habe ein Flugticket nach London.« Wenn ich hierbleibe, bekomme ich möglicherweise Abbie, aber sie bekommt nicht alles von mir, weil ich immer nur einen Atemzug davon entfernt wäre, meine Koffer zu packen.
»Ja, so was in der Art habe ich vermutet.«
»Hast du?«, frage ich erstaunt, weil ich mich nicht erinnern kann, je erwähnt zu haben, dass ich die Staaten wieder verlassen werde.
»Für mich hast du schon immer wie jemand auf der Durchreise gewirkt, und da es dir in Waterbury nicht gefällt, war mir klar, es ist nur eine Frage der Zeit, bis du die Segel streichst und weiterziehst. Ich vermute, du wärst längst nicht mehr hier, wäre die Stiftung von Abbies Mom nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Irgendwo auf deiner Mission, es geradezubiegen, sind Gefühle entstanden, die dir jetzt in die Quere kommen. Die Zwickmühle, in der du steckst, lautet bleiben oder in den Flieger steigen.«
»Ja, das fasst es ganz gut zusammen.«
Cam lacht. »Gott, es fühlt sich verdammt gut an, dass du ein Mal keine Lösung parat hast. Ich habe schon daran gezweifelt, ob du tatsächlich ein Mensch bist oder doch eher ein Roboter, der über eine beängstigend hohe künstliche Intelligenz verfügt. So wie in dem Film, du weißt schon.«
»Nein, weiß ich nicht, aber es freut mich, dass ich zu deiner Unterhaltung beitrage.«
Das Grinsen verblasst. Cameron legt die Stirn in Falten, während er nachdenklich auf seiner Unterlippe kaut. Es macht ein schnalzendes Geräusch, als er sie wieder freigibt und mich ansieht, als wäre ihm ein Licht aufgegangen.
»Okay, lass mich an deinem Geistesblitz teilhaben. Vielleicht lässt sich damit ausnahmsweise mal etwas anfangen«, ziehe ich ihn auf. Für gewöhnlich sind die Einfälle meines Freundes nicht unbedingt zu gebrauchen.
»Möglicherweise lautet die Lösung, beides zu tun.«
»Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.«
»Vielleicht solltest du in den Flieger steigen, so viel Zeit mit dir allein verbringen, wie es braucht, um dich zu finden. Komm mal zur Ruhe und denk darüber nach, was du vom Leben erwartest. Und wenn du darauf eine Antwort gefunden hast, komm zurück.«
»Du klingst wie Granny El.«
»Ja, habe ich auch gerade bemerkt.«
Wir lachen beide.
»Schade, dass du nicht backen kannst und miesen Tee zubereitest.«
»Ich überlasse dir gerne für eine Weile mein altes Zimmer.«
»Rundumservice von Granny El klingt verlockend, aber ich glaube, du hast recht.«
»Was ist mit der anderen Sache, die du regeln willst?«
»Der Stein rollt bereits. Der König hat noch achtundzwanzig Stunden, um die richtige Entscheidung zu treffen, bevor ich seinem Leben eine andere Richtung gebe.«
»Und dann haust du ab?«
»Mein Flieger geht morgen Abend. Ich warte nur noch darauf, dass Elijah hier auftaucht und mir erklärt, dass ich mich nicht in seine Angelegenheiten einmischen soll.«
»Wie kommst du darauf, dass er sich die Mühe macht, nach Waterbury zu kommen?«
»Weil seine Anwälte ihn heute Mittag darüber informiert haben sollten, dass ich in seinem Prozess als Zeuge der Staatsanwaltschaft aussagen werde, nachdem ich die Info habe durchsickern lassen.«
»Wann rechnest du mit seinem Besuch?«
Ich stehe auf, stelle mich ans Fenster und warte.
»Jetzt«, sage ich, denn in diesem Augenblick nähern sich dem Bungalow die Scheinwerfer eines Autos.
»Was?«, entfährt es Cam. Er tritt neben mich. »Warum steigt er nicht aus?«, fragt er, als sich nichts tut.
»Machtspielchen. Er wartet, bis ich aus dem Haus komme, erst dann steigt er aus dem Auto«, antworte ich, wende mich ab und durchquere das Wohnzimmer. Dann atme ich einmal tief durch, nehme den Mantel von der Garderobe und ziehe mir die Schuhe an. Ich habe die Finger bereits auf der Türklinke, dann zögere ich. Ich schließe für einen Moment die Augen und hole ein letztes Mal den Kerl aus der Ecke, der es mit Elijah aufnehmen kann.
Ich ziehe die Tür hinter mir zu, weil ich nicht vorhabe ihn hereinzubitten oder ihn auf Cameron treffen zu lassen. Während ich in Gedanken die Sekunden zähle, schiebe ich meine Hände in die Manteltaschen und balle sie zu Fäusten.
Sechsunddreißig. Siebenunddreißig. Achtunddreißig.
Die hintere Tür des Luxuswagens öffnet sich.
Neununddreißig. Vierzig.
Er steigt aus, sieht nicht mal in meine Richtung, sondern dreht mir den Rücken zu, das Handy am Ohr.
»Machen Sie Ihren Job, schließlich bezahle ich Sie dafür«, sagt er schroff. Ich bin froh, dass er nicht bemerkt, wie ich bei dem Klang seiner Stimme zusammenzucke.
Die Schultern gestrafft warte ich darauf, dass er sich zu mir umdreht. Es dauert weitere vier Sekunden. Sein Blick ist auf das Display geheftet. Ich weiß, was er hier gerade versucht. Die Demonstration dessen, wie belanglos ich für ihn bin, habe ich öfter erlebt, als ich zählen kann. Dabei habe ich keine Ahnung, wann genau das angefangen hat. Was der Auslöser für diese Ablehnung war. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er es selbst weiß. Ob es überhaupt einen gibt.
»Du hast zwei Minuten«, sage ich, weil mich sein Gehabe nervt.
Er steckt das Handy in die Innentasche seines Sakkos, dann sieht er mich an. Ich unterdrücke den Impuls, den Blick abzuwenden.
»Ich bin nicht von Boston hierhergefahren, um mir von dir das Zeitfenster für eine Unterredung vorschreiben zu lassen.«
Ich hasse diesen spöttischen, provozierenden Ton, den ich ebenso gut beherrsche. Diese Art von Dominanz verfehlt selten ihre Wirkung.
»Und ich denke, du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen«, erwidere ich gedehnt, damit er weiß, dass ich von seinem persönlichen Auftauchen unbeeindruckt bin. Er ist nur hier, weil ich es will. Diese Art von Manipulation habe ich ebenfalls von ihm gelernt. Ich wusste, dass er herkommen und versuchen würde mich einzuschüchtern, sobald die Neuigkeiten bei ihm ankommen. Anders als bei unserer letzten Begegnung bin ich diesmal darauf vorbereitet.
»Gut, überspringen wir den Teil mit den höflichen Floskeln. Warum wirst du als Zeuge der Staatsanwaltschaft aufgeführt?«
»Möglicherweise, weil ich etwas zu sagen habe«, antworte ich und verziehe die Mundwinkel dabei bewusst zu einem herausfordernden Grinsen.
»Was weißt du schon, was von Bedeutung sein könnte?« Das ist keine Frage, sondern ein Du bist ein Nichts .
»Du erinnerst dich an das Versprechen, das ich dir an jenem Tag gegeben habe?«
Ein verwirrter Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht.
»Ich halte meine Versprechen und ich hoffe, du genießt die Hölle, die ich für dich erschaffen habe.«
Es dauert ein paar Sekunden, bis meine Worte bei ihm ankommen, dann macht er einen Schritt auf mich zu. »Du steckst hinter allem!«
»Ich erachte es als nur fair, dir deinen Lebenstraum zu entreißen, wie du es mit meinem getan hast.«
Noch ein Schritt, während ich mich nicht von der Stelle bewege. Er wird nicht die Beherrschung verlieren, wenn Cam am Fenster und der Fahrer im Auto uns beobachten. Dennoch macht sich ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust breit.
»Hast du auch nur eine Minute darüber nachgedacht, was du deiner Mutter damit antust?«
Dass er es über die Schiene versucht, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
»Du meinst, im Gegensatz zu dir?«, spiele ich den Ball zu ihm zurück.
Seine Miene wird starr. An diesem Punkt waren wir schon einmal und es endete damit, dass ich eine Woche später im Krankenhaus aufgewacht bin. Jetzt bin ich es, der die Distanz zwischen uns verkürzt. Entschlossen sehe ich ihm in die Augen. Ich werde keinen Rückzieher machen.
»Ich werde dir alles nehmen. Mom. Die Firma. Deine Freiheit. Deinen Ruf. Einfach alles. Und ich werde es mit einem Lächeln tun.«
Und dann stürzt seine abgebrühte Fassade vollends ein. Er packt mich am Kragen, doch ich zucke nicht einmal mit der Wimper. Da ist keine Angst. Das Monster hat seinen Schrecken verloren.
»Du« , presst er aus zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich hätte dich undankbaren Bastard auf dem Parkplatz des Sportgeländes liegen lassen sollen, statt den Krankenwagen zu rufen.«
Und dann zucke ich doch zusammen, aber nicht wegen seiner Worte, sondern wegen der Stimme, die durch die Dunkelheit hallt und meinen Namen ruft. Fuck!
Mein Kopf schnellt in die Richtung, aus der Abbie auf uns zugerannt kommt.
»Lassen Sie ihn sofort los oder ich rufe die Campuspolizei!«
Ich verkneife mir ein Lachen, als sie Elijah einen Fausthieb gegen die Schulter verpasst, woraufhin er mich eher aus Reflex und nicht wegen ihrer Androhung loslässt.
»Miss Westing, wie schön, Sie wiederzusehen«, sagt er, als hätte er mich nicht gerade am Schlafittchen gepackt, sondern eine simple Unterhaltung mit mir geführt. Eindringlich mustert er sie. Ganz automatisch schrillen bei mir alle Alarmglocken.
Als Nächstes schwingt die Tür hinter uns auf und fällt wenig später wieder ins Schloss. Plötzlich steht Cameron neben mir. »Alles in Ordnung hier draußen?«, fragt er und sieht zwischen mir und Elijah hin und her. Was hat er mit dem Schuhanzieher vor?
»Bring Abbie ins Haus, ich komme gleich nach.«
Für einen winzigen Moment zögert sie und sucht meinen Blick. Mit einem Nicken bedeute ich ihr, Cam zu folgen. Ein leises Seufzen entweicht ihr, bevor sie meiner Aufforderung nachkommt.
Ich sehe wieder zu Elijah, der den beiden hinterherschaut, während sie im Bungalow verschwinden.
»Hübsches Ding. Was Ernstes?« In seinem Blick spiegelt sich der abfällige Ton wider. »Weiß sie, dass du das Ansehen deiner Familie mit Füßen trittst, obwohl sie dir all das hier ermöglicht? Oder dass ihre Familie deinetwegen in der Krise steckt, weil du dich für eine Belanglosigkeit bei mir rächen willst?«
Mir die Seele aus dem Leib zu prügeln, ist für ihn also nicht mehr als eine Belanglosigkeit.
»Dir ist hoffentlich bewusst, dass du keinen Cent mehr von mir erhältst, solltest du vor Gericht auftauchen. Außerdem werde ich eine Unterhaltung mit deiner kleinen Abbie führen.«
Das Erste, was ich getan habe, nachdem ich über mein Erbe verfügen konnte, war, meiner Mom Zugang zu dem Geld zu verschaffen, damit sie zukünftig finanziell unabhängig von dem Mistkerl ist. Darüber haben wir an meinem Geburtstag ebenfalls gestritten. Sie wollte es nicht annehmen und nach wie vor nicht wahrhaben, dass Elijah pures Gift ist. Ich hoffe wirklich, dass man ihn wegsperrt und meine Mom sich von ihm befreit. Emotionale Abhängigkeit unterscheidet sich nicht von der von chemischen Substanzen. Beides macht dich kaputt. Nimmt dir den Bezug zur Realität. Kapselt dich ab. Kontrolliert dich. Ein Teil von dir weiß, wie ungesund die Beziehung ist, der andere kann ohne sie nicht existieren. Diese Mischung aus Angst, Hilflosigkeit und Sucht weicht irgendwann der Akzeptanz und lässt dich zu einer Marionette werden, deren Fäden der Teufel höchstpersönlich in den Händen hält.
»Wenn du dich Abbie näherst, spendiere ich dir einen Grabstein mit deinem Namen drauf. Und jetzt verpiss dich aus meinem Leben. Wir sind quitt.« Entschlossen wende ich mich von ihm ab.
Das Zweite, was ich getan habe, war, einen Scheck über eine Summe auszustellen, bei deren Anblick mir übel wurde. Auch wenn ich seit dem Tod meines Großvaters keinen Cent von Elijah ausgegeben habe, hat sich in den Jahren zuvor einiges angesammelt. Die genaue Höhe seines Investments in mich ist mir zwar unbekannt, aber ich denke, ich habe großzügig kalkuliert, um mir meine Freiheit von ihm zu erkaufen. Für ihn ist es dennoch nicht mehr als ein Taschengeld in Millionenhöhe.
»Die Unterhaltung ist noch nicht beendet!«
»Doch ist sie. Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Wir sehen uns vor Gericht.«
Dann gehe ich. Lasse ihn zurück. Und endlich habe ich das Gefühl, dass das Gewicht auf meinen Schultern deutlich leichter geworden ist. Zwar habe ich Elijah nicht besiegt, aber er weiß jetzt, dass ich ein ernst zu nehmender Gegner bin.