Liverpool, November 1839
Als Thomas in die Old Hall Road kam, standen die Constables am Straßenrand und warteten schon auf ihn. Der Regen hatte aufgehört, aber die Wolken verdeckten noch immer die Sonne, sodass es den ganzen Tag nicht richtig hell geworden war.
»Haben Sie etwas Interessantes an einem der Tatorte gefunden?«, fragte der Inspector seine Männer.
Green schüttelte den Kopf.
»Das wäre ja auch zu schön gewesen«, murmelte Thomas enttäuscht. Einmal mehr stieg Wut auf die ignoranten Liverpooler Polizisten in ihm auf. Die hätten Beweise sichern und nach Hinweisen auf den Mörder suchen müssen. Jetzt war natürlich nichts mehr zu finden.
»Aber wir haben diese Nachbarin aufgespürt, Mrs Smith. Sie hat den Mann tatsächlich gesehen, den die Näherin Yvette Millner an dem Abend ihres Todes mitgenommen hat.« Twicklehurst deutete auf das gegenüberliegende Haus, das Kontor einer indischen Handelsfirma. »Da drüben hat Yvette Millner im Hinterhaus gewohnt, und die Frau, die sie gesehen hat, wohnt direkt hier.« Er zeigte auf das Haus, vor dem sie standen. »Ich habe ihr gesagt, dass wir nur noch auf Sie warten und dann ein paar Fragen haben. Wie ist es bei Ihnen gelaufen, Chef? Haben Sie mit Miss Brown gesprochen?«
Thomas räusperte sich. »Ja, allerdings. Aber ich fürchte, ich habe mich von ihr an der Nase herumführen lassen.«
»Sie? Inwiefern?«, fragte Twicklehurst und grinste.
»Sprechen wir nicht weiter darüber«, brummte Thomas. »Ich habe in ihrem Salon einige Aquarelle gesehen, die Wooverlough Court zeigen und die Kirche von Fleetwood. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dem Pfarrer gibt.«
»Und was hat sie zu der toten Dirne gesagt, die sie gefunden hat?«, wollte Green wissen.
Thomas berichtete, was er von Madeline Brown erfahren hatte. »Ich glaube, sie verschweigt mir etwas. Genau wie auch die Haushälterin des Pfarrers und der Earl mir nicht alles gesagt haben, was sie wissen«, schloss er und wandte sich dann dem baufälligen Haus zu, vor dem sie standen.
Er klopfte an die Tür.
Wenig später öffnete ihm ein ungefähr zehnjähriger Junge. Sein Gesicht war schmutzig vom Staub der Straßen. Er drehte sich um und schrie: »Mutter!«
Im nächsten Moment erschien eine kleine gedrungene Gestalt in einem einfachen Baumwollkleid, die Haare zu einem schmucklosen Knoten zusammengefasst. »Ach Sie, kommen Sie durch«, sagte sie wenig begeistert und schlurfte den engen Flur entlang.
Thomas warf seinen Constables einen fragenden Blick zu und Green zog die Schultern hoch.
Die Männer folgten der Frau in ein Zimmer, das anscheinend als Wohnzimmer, Küche und Schlafraum gleichzeitig diente. Neben dem alten Ofen stand ein Bett, an der gegenüberliegenden Wand bildeten zwei abgenutzte Sessel und einige wacklige Stühle eine Sitzecke. Es stank nach kalter Asche.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte die Frau und räumte ein paar Bauklötze beiseite, die auf den Stühlen gelegen hatten.
Thomas setzte sich in einen der Sessel, Green und Twicklehurst nahmen auf Stühlen Platz. Der Inspector schlug den Mantelkragen hoch, es war feucht in diesem Raum. Sein Blick glitt über die grünen Schimmelflecken an den Wänden.
»Ich kann Ihnen leider keinen Tee anbieten«, sagte die Frau entschuldigend und nahm in dem zweiten Sessel Platz. »Ich bekomme erst am Samstag Geld, um neuen zu kaufen.«
»Das macht nichts«, versicherte ihr Thomas schnell, er beschloss, sofort auf den Punkt zu kommen. »Sie haben Yvette Millner also gesehen, in der Nacht, in der sie ermordet wurde?«
Die Nachbarin nickte. »Ich hab auf meinen Mann gewartet. Es war Samstag und er hatte seinen Lohn bekommen, kam aber nicht nach Hause, sondern ging wie immer gleich in den Pub damit. Ich hab mich so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Hab mir Sorgen gemacht. Das Geld reicht nicht mal, um die Kinder satt zu bekommen.« Sie atmete tief ein und Thomas meinte, ihre Wut spüren zu können. »Jedenfalls stand ich am Fenster, und da sah ich sie die Straße runterkommen mit einem Mann. War nicht ungewöhnlich, ich wusste, was das für eine war. Die hat andauernd …« Ihr Blick wanderte zu ihrem Jungen, der jetzt auf dem Bett saß und mit ein paar Murmeln spielte. »Na, Sie wissen schon. Musste sich eben was dazuverdienen. Der Kerl schlich sich immer an der Wand entlang, als wollte er nicht gesehen werden.«
»Konnten Sie ihn dennoch erkennen?«, fragte Thomas.
Sie schüttelte den Kopf. »Und dann kam noch ein Zweiter, den ich auch nicht erkennen konnte.«
»Ein weiterer Mann?«
»Ja.«
»Haben Sie auch gesehen, wann die Männer wieder gegangen sind?« Thomas war auf seinem Sessel ein Stück nach vorn gerückt. Möglicherweise war einer der Männer der Mörder gewesen oder sogar beide. Es war nicht auszuschließen, dass es sich um zwei Komplizen handelte.
»Nee, das hab ich nicht mehr mitbekommen, weil Joe dann endlich nach Hause kam. Der war bis obenhin abgefüllt. Die Sperrstunde war längst vorbei und ich hab ihn am Schlafittchen gepackt und ihn zur Rede gestellt, aber er ist sofort eingeschlafen. Da bin ich dann auch ins Bett. Und als ich am nächsten Morgen mitbekommen habe, dass da was passiert war, hab ich mich gleich an die beiden Kerle erinnert. Ich bin zur Polizeiwache, weil ich dachte, die interessiert das, aber da lag ich falsch.«
Thomas versuchte sich die Enttäuschung darüber, dass Mrs Smith die Männer nicht hatte erkennen können, nicht anmerken zu lassen. »Können Sie sich erinnern, um wie viel Uhr Sie Miss Millner zurückkehren sahen?«
»Das war um Mitternacht rum, weil die Kirchturmuhr eben geschlagen hatte, und ich dachte noch, die Sperrstunde ist doch längst vorbei, wo bleibt der versoffene Kerl bloß?« Sie runzelte die Stirn. »Und nicht lange danach sah ich den zweiten Mann kommen.«
Thomas nickte und sah seine Constables fragend an.
Green übernahm. »Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen in dieser Nacht?«
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Oder in den Tagen und Nächten zuvor? Irgendwas, das ungewöhnlich war?«, hakte Green nach.
»Nee, nichts.«
»Können Sie ungefähr sagen, wie groß die Männer waren, die Sie in der Nacht gesehen haben, oder welche Statur sie hatten? Waren sie kräftig oder eher schlank?«, fragte Twicklehurst.
»Keine Ahnung, ich hab sie wirklich nicht richtig gesehen. Aber der erste war ziemlich groß, glaub ich.« Sie dachte angestrengt nach. »Ja, und der zweite war eher klein. Mehr weiß ich nicht.«
»Erinnern Sie sich an die Kleidung der Männer?«, fragte Thomas.
Sie überlegte wieder. »Auf jeden Fall dunkel, sonst hätt ich sie besser erkennen können. Wir haben ja die Gaslampe, drüben am Lagerhaus. Ohne die hätt ich sie gar nicht bemerkt. Jedenfalls den zweiten nicht, beim ersten war ja die Frau dabei. Die war mit ihren bunten Kleidern nicht so schnell zu übersehen, nicht mal in der Nacht.«
Thomas stand auf. »Ich danke Ihnen, und sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte umgehend auf dem Revier.«
Die Polizisten verabschiedeten sich.
»Was jetzt?«, fragte Green, als sie wieder auf der Straße standen.
»Noch einmal zum Pfarrhaus.« Thomas schaute sich nach einer Kutsche um. »Vielleicht sehen Sie ja etwas, das mir entgangen ist.«
Als sie in der Droschke saßen, die sie nach Fleetwood brachte, stellte Thomas fest: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass einer der beiden Männer, die diese Frau gesehen hat, der Mörder war.«
»Vielleicht hat der Pfarrer ja irgendwas mitbekommen, das er nicht mitbekommen sollte«, überlegte Twicklehurst. »Er hat einen der Morde beobachtet und musste deshalb sterben.«
»Aber an dem Abend, als er am Hafen war, wurde keine Frau ermordet. Wie lange liegt der Mord davor zurück?«, fragte Thomas.
Twicklehurst blätterte in seinem Notizbuch. »Das muss die Näherin gewesen sein. Genau, das war im Oktober.«
Der Inspector zog die Augenbrauen zusammen. »Dann wäre der Pfarrer doch längst zur Polizei gegangen, inzwischen war mehr als ein Monat verstrichen.«
»Das ist interessant«, sagte Twicklehurst, der noch immer in sein kleines Buch vertieft war.
»Was meinen Sie?« Thomas versuchte, das Schaukeln der Kutsche zu ignorieren. Die Straßen hier waren in schlechtem Zustand und die Mietdroschke eher unbequem.
»Zwischen den Morden liegen immer ungefähr sechs bis acht Wochen, Sir. Der erste fand im Januar statt, der zweite im März, dann jeweils einer Ende April, im Juli, im September und im Oktober.« Er steckte das Buch wieder in seine Tasche.
»Das ist eine interessante Beobachtung«, sagte Thomas und sah Twicklehurst anerkennend an. »Der Mörder scheint einem zeitlichen Rhythmus gefolgt zu sein. Vielleicht gelingt es uns ja mit dieser Erkenntnis, zumindest den nächsten Mord zu verhindern.«
Als sie Fleetwood erreicht hatten, setzte der Regen von Neuem ein, und die drei Polizisten beeilten sich, den Garten des Pfarrhauses zu durchqueren und an der Tür zu läuten. Mrs Slotsky öffnete ihnen und Thomas stellte ihr seine beiden Constables vor. Dann fragte er: »Wollten Sie nicht zu Ihrer Schwester fahren?«
Das Gesicht der Haushälterin blieb ausdruckslos, als sie antwortete: »Der Earl hat befohlen, dass ich vorerst noch hierbleibe.«
»Thomas überlegte, warum dem Earl die Anwesenheit der Haushälterin wohl so wichtig war. Vielleicht wollte er das Pfarrhaus gut versorgt wissen. »Wir möchten uns noch einmal umsehen«, sagte er zu ihr. »Diesmal würde ich auch gern das Schlafzimmer des Verstorbenen und sämtliche anderen privaten Räume sehen.«
Mrs Slotsky nickte und führte sie ohne ein weiteres Wort nach oben. Die beiden Constables schickte Thomas in das Arbeitszimmer des Pfarrers. Er selbst ließ sich von Mrs Slotsky das Schlafzimmer zeigen. Der Inspector wunderte sich darüber, dass der Pfarrer diesen kleinen und dunklen Raum als Schlafzimmer gewählt hatte, wo das Pfarrhaus doch so groß und hell war, dass es sicher schönere Zimmer darin gab. Es war ein ungemütlicher und unpersönlicher Ort. Auf dem Nachttisch neben dem schmalen Bett lag eine Bibel, an der Wand hing ein Kreuz. Sonst gab es keinerlei Zierrat in dem Raum.
Thomas drehte sich zu der Haushälterin um, die noch immer in der Tür stand, als wollte sie aufpassen, dass er auch ja nichts durcheinanderbrachte.
»Mrs Slotsky«, sagte er. »Warum ist hier alles so nüchtern und kahl? Der Pfarrer muss sich in seiner Freizeit doch auch einmal entspannt haben.«
Die Haushälterin antwortete nicht, sondern sah ihn nur abwartend an.
»Er kann doch nicht nur gebetet und gearbeitet haben.«
Immer noch Schweigen.
»Hatte er denn nicht einmal Bücher, die seiner geistigen Zerstreuung dienten, oder vielleicht Tagebücher, in denen er seine Gedanken festhielt?«
Mrs Slotsky schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich davon wüsste.«
»Wer waren seine Freunde, mit wem hat der Pfarrer viel Zeit verbracht?«
»Er war immer für seine Gemeinde da, und darüber hinaus war er kein geselliger Mensch«, antwortete die Haushälterin. »Manchmal war er zum Essen bei seinem Bruder auf Wooverlough Court. Aber nur selten. Und in letzter Zeit hat ihn gelegentlich Miss Brown besucht.«
»Miss Brown?«, fragte Thomas ungläubig. »Sie meinen Madeline Brown?«
Mrs Slotsky nickte.
»Woher kannte Mr Farwell denn Miss Brown?«
»Sie sind zusammen aufgewachsen.« Mrs Slotsky sah ihn überrascht an. »Ich dachte, das wüssten Sie.«
Thomas schüttelte den Kopf.
Mrs Slotsky fuhr fort: »Miss Browns Vater fuhr zur See und war gut befreundet mit dem dritten Earl, der sich in der Abwesenheit ihres Vaters um das Mädchen gekümmert hat. Madeline ist bei dem Pförtnerehepaar aufgewachsen. Ihr Vater kam hin und wieder vorbei. Sie war im selben Alter wie der Pfarrer und der gegenwärtige Earl.«
Thomas hatte das Gefühl, endlich eine wichtige Information erhalten zu haben. Aber warum hatten weder der Earl noch Miss Brown etwas davon erwähnt?
»Dann standen Miss Brown und der Pfarrer also seither in gutem Kontakt?«, fragte der Inspector.
Mrs Slotsky zog die Augenbrauen zusammen. »Eigentlich nicht. Ich habe sie nie hier gesehen, erst in letzter Zeit kam sie manchmal vorbei.«
»Was bedeutet ›in letzter Zeit‹?«, wollte Thomas wissen.
Die Haushälterin zuckte mit den Schultern. »Es ist vielleicht ein halbes Jahr her, dass sie hierherkam und nach ihm fragte. Damals war der Pfarrer aber nicht zu Hause, und nachdem sie eine Weile gewartet hatte, ging sie wieder. Einige Tage später kam sie erneut. Danach habe ich sie noch ein, zwei Mal hier gesehen, und ich hatte nicht den Eindruck, dass der Pfarrer sie besonders mochte. Einmal hat er sich sogar vor ihr versteckt.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht.« Sie errötete. »Er hat nicht bemerkt, dass ich ihn dabei beobachtet habe, und ich habe natürlich nie darüber gesprochen.«
Thomas nickte nachdenklich. »Und Sie sind sicher, dass er sie nicht mochte? Kann es nicht eher sein, dass der Pfarrer zarte Gefühle für Miss Brown hegte und sich aus diesem Grund vor ihr versteckt hielt? Vielleicht um sie heimlich zu beobachten?«
Mrs Slotsky sah ihn beinahe empört an. »Das sagte ich Ihnen doch schon beim letzten Mal – so einer war er nicht. Der Pfarrer hat sich nie verliebt, das passte nicht zu seiner religiösen Haltung. Er hat sein Leben ganz in den Dienst Gottes und seiner Gemeinde gestellt. Eine Frau hätte da nur gestört.«
»Sir?« In diesem Moment erschien Green in der Tür zum Schlafzimmer. »Wir sind mit dem Arbeitszimmer fertig.«
Thomas nickte. »Ich bin hier auch so weit. Mrs Slotsky, gibt es noch weitere private Räumlichkeiten des Pfarrers?«
»Nur noch den Salon und die Bibliothek. Alles andere sind Wirtschaftsräume und Gästezimmer.«
»Gästezimmer?«, sagte der Inspector. »Hatte der Pfarrer etwa regelmäßig Besucher?«
Sie schüttelte den Kopf und bedeckte eine der Kommoden wieder mit dem weißen Laken, das Thomas entfernt hatte. »Die stammen noch von seinem Vorgänger. Der alte Pfarrer hatte vier Kinder und das waren deren Zimmer. Solange Gerald Farwell hier ist, haben wir noch nie einen Übernachtungsgast gehabt.«
»Seit wann ist Pfarrer Farwell denn schon hier in der Gemeinde?«, fragte Thomas, während er vom Schlafzimmer in den Flur trat.
»Seit vier Jahren«, antwortete die Haushälterin.
Thomas sah sie überrascht an. »Erst seit so kurzer Zeit? Ich dachte, er sei schon deutlich länger in Fleetwood.«
Mrs Slotsky nickte. »Es ist immer so, dass der Erstgeborene den Titel, das Anwesen und die Ländereien erbt. Der Zweite erbt die Pfarrei. Hier in Fleetwood war es aber so, dass der ehemalige Pfarrer, Andrew Farwell, der Onkel von Gerald Farwell, sich erst vor vier Jahren zur Ruhe gesetzt hat, sodass Gerald das Amt erst spät übernehmen konnte.«
»Tatsächlich?«, sagte Thomas und stieg langsam die Treppe hinunter. »Und für den Vorgänger haben Sie auch schon gearbeitet?«
»Ja«, sie lächelte, »ich habe gern für Andrew Farwells sechsköpfige Familie gekocht. Nicht, dass ich es nicht auch sehr geschätzt habe, für den jetzt verstorbenen Pfarrer zu arbeiten. Aber es war schon schön, als noch mehr Leben hier im Haus war.«
»Und Gerald Farwell, was hat er in den Jahren davor getan? Immerhin muss er ja schon fast dreißig Jahre alt gewesen sein, als er die Stelle hier antrat«, wollte Twicklehurst wissen, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte.
»Er war siebenundzwanzig«, entgegnete Mrs Slotsky, während sie den beiden Polizisten die Treppe hinunter folgte. »Nun, ich weiß nicht, was er vor meiner Zeit getan hat. Ich nehme an, dass er lange studiert hat. Er hatte es schließlich nicht eilig, sein Onkel war ja noch hier. Aber das kann Ihnen sicher der Earl genauer sagen.«
Sie ließen sich noch den Salon und die Bibliothek zeigen, in der es ausschließlich religiöse Literatur gab. Nichts, was von Interesse für die Untersuchung gewesen wäre.
»Ich danke Ihnen, Mrs Slotsky.« Thomas verneigte sich förmlich, als sie aus dem Salon kamen. Dann verließen die drei Polizisten das Haus. Inzwischen war es dunkel geworden. Thomas hatte die Droschke draußen warten lassen.
»Wir sollten dem Earl noch einmal einen Besuch abstatten«, sagte Thomas, während er in die Kutsche kletterte. »Ich habe das Gefühl, dass er mir heute Vormittag eine Menge verschwiegen hat.«
Als sie vor Wooverlough Court hielten, fuhr gerade ein Zweispänner um die Hausecke.
»Wir scheinen nicht die einzigen Besucher zu sein«, stellte Thomas fest und stieg aus der Kutsche.
Der Butler war erstaunlich schnell an der Tür, was den Verdacht des Inspectors bestätigte, dass er vor Kurzem noch einem anderen Gast die Haustür geöffnet hatte. Er führte die drei Polizisten in den Raum, in dem Thomas auch heute Morgen auf den Earl gewartet hatte, und tatsächlich befand sich dort ein junger Mann, der auf einem der Lehnstühle am Kamin saß.
»Guten Tag«, begrüßte Thomas den Mann, den er auf kaum zwanzig Jahre schätzte. »Ich bin Inspector Thomas Young von der Metropolitan Police.«
»Oh«, der junge Mann sah ihn erschrocken an, »von der Polizei?« Dann stieß er ein nervöses Lachen aus. »Ah, Sie sind vermutlich wegen meinem armen Onkel Gerald hier?«
»Und wer sind Sie?«, fragte Thomas und deutete auf den Stuhl, von dem der junge Mann soeben aufgestanden war.
»Oh, Verzeihung«, der Mann nahm zögernd wieder Platz, »ich bin Lucas Farwell, der Neffe des Earl of Wooverlough.«
»Sind Sie ein Sohn von Andrew, dem ehemaligen Pfarrer von Fleetwood?« Thomas setzte sich auf den anderen Stuhl am Kamin. Die beiden Constables blieben mitten im Empfangsraum stehen.
»Ja, richtig.« Er lachte wieder kurz auf. Dann fuhr er sich nervös durch das braune Haar. »Ich bin im Pfarrhaus aufgewachsen. Ein Jammer, was mit dem armen Onkel Gerald geschehen ist.«
Ein Jammer? Ja, dachte Thomas erstaunt, so konnte man es auch nennen.
In diesem Moment erschien der Butler und bat sie alle, ihm zu folgen. Er führte sie in den Salon, den Thomas schon von seinem Besuch am Vormittag kannte.
Dieses Mal stand eine kleine, zarte Frau neben dem Earl, die er als seine Gattin, die Countess of Wooverlough, vorstellte. Während Thomas sich verneigte, wunderte er sich darüber, wie wenig attraktiv die Countess war. Sie trug ein Teekleid aus blauer Seide und ihr Haar war nach neuester Mode gescheitelt und mit kleinen Zöpfen nach hinten gebunden. Aber ihre große Nase und die nah zusammenstehenden Augen ließen ihr Gesicht geradezu grotesk erscheinen.
»Lucas«, sagte der Earl zu seinem Neffen, »ich hatte nicht damit gerechnet, dich so schnell hier zu sehen. Ich vermute, dein Vater hat dich hierhergeschickt, nicht wahr?«
Der Junge errötete. Seine Finger spielten fahrig mit den Rüschen an den Enden seiner Hemdsärmel.
»Ich nehme an, du bleibst über Nacht? Dann haben wir ja später noch genug Zeit, uns zu unterhalten, und ich kann mich zunächst um die Herren von der Metropolitan Police kümmern. Meine Liebe«, wandte er sich an die Countess, »kümmere du dich um Lucas, bis ich mit den Herren fertig bin.«
Der Earl deutete auf eine Tür in der hinteren Ecke. »Bitte folgen Sie mir, Inspector.«
Thomas, Green und Twicklehurst gingen mit dem Adeligen in einen Nebenraum. Thomas blieb überrascht in der Tür stehen. Er hatte mit einem zweiten, kleineren Salon gerechnet, aber sie fanden sich in einer riesigen Bibliothek wieder. Der Geruch alter Bücher schlug ihnen entgegen. Der Earl führte sie an hohen Regalen vorbei zu einer gemütlichen Sitzecke am Kamin. Die beiden Constables hielten sich diskret im Hintergrund.
»Ich hatte nicht mit einem so schnellen erneuten Besuch von Ihnen gerechnet, Inspector. Darf ich annehmen, dass Sie Neuigkeiten für mich haben?« Der Earl ließ seinen Blick zu einem der bodentiefen Fenster und hinaus in den Garten wandern, als läge die Antwort auf alle Fragen irgendwo da draußen.
Thomas trat neben ihn. »Leider noch nicht, Sir. Ich habe lediglich einige weitere Fragen. Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht lange von Ihrem Neffen fernhalten.«
»Ach was«, winkte der Earl ab und griff nach einer silbernen Zigarrenkiste mit aufwendigen Verzierungen. »Das ist kein besonders angenehmer Besuch. Der Junge lebt zurzeit in Oxford und hat sein Theologiestudium fast beendet. Er muss sich sofort in die Kutsche gesetzt haben, als er hörte, dass die Pfarrstelle frei geworden ist. Nur darauf ist er aus, glauben Sie mir. Die ganze Sippe hat Gerald nie leiden können.«
»Ach, so ist das?«, sagte Thomas und wechselte einen schnellen Blick mit seinen Constables. »Dann kommt der Tod seines Onkels ja genau zur richtigen Zeit.«
»So könnte man es sagen«, bestätigte der Earl und reichte Thomas die Zigarren, der jedoch ablehnte. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Der Earl setzte sich selbst in einen der Ledersessel und stellte die Zigarrenkiste zurück auf den Tisch.
Thomas musterte den Mann eindringlich. »Eure Lordschaft, bei allem Respekt, aber warum haben Sie mir heute Morgen verschwiegen, dass Sie Miss Brown sehr gut kennen? Sie hat eine der toten Frauen gefunden, die in letzter Zeit in Liverpool ermordet wurden.«
»Madeline?« Der Earl strich sich durch den Bart. »Ich ging nicht davon aus, dass das relevant ist. Schließlich haben die toten Dirnen nichts mit dem Mord an meinem Bruder zu tun.«
Thomas runzelte die Stirn. »Das zu beurteilen ist nicht Ihre Angelegenheit, Eure Lordschaft, sondern obliegt ausschließlich der Polizei.«
»Nun, ich habe gar nicht an Miss Brown gedacht, als Sie heute Morgen hier waren«, sagte der Earl und lächelte eine Spur zu freundlich, wie Thomas fand. »Sonst hätte ich sie selbstverständlich erwähnt.«
In diesem Moment erschien der Butler, um Brandy und Whiskey zu servieren.
»In welchem Verhältnis standen Ihr Bruder und Miss Brown zueinander?«, fragte Thomas, der sich in seinem Sessel zurücklehnte.
»In gar keinem«, antwortete der Earl und sein Blick wanderte zu Green und Twicklehurst hinüber. »Gerald hat wirklich absolut frei von sinnlichen Begierden gelebt, Inspector. Er hat sich nie für Frauen interessiert, das war schon seit unserer Kindheit so.«
»Aber Sie sind alle drei zusammen hier aufgewachsen. Sie müssen doch zumindest befreundet gewesen sein?« Thomas strich über den Brokatstoff des Sessels.
Der Earl schüttelte den Kopf. »Gerald war in einem Internat und nur in den Ferien hier. Deshalb hatten wir nicht viel miteinander zu tun.«
Thomas machte sich eine Notiz in seinem Buch, dann fragte er: »In letzter Zeit hat Miss Brown Ihren Bruder ein paarmal besucht. Können Sie sich vorstellen, was sie von ihm wollte?«
Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Earl wütend werden, doch dann lächelte er wieder.
»Das Obst!«, sagte er, scheinbar unvermittelt.
»Wie bitte?« Thomas sah ihn fragend an.
Der Earl trank seinen Whiskey in einem Schluck aus. »Im Pfarrgarten gibt es eine Unmenge an Obst und ich nehme an, dass er Miss Brown angeboten hat, es zu ernten. Meine Herrn, wenn das alles war …« Er stand auf.
Thomas erhob sich ebenfalls. »Nur noch eine Frage, Eure Lordschaft.«
»Was denn noch?«, sagte der Earl mit barscher Stimme, und Thomas hatte plötzlich den Eindruck, dass der Adelige ihn wie eine lästige Fliege abschütteln wollte.
»Ihr Bruder war erst seit vier Jahren hier für die Gemeinde tätig. Was hat er zuvor gemacht?«
»Seine Ausbildung. Sie verstehen, erst das Studium in Oxford, dann das Priesterseminar, Exerzitien, Studienreisen … Er wusste ja, dass unser Onkel noch im Amt war, und hat die Zeit genutzt, um sich vorzubereiten.«
Thomas nickte und verließ mit Twicklehurst und Green die Bibliothek. Der Butler führte sie die langen Gänge zurück in die imposante Eingangshalle, in der inzwischen der Kronleuchter entzündet war.
Als sie aus dem Anwesen traten, war es draußen vollkommen dunkel. Ein leichter Nieselregen lag in der Luft. Es roch nach Kaminrauch. Im Schein der Fackeln, mit denen ihnen zwei Diener den Weg beleuchteten, gingen sie zu ihrer Droschke und stiegen schweigend ein. Erst als sich die Kutsche in Bewegung gesetzt hatte, fragte Green: »Haben Sie ihm das abgenommen? Glauben Sie wirklich, dass Miss Brown im Pfarrgarten Obst geerntet hat?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Miss Brown hat einen sehr großen und gepflegten eigenen Garten hinter ihrem Haus. Ich wüsste nicht, warum sie ihr Obst aus Fleetwood holen sollte, wo doch genug vor ihrer Tür wächst.«
»Warum hat der Earl gelogen?«, überlegte Twicklehurst. »Er muss den wahren Grund gewusst oder zumindest geahnt haben. Aber er will nicht, dass wir ihn erfahren.«
»Genau«, stimmte Green ihm zu. »Und dieser Neffe wirkt eigenartig auf mich. Es sah nicht so aus, als hätte der Tod seines Onkels ihn schwer getroffen.« Er beugte sich zum Fenster der Droschke und warf einen Blick zurück auf das erleuchtete Anwesen, das hinter ihnen im Nieselregen verschwand.
»Der Earl hat erwähnt, dass die Familie seines Onkels Andrew seinen Bruder Gerald nicht besonders leiden konnte«, warf Thomas ein.
»Verdächtigen Sie ihn, Sir?«, fragte Twicklehurst.
Thomas zuckte mit den Schultern und starrte in die Dunkelheit hinaus. »Der junge Mann studiert noch. Es sollte ein Leichtes sein, herauszufinden, ob er am Todestag in Oxford gesehen wurde. Er könnte natürlich rasch hierhergekommen sein, den Mord verübt haben und dann noch vor Sonnenaufgang nach Hause zurückgekehrt sein. Es dauert allerdings mindestens sechs Stunden, um mit der Kutsche von Oxford nach Fleetwood zu gelangen.«
»Mit dem Pferd ginge es schneller. Ein geübter Reiter kann es in vier Stunden schaffen, denke ich«, bemerkte Green.
»Aber woher sollte er wissen, dass sein Onkel nachts am George’s Basin herumspazierte?«, wandte Thomas ein und schlug seinen Mantelkragen hoch. Nach der angenehmen Wärme am Kamin des Earls kam es ihm in der ungemütlichen Kutsche umso kälter vor.
Auf seine Frage hatte niemand eine Antwort. Sie schwiegen eine Weile lang.
»Der Mann kommt mir trotzdem äußerst verdächtig vor«, sagte Green schließlich. »Er reist gleich am nächsten Tag an, um sich die Pfarrei unter den Nagel zu reißen. Das scheint mir wirklich herzlos zu sein.«
Twicklehurst nickte und lehnte sich auf der harten Droschkenbank nach vorn. »Es scheint fast so, als würde niemand aufrichtig um Gerald Farwell trauern. Selbst der Earl ist nicht wirklich erschüttert. Er ist höchstens empört darüber, dass es jemand gewagt hat, ein Familienmitglied der Earls of Wooverlough zu ermorden.«
Green unterdrückte ein Gähnen. Dann sagte er: »Oder wir haben den verzweifelt Trauernden einfach noch nicht gefunden.«
Thomas erkannte die Müdigkeit seiner Männer und musste zugeben, dass auch er vollkommen erschöpft war. Der Tag war anstrengend gewesen. Am liebsten hätte er es für heute gut sein lassen, aber er wusste, wie wichtig die ersten Stunden nach einem Mord für die Aufklärung waren. Im Falle der toten Dirnen kam es auf einen verlorenen Tag mehr oder weniger nicht an, aber das Verbrechen an dem Pfarrer war noch nicht lange her. Hier mussten die Spuren verfolgt werden, solange sie frisch waren. Green und Twicklehurst sollten heute unbedingt noch einmal bei Jacks Taverne vorbeigehen und nach dieser Fanny Ausschau halten, während Thomas sich ein weiteres Mal Madeline Brown vorknöpfen wollte. Und dieses Mal würde sie ihn nicht an der Nase herumführen.
Miss Brown kam mit einem erstaunten Lächeln die Treppe herunter, als das Hausmädchen den Inspector in die Eingangshalle ihres Anwesens brachte. Thomas war in der Mitte des großen Raumes stehen geblieben, der mit schwarz-weißen Kacheln gefliest und mit grünen Zimmerfarnen dekoriert war. In den Nischen an der Wand standen Marmorstatuen.
»Guten Abend, Miss Brown.« Er deutete eine Verbeugung an.
»Madeline«, verbesserte sie ihn und berührte seinen Arm. »Kommen Sie mit in den Salon.«
Thomas beschloss insgeheim, bei der förmlichen Anrede zu bleiben, um der Frau deutlich zu signalisieren, dass er keinerlei persönliches Interesse an ihr hatte.
»Sie haben mich heute Mittag belogen, als Sie behauptet haben, dass Sie keine Verbindung zu Wooverlough Court und den Earls of Wooverlough hätten«, sprach er gleich das Thema an, das ihn gerade am meisten bewegte.
»Wieso?« Sie riss ihre blauen Augen weit auf und ging zum Kamin, in dem ein wärmendes Feuer loderte. »Ich habe doch tatsächlich keine Verbindung zu ihnen.«
»Bitte, bleiben Sie bei der Wahrheit, Miss Brown«, erwiderte Thomas und zog sein Notizbuch hervor, um ihr zu zeigen, dass er gründlich recherchiert hatte. »Das wirkt sich sonst alles negativ auf Sie aus. Ich habe erfahren, dass Sie auf Wooverlough Court aufgewachsen sind, oder wollen Sie das etwa bestreiten?«
»Natürlich nicht«, sagte sie, beinahe empört. »Ich habe doch nichts anderes behauptet. Als Sie mich nach einer Verbindung fragten, ging ich selbstverständlich davon aus, dass sie familiäre Bande meinten. Und die existieren nicht.«
»Sie sind nicht so naiv, wie Sie sich gerade darzustellen versuchen – was Ihnen übrigens nicht sonderlich gut gelingt –, und außerdem kann man sehr wohl von einer Art familiärer Verbindung sprechen.« Thomas steckte sein Notizbuch wieder ein und trat einen Schritt auf Miss Brown zu, die nachdenklich in die Flammen sah. »Soweit ich weiß, hat Ihr Vater Sie in die Obhut des dritten Earl of Wooverlough gegeben, und Sie sind gemeinsam mit seinen Söhnen, dem gegenwärtigen vierten Earl und dem verstorbenen Pfarrer Gerald Farwell, aufgewachsen.«
»Sehr gut, Thomas«, sagte sie schelmisch und ging nun ihrerseits auf ihn zu, allerdings viel näher, als der Anstand es zugelassen hätte. Sie stand jetzt so nah vor ihm, dass er meinte, den süßen Duft ihrer Haut riechen zu können. »Sie haben Ihre Aufgaben gut gemacht. Aber dann haben Sie sicherlich auch erfahren, dass ich beim Pförtner und seiner Frau gelebt habe und nicht mit den beiden Lords auf Wooverlough Court.«
Thomas atmete tief durch. »Miss Brown«, sagte er scharf, »Sie haben mir diese Verbindung bewusst verschwiegen.«
»Und wenn schon.«
Sie lehnte sich leicht zurück und sah ihn verführerisch aus halb geschlossenen Augen an. Der Schein des Feuers flackerte über ihr Gesicht und ließ ihre Lippen schimmern. Thomas konnte sich gut vorstellen, dass sie den Männern den Kopf verdrehte. Aber er brauchte einen klaren Verstand und würde sich von Miss Brown kein zweites Mal um den Finger wickeln lassen.
»Wie war Ihre Beziehung zu Gerald Farwell kurz vor seinem Tod, Miss Brown?« Thomas hielt ihrem Blick stand. »Hatten Sie ein Verhältnis mit ihm?«
»Mit Gerald?« Miss Brown spuckte den Namen verächtlich aus. Ihr koketter Blick war plötzlich verschwunden. »Nie im Leben. Und wenn er der letzte Mann auf der Welt gewesen wäre, ich hätte ihn niemals … Nein, ich hatte kaum noch Kontakt zu ihm, seit er wieder hier in der Gegend war.«
»Dennoch haben Sie ihn in den letzten Monaten das ein oder andere Mal besucht?« Thomas beobachtete ihre Reaktion ganz genau.
Fast unmerklich zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, ehe sie erklärte: »Ich habe mich nur auf dem Gelände des Pfarrhauses aufgehalten. Der Pfarrer selbst war nicht der Grund meines Besuches.«
»Und warum haben Sie sich so sehr für das Pfarrhaus interessiert?«, erkundigte sich Thomas. Sein Blick wanderte zu dem Aquarell an der Wand, auf dem das Haus des Pfarrers abgebildet war.
»Aus rein sentimentalen Gründen«, antwortete sie und ihre Miene wurde wieder sanft, ehe sie leise murmelte: »Wir waren als Kinder häufig dort und ich habe mich umgesehen.« Sie trat wieder näher an ihn heran.
»Wonach?« Er ging einen Schritt in Richtung Tür, um mehr Abstand von ihr zu gewinnen.
»Nach meiner verlorenen Kindheit vielleicht?« Sie zuckte mit den Schultern und folgte ihm. »Nach meiner Unschuld, der Unberührtheit des Kindes, das ich einst war? Ich weiß es nicht. Haben Sie das nicht auch manchmal, Thomas? Dass Sie sich nach einer Zeit zurücksehen, in der alles leichter war, in der die Sorgen nicht größer waren als die Frage, was es zum Abendessen geben wird?«
Thomas musste unwillkürlich an seine Frau Anni denken und daran, wie hell ihm die Zukunft erschienen war, als er sie noch an seiner Seite hatte.
»Aber wie man hört, brauchen Sie sich doch keine allzu großen Sorgen zu machen, oder?«, fragte er. »Sie haben einen freigiebigen … Mäzen.«
»Ja«, gab sie unumwunden zu und setzte sich aufs Sofa. »Ich bin jedoch voll und ganz von ihm abhängig, ohne seine Ehefrau zu sein. Wenn er morgen genug von mir hat, wenn ich ihm zu alt, zu hässlich oder langweilig geworden bin, habe ich gar nichts mehr.«
Der Inspector hielt inne, von ihrer Ehrlichkeit überrascht.
»Kommen Sie zu mir, Thomas.« Sie deutete auf den Platz neben sich.
Thomas dachte daran, wie unbehaglich er sich heute Mittag neben ihr gefühlt hatte, als sie so unumwunden ihre Reize spielen ließ. Vermutlich waren Frauen wie Miss Brown oder auch die Dirne Molly es gewohnt, Polizisten auf diese Weise milde zu stimmen.
»Miss Brown, ich finde Sie sehr attraktiv, aber ich werde mich durch Ihre Reize nicht von meiner Arbeit ablenken lassen«, sagte Thomas und sah ihr ernst in die Augen, während er sich neben sie setzte. »Sie werden sich nicht aus der Sache herausziehen können, indem Sie mit mir flirten.«
Sie lachte. »Ich flirte mit Ihnen, Thomas?«
»Jetzt tun Sie es schon wieder, Miss Brown.«
»Tatsächlich?« Sie schien amüsiert zu sein. »Aus welcher Sache versuche ich mich denn herauszuziehen?«
»Das wissen Sie nur allzu gut.« Der Inspector rutschte auf dem Sofa so weit wie möglich nach außen. Dann drehte er sich zu ihr. »Sie haben mir gegenüber verschwiegen, dass Sie das Opfer, Gerald Farwell, gut kannten. Und Sie haben auch mehr als nur eine der toten Frauen gekannt. Vielleicht ist das alles nur ein Zufall, aber vielleicht steckt ja mehr dahinter.«
Sie lächelte ihn nur an, ohne etwas zu erwidern.
»Miss Brown, wie war Ihr Verhältnis zu Gerald Farwell, als Sie noch Kinder waren? Mochten Sie ihn? Oder konnten Sie ihn damals schon nicht leiden?«
»Wer sagt, dass ich ihn nicht leiden konnte?«
»Sie selbst«, erinnerte Thomas sie. »Sie schienen regelrecht entsetzt, als ich Sie fragte, ob Sie eine Affäre mit ihm hatten.«
»Ich mochte ihn tatsächlich nie besonders«, gab Madeline zu. »Er war schon als Kind anders als wir.«
»Wir?«
»Der gegenwärtige Earl of Wooverlough und ich. Wir waren Kinder, verstehen Sie, aber Gerald war selbst damals schon irgendwie erwachsen.« Sie zog wieder ein Bein aufs Sofa und lehnte sich aufreizend zurück. »Er war jedoch selten auf Wooverlough Court, weil er ja schon früh auf ein Internat geschickt wurde.«
Der Inspector machte sich eine Notiz. »Ich danke Ihnen, Miss Brown.«
»Sind Sie verheiratet?«, fragte sie unvermittelt, bevor Thomas aufstehen konnte.
Ein Schatten legte sich über seine Miene. Er schluckte.
»Oh, tut mir leid.« Madeline streckte ihre Hand aus und berührte ihn sacht am Arm. Plötzlich schien sie aufrichtig erschrocken. »Ich wollte Sie nicht an etwas erinnern, das Sie traurig macht.«
»Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern, ich denke ohnehin jeden Tag an diesen schwersten Verlust meines Lebens.« Er wusste selbst nicht, warum er ihr plötzlich von Anni erzählte. »Meine Frau ist gestorben, bei der Geburt unseres ersten Kindes. Das ist jetzt drei Jahre her, aber sie fehlt mir immer noch unsäglich.«
»Oh«, Madeline sah ihn einen Moment lang traurig an, »und das Kind?«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Das tut mir sehr leid«, sagte sie wieder. »Meine Mutter ist ebenfalls bei meiner Geburt gestorben und mein Vater fuhr zur See. Der alte Earl war ein guter Freund meines Vaters, er hat sich um mich gekümmert. Aber ich habe meine Mutter vermisst, auch wenn ich sie nie gekannt habe.«
Thomas nickte nur. Er vermisste Anni so sehr, dass es ihm die Luft zum Atmen nahm.
»Dann kennen Sie die Einsamkeit genauso wie ich«, stellte sie schließlich fest. »Ich durfte mein Leben lang nie richtig zu jemandem gehören. Nicht zu meinen Pflegeeltern, dem Pförtnerehepaar, das vom Earl dafür bezahlt wurde, mich bei sich aufzunehmen, noch zur Familie der Wooverlough oder zu einem Ehemann, der sich offen zu mir bekennen würde.«
»Fühlen Sie sich denn einsam?«, fragte Thomas überrascht. Er hatte bisher den Eindruck gehabt, dass Madeline Brown eine starke Frau war, die mit ihrer Situation zufrieden war.
»Manchmal«, antwortete sie lächelnd. »Oft, ehrlich gesagt. Und ich bin nur eine Frau … Wenn mein Liebhaber meiner überdrüssig wird, stehe ich vollkommen schutzlos da. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als wie die anderen Mädchen auf der Straße nach Männern Ausschau zu halten.«
»Sie könnten sich eine Arbeit suchen, in einer Fabrik«, schlug Thomas vor.
»Stellen Sie sich das nicht so einfach vor«, erwiderte Madeline. »Jeder weiß, wer ich bin. Und was ich bin. Jemand wie ich wird nur angestellt, um im Büro des Vorarbeiters besondere Dienste zu verrichten.«
Thomas seufzte. »Eigentlich ist doch jeder von uns nur auf der Suche nach ein klein wenig Glück, nach Sicherheit, einem Menschen, dem man etwas bedeutet, mit dem man sein Leben teilen kann und der für einen da ist.«
»Und genau das scheint immer schwieriger zu erreichen zu sein, je älter wir werden.« Sie strich über den weichen Stoff des Sofas.
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Ihr Leben zu ändern? Sich einen Mann zu suchen, der Sie liebt und der zu Ihnen steht?«, fragte Thomas und überlegte, wie das Gespräch in eine so andere Richtung hatte abgleiten können.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie oft«, gab Madeline zu. »Aber das geht nicht, denn ich gehöre meinem Gönner. Er benutzt mich, er hält mich hier wie einen hübschen Vogel im goldenen Käfig.«
»Wer ist dieser Mann?«
Madeline machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist nicht wichtig. Ich bin ihm sehr dankbar, denn durch das alles hier«, sie deutete quer durch den Raum, »kann ich ein Leben führen, wie es mir sonst nie möglich wäre. Aber von den wenigen Stunden abgesehen, die er mich besucht, bin ich allein. Und es gibt niemanden, der sich für meine Sorgen interessiert, niemanden, mit dem ich über die kleinen und großen Ärgernisse sprechen kann. Die Dirnen beneiden mich, die ehrbaren Frauen verachten mich. Ich gehöre nirgendwo dazu, bin immer allein. Manchmal glaube ich, dass mich das in den Wahnsinn treibt.«
»Nun, Sie kommen mir nicht besonders wahnsinnig vor.« Thomas lächelte.
»Sie kennen mich auch nicht richtig, Thomas.« Sie rutschte näher zu ihm heran und beugte sich nach vorn. Und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, legten sich ihre seidig weichen, vollen Lippen auf seine. Einen Moment lang atmete er den Duft ihrer Haut ein, spürte ihre Wärme, und sein Körper geriet in einen gefährlichen Strudel. Während ihre Lippen sich immer leidenschaftlicher küssten, begann sich das Zimmer um ihn zu drehen, und auch wenn er wusste, dass er diese Annäherung auf keinen Fall zulassen durfte, war er nicht imstande, Madeline von sich zu stoßen. Erst als ihre Körper sich so nahe gekommen waren, dass er die weichen Rundungen ihrer Brüste durch den Stoff seines Gehrocks spürte, als er merkte, dass er dabei war, die Kontrolle zu verlieren, wand er sich aus ihrer Umarmung.
»Es tut mir leid, Madeline. Ich glaube Ihnen, dass Sie einsam sind, und dass ich es ebenfalls bin, haben Sie gerade nur allzu deutlich gespürt, aber ich darf mich nicht auf Sie einlassen.« Er richtete seinen Rock und strich sich über die Ärmel. Dann verließ er fluchtartig ihr Haus.
Draußen angekommen, atmete er tief durch. Was hatte Miss Brown nur an sich, dass sie ihn immer wieder durcheinanderbrachte? Dabei war sie eine Verdächtige oder zumindest eine Zeugin in dem Fall, in dem er ermittelte. Madeline hatte nicht nur viele der toten Frauen gekannt, nein, sie war mit Gerald Farwell zusammen aufgewachsen. Im Moment war sie die einzige Verbindung zwischen den ermordeten Frauen und dem toten Pfarrer.
Statt nach einer Droschke zu rufen, beschloss der Inspector, zu Fuß zum Hotel zu gehen. Er brauchte frische Luft, um wieder zu Verstand zu kommen. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können? Er war nicht besser als Drew und das ganze Pack. Dabei war Thomas doch gewarnt gewesen. Miss Brown hatte schon am Nachmittag mit ihm geflirtet und ihre Absichten eindeutig gezeigt. Und doch hatte er sich wieder von ihr umgarnen lassen, ja es kam ihm fast so vor, als hätte er es darauf angelegt. Seit dem Tod von Anni hatte er keine andere Frau auch nur angesehen, aber vielleicht wurde es Zeit, langsam wieder an eine Ehe zu denken. Doch eine wie Madeline Brown war definitiv nicht die Richtige für ihn! Eine Frau wie sie würde ihm nur das Herz brechen. Nein, er tat gut daran, sich von ihr und ihresgleichen fernzuhalten.
Thomas lief so lange durch die Straßen, bis er wieder einigermaßen klar im Kopf war. Als er an Jacks Taverne vorbeikam, beschloss er, hineinzugehen und nachzuschauen, ob Green und Twicklehurst noch dort waren. Er war neugierig, ob sie die Dirne Fanny dort angetroffen hatten und was sie von ihr in Erfahrung bringen konnten.
Der Inspector betrat den großen Gastraum. Stimmengewirr schlug ihm entgegen, irgendjemand spielte auf einem Schifferklavier. Durch die Menschenmenge kämpfte er sich zur Bar, konnte aber Green und Twicklehurst nirgendwo entdecken.
»Was darfs denn sein?«, fragte ihn ein Mann im mittleren Alter.
Thomas stellte sich vor und erfuhr, dass er mit dem Wirt persönlich sprach. Die beiden Constables seien bis gerade eben noch hier gewesen, sagte der, sie seien aber vor einer Viertelstunde in ihr Hotel aufgebrochen.
Der Inspector dankte ihm und wollte gerade gehen, als er noch einmal innehielt. »Kennen Sie Madeline Brown?«, fragte er den rotwangigen, rundlichen Wirt.
»Madeline? Na sicher.« Jack zog an seiner Zigarre, die ihm im Mundwinkel wippte. »Eine tolle Frau. Sie hat sich mächtig darüber aufgeregt, dass die Polizei sich nicht um die Morde an den armen Frauen gekümmert hat. Sie hat nicht lockergelassen und selbst rumgefragt. Hat keine Ruhe gegeben.«
»Tatsächlich?«, fragte Thomas.
»Oh ja.« Der Wirt griff nach einem Bierglas und polierte es nachdenklich. »Sie hat sich ziemlich ins Zeug gelegt und alle verhört, die etwas hätten wissen können. Aber geholfen hat es nichts. Es hat trotzdem wieder eine erwischt.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Thomas und wandte sich zur Tür.
»Ich hoffe, sie hat keinen Ärger?«, rief Jack ihm nach. »Sie ist wirklich eine liebe und gütige Frau, die sich um andere kümmert. Wer in Not ist, kann sich an Madeline wenden und bekommt bei ihr immer eine warme Mahlzeit. Sie rümpft nie die Nase und schaut auf niemanden herab.«
Thomas verabschiedete sich und trat auf die Straße. Er fragte sich, warum Madeline Brown ihm nichts davon erzählt hatte, dass sie im Fall der toten Frauen eigene Ermittlungen aufgenommen hatte. Wie von selbst führten ihn seine Schritte wieder in die London Road. Er redete sich ein, dass er Miss Brown nur auf diese Sache ansprechen wollte, und zwar jetzt sofort. Aber als er ihr Haus sah, schlug sein Herz schneller. Er wusste, dass es ein anderer Grund war, der ihn zu ihr zurückgeführt hatte. Die Fenster ihrer Villa waren noch hell erleuchtet. Jetzt, so spät am Abend zu ihr zu gehen und mit ihr zu sprechen war unschicklich und eigentlich überflüssig. Alles, was es zu fragen gab, konnte bis morgen warten. Nein, Thomas dachte an ihre seidigen Lippen, an die weichen Kurven ihres Körpers, an ihren sinnlichen Blick. Er sehnte sich so sehr danach, wieder von einer Frau berührt zu werden, und Madeline hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen würde …
In diesem Moment sah er, wie die Tür geöffnet wurde und ein Mann herausschlüpfte. Thomas blieb hinter einer Hausecke stehen. Seine Brust schnürte sich zusammen. Das musste ihr Liebhaber sein. Als Madeline Browns Besucher in den Lichtkegel einer Gaslampe trat, konnte Thomas erkennen, wer ihr Gönner war: Es war der vierte Earl of Wooverlough.