Liverpool, Juli 1839

Madeline starrte ihren Gönner wütend an. Er stand neben ihrem Bett in ihrem Schlafzimmer, während er sich ankleidete, und sie fühlte sich so machtlos. In den letzten Tagen war sie immer wieder auf dem Polizeirevier gewesen, und sie hatte John bekniet, noch einmal nach London zu schreiben, um bessere Ermittler anzufordern. Aber er ging nicht darauf ein und vertröstete sie mit der Aussage, dass er ja bereits nach London geschrieben habe, wo man anscheinend nicht an der Sache interessiert sei. Immer öfter kam er bei Madeline vorbei, um endlich einen Stammhalter zu zeugen. Auch heute war er wieder unangemeldet aufgetaucht, und hatte von ihr erwartet, dass sie sofort alles stehen und liegen ließ, um mit ihm in ihr Schlafzimmer zu gehen. Madeline hatte sich fügen müssen, obwohl ihre Gedanken um die toten Dirnen kreisten. Johns Ignoranz machte Madeline immer wütender. Als Frau konnte sie in dieser Sache kaum etwas ausrichten, aber John war ein Mann und er verfügte über das notwendige Ansehen und genügend Einfluss. Warum schrieb er nicht noch einmal nach London?

»Ich verstehe nicht, warum du so auf diese Sache fixiert bist«, sagte John jetzt.

»Madeline, das waren alles leichte Mädchen, was erwartest du?«, fragte John, während er sein Hemd glattstrich.

Madeline richtete sich auf, um ihn besser ansehen zu können. »Ich erwarte, dass das Leben dieser Frauen geschützt wird. Ja, es geht mir um Gerechtigkeit. Sie hatten alle ein schweres Leben, und dass sie ermordet werden, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wird, ist unrecht. Aber es geht auch um die vielen anderen Frauen, die gerade in Gefahr sind.« Madeline rutschte auf die Bettkante.

»Noch nicht aufstehen«, sagte John und streckte seine Hand aus. »Warte noch ein wenig.«

Madeline seufzte. John schien die Sache mit dem Kind wirklich ernst zu nehmen. Er hatte sie in den letzten Wochen noch viel öfter als zuvor besucht und war ausschließlich daran interessiert, mit ihr zu schlafen. Früher hatte er sich regelmäßig danach erkundigt, was sie den Tag über getan hatte, und ihr von seinen Unternehmungen berichtet. Aber seit er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass Madeline sein Kind bekommen sollte, schien er sie nur noch als einen gebärfähigen Körper wahrzunehmen. Und trotz allem hatte Madeline erst letzte Woche wieder ihre Monatsblutung bekommen. Sie fragte sich inzwischen, ob sie selbst für den ausbleibenden Kindersegen verantwortlich war oder ob es nicht vielmehr an einer Schwäche des Earls lag. Doch sie hütete sich, es ihm gegenüber zu erwähnen.

»Die Frauen sollen sich einfach nicht mehr in Gefahr

»Was soll das denn heißen?« Madeline zog die Augenbrauen zusammen. »Was würdest du denn tun, wenn es keine Dirnen wie mich gäbe? Dann müsstest du deine Lust ausschließlich bei Mary befriedigen.«

»Du bist keine Dirne.« John trat an Madelines Frisiertisch und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Er strich sich die Haare glatt. »Das weißt du ganz genau. Du bist meine Mätresse. Und das ist ein Unterschied.«

»Und wenn du mich nicht hättest? Was dann?«

John hob leicht die Schultern, während er seine Krawatte band. »Dann wäre eine andere an deiner Stelle. Meine Güte, Madeline! Es gibt sehr gut geführte Bordelle, in die ein Gentleman gehen kann. Und die Herren, mit denen ich zu tun habe, verkehren ausschließlich in den besten Freudenhäusern. Aber ich bitte dich, eine Dirne von der Straße auflesen? Wer tut denn so etwas?«

»Männer, die nicht so viel Geld haben, um in teure Bordelle zu gehen«, erwiderte Madeline.

»Da siehst du es. Nur Abschaum nimmt Frauen von der Straße.«

»Nur weil jemand wenig Geld hat, ist er kein Abschaum.«

»Madeline«, stöhnte John. »Davon verstehst du nichts.«

Sie biss zornig die Zähne zusammen. John war so voreingenommen. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, aber sie wusste, dass das nichts brachte. Also atmete sie tief durch, um sich zu beruhigen. »Wie auch immer. John, es kann nicht sein, dass jemand diese Frauen ermordet und ungeschoren davonkommt.«

»Das ist nicht unser Problem, mein Liebes. Darüber

Madeline verzog das Gesicht. John wollte sie hier einsperren? Sie unterdrückte ein Seufzen. Mit ihm zu diskutieren, war sinnlos, so viel wusste Madeline. Am besten war es, ihm nicht zu widersprechen. Er behandelte sie wie sein Eigentum. In den ersten Jahren hatte sie das nicht besonders gestört, aber in jüngster Zeit wurde er immer herrischer. Und seine respektlose Art ihren Freundinnen gegenüber machte ihn ihr zunehmend unsympathisch. Wenn sie nur nicht so abhängig von ihm wäre!

John fuhr fort: »Ich muss los, ich versuche, heute Abend noch einmal zu kommen.«

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stand Madeline auf und wusch sich. Sie war wütend auf John, auf die Polizisten und die Londoner Metropolitan Police, die John eine Absage erteilt hatte. Dabei sah es nicht so aus, als würde das Morden aufhören. Ende April war wieder ein Mädchen gefunden worden, auf dieselbe Weise grausam zur Schau gestellt wie Molly, Gerda und die anderen.

Madeline trocknete sich ab. Dann kam ihr ein Gedanke. Sie würde zu Jacks Taverne gehen und selbst versuchen, etwas herauszufinden. Wenn die Polizei sich nicht darum kümmerte, dann musste es eben Madeline in die Hand nehmen. So schnell sie konnte, kleidete sie sich an. Währenddessen überlegte sie, wie man die Frauen am besten schützen konnte. Einer anderen Dirne Bescheid zu geben, wenn man einen Freier mit nach Hause nahm, genügte offenbar nicht.

Als Madeline bei Jack ankam, war auch sie nass geschwitzt. Sie strich sich die Haare unter den Hut und betrat den dämmrigen Pub.

»Madeline?«, fragte der Wirt, der gerade dabei war, den Boden zu fegen. »Hast du schon davon gehört?«

Madeline wurde es eiskalt, trotz der Hitze draußen. Mit diesen Worten hatte Jack sie schon viel zu oft begrüßt.

»Wovon denn?«, fragte sie und hielt den Atem an.

»Die kleine Edwina ist heute Morgen tot aufgefunden worden.« Jack schüttelte traurig den Kopf.

»Edwina?« Madeline setzte sich auf den nächstbesten Schemel. »Oh nein! Sie war doch noch so jung. Viel zu jung.«

Alle hatten das gedacht, als das Mädchen vor wenigen Wochen in Liverpool aufgetaucht war, um sich Geld für eine Überfahrt mit dem Schiff zu verdienen. Sie träumte wie so viele von einem neuen Leben in Amerika. Edwina war kaum älter als vierzehn gewesen, auch wenn sie behauptet hatte, zweiundzwanzig Jahre alt zu sein. Es gab leider viele Männer, die kindliche Mädchen mochten, und so hatte Edwina vom ersten Tag an genug Kundschaft gehabt.

»Sie hat Fanny gesagt, dass sie einen Freier hat, und als Fanny dann nichts mehr von ihr gehört hat, ist sie nachsehen gegangen. Es war wie bei allen anderen auch. Die Tür war verschlossen, und Fanny hat sofort die Polizei

»Wieder festgenagelt an Händen und Füßen?«, sagte Madeline und wischte sich die Tränen fort, die ihr unwillkürlich in die Augen gestiegen waren.

Jack nickte. »Wie immer.«

»Hat Fanny den Mann gesehen?«, wollte Madeline wissen.

Der Wirt zuckte mit den Schultern und bückte sich nach dem Kehrblech. »Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen, habe es von Jones erfahren, der gerade auf dem Weg zur Leichenhalle war.«

»Ich muss mit Fanny reden«, sagte Madeline entschlossen und wandte sich zum Ausgang.

»Sei vorsichtig«, rief Jack ihr nach.

Als die junge Frau auf die heiße, staubige Straße trat, drängte sich eine Gruppe Auswanderer an ihr vorbei in die Schenke. Madeline sah ihnen nach und dachte daran, dass Edwina, Molly, Gerda und so viele andere Frauen nie wieder in Jacks Taverne gehen würden. Aber das Leben ging weiter, es war, als hätte es all diese Frauen nie gegeben. Und vielleicht kam ihr Mörder ja jeden Abend hierher und amüsierte sich, weil er sich in Sicherheit wähnte.

Madeline atmete tief durch und lief mit schnellen Schritten die Straße hinunter.

Sie fand Fanny vor der ehemaligen Fabrik, die inzwischen als Wohnhaus diente. Fanny hatte hier ein kleines Zimmer im Erdgeschoss. Als Madeline kam, saß ihre Freundin vor dem Haus auf einer Mauer. Sie winkte Madeline schon aus der Ferne zu.

Madeline nickte und ignorierte die Männer. »Es ist schrecklich. Ich frage mich, wie viele Frauen noch sterben müssen.«

»Ich … wenn ich sie gestern doch nur aufgehalten hätte!« Fanny vergrub ihr Gesicht in den Händen und seufzte. »Sie hat mit mir gesprochen, bevor sie in ihre Wohnung gegangen sind.«

»Dann hast du also den Mann gesehen, den sie mitgenommen hat?«, fragte Madeline.

Fanny schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Er muss hinter der Hausecke gewartet haben.«

Sie schluchzte und Madeline strich ihr sanft über den Rücken.

»Du hättest nichts tun können. Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie und wartete, bis ihre Freundin sich wieder etwas beruhigt hatte. »Mach dir bitte keine Vorwürfe. Wir brauchen ein besseres System, um uns gegenseitig zu schützen.«

»Es gibt keinen Schutz für uns.« Fanny liefen Tränen über die Wangen.

Madeline hätte ihr gern widersprochen, aber sie wusste, dass Fanny recht hatte. Sie reichte der jungen Frau ein Taschentuch. »Und du kannst dich wirklich an nichts mehr erinnern, was diesen Mann betrifft?«

Fanny tupfte sich die Wangen trocken. »Ich denke, er war eher groß und dünn. Aber ich kann mich auch täuschen. Ich habe einfach zu wenig auf ihn geachtet. Ich war damit beschäftigt, selbst noch einen Freier zu finden. Ich

»Fanny, du kannst jederzeit einen Teller Suppe bei mir bekommen, das wisst ihr doch alle. Niemand muss hungern oder ein zusätzliches Risiko eingehen.« Sie drückte Fannys Arm noch einmal. »Wenn dir noch etwas einfällt, sag mir Bescheid, ja?«

Madeline verabschiedete sich. Ihr verschwitztes Kleid klebte ihr unangenehm auf der Haut, aber sie hatte noch einiges vor, ehe sie nach Hause gehen und sich waschen konnte. Sie machte sich auf den Weg zu Mollys Hinterhaus und klingelte bei der Nachbarin, die ihr an jenem schrecklichen Tag geholfen hatte, als sie Mollys Leichnam gefunden hatte.

»Ja?«, fragte die Frau, die ihr Kind auf der Hüfte trug.

»Erinnern Sie sich an mich?«, sagte Madeline und lächelte freundlich. »Wir waren zusammen in Mollys Wohnung, als …« Madeline brach ab und deutete nach oben.

»Oh ja«, ein Schatten huschte über das Gesicht der Frau, »stimmt. Haben Sie inzwischen erfahren, wer das getan hat?«

Madeline schnaubte. Wieder stieg hilflose Wut in ihr auf. »Leider nicht. Der Mord muss schon zwei Nächte zuvor geschehen sein. Sie hatte sich seit dem Abend nicht mehr bei mir gemeldet. Das ist ungewöhnlich. Haben Sie an dem Abend vielleicht zufällig irgendetwas beobachtet?«

»Nein, was sollte ich schon beobachtet haben?« Die Frau zog die Mundwinkel nach unten und war im Begriff, die Tür wieder zuzuschlagen.

»Haben Sie Molly Abernathy zurückkehren sehen? Hatte sie einen Mann dabei?«

Madeline bedankte sich und machte sich auf den Weg zum Nachbarhaus. Als sie an die baufällige Tür klopfte, machte niemand auf. Sie drehte den Knauf und trat ein. Der Hausflur war dunkel und es stank nach abgestandener Luft, Rauch und Kohl.

»Guten Tag!«, rief Madeline laut das Treppenhaus hinauf.

Nichts war zu hören.

»Hallo?«, versuchte sie es noch einmal. »Mr Johannson?«

»Der wohnt ganz oben«, sagte da eine Stimme neben ihr.

Madeline zuckte zusammen. Der Mann war anscheinend gerade durch die niedrige Tür rechts von ihr gekommen, die zu einem Ladenlokal im Erdgeschoss des Hauses führte.

»Verzeihung, Miss. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Er steckte die Hände in die Taschen seines grauen Kittels. »Sind Sie eine Bekannte von Mr Johannson?«

»Nein«, antwortete Madeline. »Ich bin auf der Suche nach jemandem, der mir eine Auskunft geben könnte.« Sie holte tief Luft, ehe sie fortfuhr: »Meine Freundin Molly Abernathy ist im März in ihrer Wohnung da drüben auf der anderen Straßenseite ermordet worden. Davon haben Sie sicher gehört, oder?«

Der Mann nickte.

»Haben Sie Molly an jenem Abend vielleicht gesehen? Und haben Sie gesehen, mit wem sie nach Hause ging?«

Madeline dankte dem Schuster und stieg die Treppe hinauf. Als sie im obersten Stock angekommen war, klopfte sie an die linke Tür.

Sie hörte schlurfende Schritte, dann wurde die Tür geöffnet. Ein alter Mann sah sie misstrauisch an. Sein weißes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab und er trug einen schmutzigen abgenutzten Hausmantel.

Madeline trug dem alten Herrn ihr Anliegen vor. Er hörte ihr aufmerksam zu, während er sich mit zittrigen Fingern am Türrahmen festhielt. Als Madeline geendet hatte, schien er einen Moment lang nachzudenken.

»Im März?«, sagte der Alte mit krächzender Stimme. »Das ist verdammt lange her. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Damals war die Polizei in dem Haus gegenüber«, erklärte Madeline.

Er runzelte die Stirn und lehnte sich an die Wand. Madeline fragte sich, warum er sie nicht in seine Wohnung bat, dann hätte er sich setzen können. Es wäre jedoch unhöflich gewesen, diesen Vorschlag selbst zu machen.

Die Miene des Mannes hellte sich auf. »Na klar. Die haben in ihre Trillerpfeifen geblasen, dass ich sofort ans Fenster gelaufen bin. Kurz darauf haben sie eine Leiche weggetragen. Das war die Dirne von drüben. Das hab ich aber erst hinterher gehört.«

Mr Johannson kniff die Augen zusammen und überlegte wieder. »Ich habe in einer der Nächte davor mal einen Mann mitten in der Nacht aus dem Haus schleichen sehen. Ja, das könnte passen.«

Madeline versuchte einen Blick an dem alten Mann vorbei in die dunkle Wohnung zu werfen. Vermutlich hatte er von hier oben keine Einzelheiten erkennen können. Trotzdem fragte sie: »Wie sah er denn aus?«

»Er war dunkel gekleidet und hat sich in den Schatten herumgedrückt. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass das seltsam war. Ich wusste ja, was das für eine war, und hab nachts öfter mal Kerle aus dem Haus kommen sehen, und manche haben sich umgeschaut, weil’s ihnen unangenehm war, aber der wollte sich komplett unsichtbar machen.«

Madeline trat aufgeregt einen Schritt vor. »Beschreiben Sie bitte diesen Mann. Sie sagen, er war dunkel gekleidet?«

Mr Johannson nickte. »Ja, auf jeden Fall. Aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Es war finster und von hier oben konnte ich das nicht genau sehen.«

Madeline bedankte sich bei Mr Johannson und verließ das Haus.

 

Nachdem John sie am Abend besucht hatte und wieder gegangen war, zog sie sich ein dunkles Kleid an und beschloss, sich selbst auf die Lauer zu legen. Sie versteckte sich hinter einem Torbogen in einer der Straßen, die zu den Docks hinunterführten, und beobachtete von dort aus die Mädchen, die am Straßenrand standen und auf Freier warteten. Immer wieder sprachen Männer die Frauen an

Madeline gähnte. Bald hörte sie die Kirchturmglocke ein Uhr schlagen. Sie musste sich eingestehen, dass sie planlos gehandelt hatte. Was versprach sie sich davon, nachts Dirnen zu beobachten? Woran sollte sie einen Mann erkennen, der möglicherweise Frauen umbrachte, wenn er sich doch in nichts von den anderen unterschied?

Während sie durch die dunklen Straßen nach Hause zurückging, dachte sie an die dürftigen Beschreibungen von Mr Johannson und Fanny. Wenn beide den Mörder gesehen hatten – was nicht wirklich sicher war –, dann zeichnete sich die Person offenbar dadurch aus, dass sie besonders darauf achtete, sich im Schatten aufzuhalten und nicht gesehen zu werden. Madeline seufzte. Sie konnte schlecht jede Nacht draußen herumlaufen und Ausschau nach einem Mann halten, der sich an Mauern entlangdrückte, um im Verborgenen zu bleiben.

Ein paar Männer gingen schwankend und grölend an Madeline vorbei und sie wechselte schnell die Straßenseite. Sie seufzte. Es musste doch irgendeinen Anhaltspunkt geben. Irgendetwas, das ihr einen Hinweis auf den Mörder und seine perfide Vorgehensweise geben könnte. Madeline überlegte, wann die Morde stattgefunden hatten. Und dann fiel ihr etwas Ungewöhnliches auf: Sie schienen nach einem bestimmten Muster, immer im Abstand von etwa zwei bis drei Monaten, zu erfolgen. Madeline musste sich also nur zum richtigen Zeitpunkt auf die Lauer legen.

 

Madeline ignorierte sein dümmliches Grinsen. »Ich möchte die genauen Todesdaten der Mädchen wissen.«

Drew stöhnte laut auf. »Was wollen Sie denn damit?«

»Ich muss nur etwas überprüfen. Der Earl of Wooverlough hat mich geschickt.« Sie streckte das Kinn nach vorn.

Drew sah sie zweifelnd an, kramte dann jedoch eine dünne Akte hervor.

Als Madeline wenig später den Bogen mit den Daten in der Hand hielt, fand sie ihren Verdacht bestätigt. Es war auffällig, dass immer ungefähr acht Wochen zwischen den Morden lagen.

Jetzt wusste sie, dass sie sich zu früh zu den Docks begeben hatte. Der Mord an Edwina war erst zwei Tage her. Und wenn der Mörder weiterhin seinem Muster folgte, würde er in etwa acht Wochen wieder zuschlagen. Madeline beschloss also abzuwarten.

Liverpool, September 1839

Zwei Monate später begab sich Madeline wieder auf ihren Beobachtungsposten. In den Abendstunden waren die Straßen noch belebt. Auswanderer genossen ihre letzten Stunden an Land, Trunkenbolde schweiften umher, ein paar Geschäftsleute kehrten auf dem Heimweg noch eilig in einem Pub ein, und am Straßenrand standen Dirnen

Madeline wurde langsam müde. Die Sperrstunde war vorbei und die Straßen leerten sich. Sie hatte den ganzen Abend nichts Verdächtiges entdecken können und überlegte gerade, ob sie nach Hause gehen sollte, als sie einen Schatten auf der anderen Straßenseite bemerkte. Zuerst glaubte sie, sich getäuscht zu haben – vielleicht war es ja nur ein streunender Hund gewesen. Madeline drückte sich tief in ihr Versteck, eine Nische hinter einer Toreinfahrt. Der Schatten näherte sich und einen kurzen Moment lang konnte sie eine Gestalt erkennen.

Sie kniff die Augen zusammen und stutzte. Dieser Mann kam ihr bekannt vor, aber sie konnte ihn trotz der Finsternis nicht deutlich genug sehen. Die magere, große Gestalt – war das nicht Gerald, der Pfarrer von Fleetwood? Im nächsten Moment hatte die Dunkelheit ihn verschluckt und er war am Ende der Straße verschwunden.

Madeline musste sich geirrt haben, schließlich gab es für den Pfarrer keinen Grund, sich mitten in der Nacht in Liverpool am Hafen aufzuhalten.

Erschöpft ging sie nach Hause. Als sie in die London Road kam, sah sie schon von Weitem, dass in ihrem Schlafzimmer Licht brannte. Vermutlich hatte die Zofe schon alles für ihre Herrin vorbereitet, damit sie schnell zu Bett gehen konnte.

Doch Madeline hatte sich getäuscht. Das Hausmädchen

Madeline biss sich auf die Lippe. Sie hatte nicht mehr mit John gerechnet. Jetzt würde sie sich vermutlich eine Standpauke von ihm anhören müssen, da er ihr ausdrücklich verboten hatte, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen. Sie setzte ihren Hut ab und stieg die Treppe hinauf.

»Madeline!« John stand am Fenster, als Madeline in ihr Schlafzimmer kam. »Wo um alles in der Welt hast du gesteckt?«

»Ich war spazieren«, sagte sie trotzig. Schließlich war sie nicht seine Ehefrau und nicht verpflichtet, zu Hause zu sitzen und darauf zu warten, dass er sie eventuell mit seiner Anwesenheit beehrte.

»Um diese Zeit? Unsinn! Madeline, ich dulde nicht, wenn du einen anderen Mann … Aber warum trägst du ein schwarzes Kleid? Du bist doch nicht in Trauer.« John fasste ihre Oberarme und drehte sie wie eine Puppe hin und her.

Madeline beschloss, dass es am besten sei, ihm die Wahrheit zu sagen. Vielleicht wurde ihm dann ja endlich bewusst, dass sie wirklich besorgt war. Also berichtete sie ihm, was sie von Fanny und Mr Johannson erfahren hatte und wie sie die Zeiträume deutete, die zwischen den Morden lagen. John hörte sich ihre Ausführungen schweigend an.

Schließlich schüttelte er den Kopf und seufzte. »Madeline, ich habe dir verboten, dich an den Orten aufzuhalten, wo die Mädchen ermordet wurden. Das ist zu gefährlich.«

»Aber mir bleibt doch gar nichts anderes übrig, wenn du mir nicht helfen willst!« Sie blitzte ihn zornig an.

John zog sie an sich und umarmte sie. »Madeline, wer

Seine Lippen suchten ihren Mund und er küsste sie gierig. Madelines Hände strichen über seinen Rücken, dann hinunter zum Hosenbund. Sie konnte seine Erregung deutlich spüren. John drängte sie zum Bett und Madeline ließ sich in die weichen Kissen fallen.

Sie dachte wieder an den Schatten, den sie vorhin gesehen hatte. Ob das wirklich der Pfarrer Gerald Farwell gewesen war? Es war kein allzu langer Fußweg von Fleetwood nach Liverpool. Ein geübter Fußgänger konnte in weniger als zwei Stunden hier sein. Oder er hatte sich eine Mietdroschke genommen. Aber was hatte Gerald mitten in der Nacht am Hafen zu suchen?

 

Am nächsten Morgen war John längst fort, als Madeline erwachte. Sie nahm ein kühles Bad und ließ sich ankleiden. Dann setzte sie sich zum Frühstück ins Esszimmer. Sie hatte gerade die Zeitung aufgeschlagen, als ihr der Butler eine Besucherin meldete. Wenige Minuten später betrat Fanny das Zimmer. Ihre Haare waren zerzaust, sie hatte sie ungekämmt zusammengebunden. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.

»Madeline, ich habe Angst.« Sie starrte sie mit geweiteten Augen an.

»Was ist geschehen?«, fragte Madeline und trank einen Schluck Tee.

»Heute Nacht wurde das Mädchen ermordet, das direkt

Madeline schlug sich die Hand vor den Mund. Plötzlich war ihr übel. »Kanntest du sie?«

Fanny schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe sie nur selten gesehen. Madeline, ich fürchte mich. Was sollen wir nur tun?«

Madeline war kalt geworden. Sie stützte den Kopf in die Hand. Das alles war ein schrecklicher Alptraum, der nie zu enden schien.

»Die Polizei hat sich nicht einmal herbemüht. Der Leichenwäscher kam, um sie abzuholen.« Fanny hatte Tränen in den Augen.

Madeline dachte an die letzte Nacht und den Schatten, den sie gesehen hatte. War es möglich, dass Gerald …? Nein, der Pfarrer war zwar immer schon ein seltsamer Mensch gewesen, aber er war nicht an Frauen interessiert. Niemals würde er zu einer Dirne gehen – und warum sollte er sie ermorden? Aber vielleicht hatte er den Mörder ja gesehen?

Sie schob ihren Teller von sich und stand auf. Der Appetit war ihr mit einem Mal vergangen. Sie beschloss, Gerald zu befragen. Möglicherweise konnte er ihr wertvolle Hinweise geben.

»Was hast du vor?«, fragte Fanny ängstlich.

»Ich mache einen Ausflug nach Fleetwood, um einen alten Bekannten zu besuchen.« Sie läutete nach dem Hausmädchen. »Und du bleibst hier, Fanny. Du solltest jetzt nicht allein nach Hause gehen.«