Liverpool und Wooverlough Court, November 1839
Nachdem er Madelines Gönner vor ihrer Haustür erkannt hatte, eilte Thomas verwirrt in sein Hotel und beschloss, Madeline am nächsten Tag noch einmal aufzusuchen, um sie zur Rede zu stellen. Er ärgerte sich nicht nur darüber, dass er beinahe auf ihr Spiel hereingefallen wäre. Denn da machte er sich nichts vor: Wenn der Earl nicht zu ihr gekommen wäre, hätte Thomas sich Miss Brown ganz sicher auf unschickliche Weise genähert. Nein, vielmehr beschäftigten ihn die Gründe der jungen Frau, ihm so vieles zu verschweigen. Nicht zuletzt die Identität ihres Geliebten, und Thomas war überzeugt davon, dass sie mehr wusste, als sie ihm gesagt hatte. Jede Information hatte er ihr aus der Nase ziehen müssen. Auch dass sie selbst versucht hatte, etwas über den Mörder der Dirnen herauszufinden, hatte er erst von Jack in der Taverne erfahren. Miss Brown schien in diesem Fall der Dreh- und Angelpunkt zu sein. Sie war die Verbindung zwischen den Morden, die auf den ersten Blick nicht zusammenzuhängen schienen.
»Miss Brown, Sie haben mir gestern etwas Wichtiges verschwiegen«, sagte er, als er wieder in ihrem Salon stand.
»So?« Madeline bedeutete ihm, sich auf das Sofa zu setzen, und ließ sich dann neben ihm nieder. »Was denn, Thomas?«
»Ihr Liebhaber ist der Earl of Wooverlough.«
»Ich dachte, das wäre Ihnen bekannt«, erwiderte sie mit einem neckischen Augenaufschlag.
Thomas ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Er wunderte sich, dass er nicht gestern schon darauf gekommen war. Das ganze Haus trug die Handschrift der Wooverloughs. Die Bilder des Anwesens hingen nicht nur hier, weil Madeline Brown dort aufgewachsen war, sondern auch, weil diese Villa ihrem Gönner, dem Earl of Wooverlough, gehörte.
»Ich halte eben viel von Diskretion, Thomas.« Sie lächelte.
»Nein, Madeline«, erwiderte Thomas ernst. »Es geht um einen Mord. Um mehrere Morde, und Ihr Schweigen ist keine Diskretion, sondern eine erhebliche Behinderung meiner Arbeit.«
Sie hob die Schultern. »Was wollen Sie jetzt mit mir anstellen?« Sie zwinkerte ihm verführerisch zu.
»Und außerdem«, fuhr Thomas unbeirrt fort, »habe ich von anderer Seite erfahren, dass Sie es bereits selbst in die Hand genommen haben, die Aufklärung der Morde an diesen Frauen voranzutreiben.«
Madeline schwieg.
»Warum haben Sie mir nicht davon erzählt?«
Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Weil Sie mich ja doch nicht ernst genommen hätten. Ich hatte John darum gebeten, nach London zu schreiben, weil Drew und seine Männer nichts unternommen hatten. Aber er sagte, in London sei man an der Aufklärung nicht interessiert.«
Thomas sah sie verständnislos an. »Der Earl of Wooverlough hat uns nie kontaktiert.«
Sie stieß verächtlich die Luft aus. »Dieses … Das hatte ich schon fast vermutet. Dabei hat er mir ernsthaft versichert, nach London geschrieben zu haben. Ich kann es nicht fassen, dass er mich dermaßen belogen hat.«
Sie wirkte aufrichtig betroffen.
»Das tut mir leid, Madeline«, sagte Thomas. »Aber Sie müssen mir gegenüber ehrlich sein.«
Sie nickte.
»Wollen Sie mir jetzt alles erzählen?«
Madeline seufzte. »Na schön, ich war davon ausgegangen, dass John sich wirklich an die Londoner Behörden gewendet hat, und war enttäuscht und wütend, als nichts geschah. Ich bin viele Male zu Drew und seinen Männern gegangen, aber die waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich um ihre Arbeit zu drücken. Als meine Freundin Molly ermordet wurde und immer noch nichts unternommen worden war, habe ich mich selbst darum gekümmert.«
»Und was haben Sie herausgefunden?«, fragte Thomas.
Sie griff nach einem Kissen, das neben ihr lag, und strich gedankenverloren über die Troddeln daran. »Nichts. Und dann hat John es mir verboten.«
Thomas lehnte sich in dem Sofa zurück. »Sie wirken auf mich nicht wie eine Frau, die sich etwas verbieten lässt.«
»Nun, ich bin von ihm abhängig«, sagte sie und zupfte verlegen an ihrem Kleid. »Und jetzt noch einmal mehr … John hat es sich nämlich in den Kopf gesetzt, ein Kind zu bekommen. Mary, seine Frau, hat sich als dafür nicht geeignet erwiesen. Deshalb hat er sich auf mich besonnen und … nun ja, jetzt bin ich tatsächlich in anderen Umständen, und seitdem wacht er sehr streng über mich. Schließlich soll ich sein Kind nicht in Gefahr bringen.«
Thomas verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Unweigerlich musste er an seine Frau Anni denken, die bei der Geburt ihres gemeinsamen Kindes gestorben war. Mit Schrecken dachte er daran, dass auch Madeline diesem Risiko ausgesetzt war. Auch wenn er ihr nicht vertraute, lag sie ihm dennoch mehr am Herzen, als gut für ihn war. Und sie war in Gefahr, ihr Leben zu verlieren wegen eines Mannes, der sich nicht einmal offiziell an sie binden wollte. Keine Frau hatte so etwas verdient.
»Wie lange sind Sie schon die Geliebte des Earls?«, fragte er.
Madeline atmete tief durch. »Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass ich mit ihm auf Wooverlough Court aufgewachsen bin. Wir standen uns immer sehr nahe, aber es war von vornherein klar, dass John einmal eine Frau von Rang und Namen heiraten würde. Ich erwähne das nur, damit Sie wissen, dass mir nie falsche Versprechungen gemacht wurden.«
Thomas runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Sie fuhr fort: »Als ich sechzehn wurde, kamen wir uns näher. Das Pförtnerpaar, das mich aufgenommen hatte, war natürlich entsetzt. Schließlich hatten sie die Verantwortung für mich, und wenn der alte Earl es herausgefunden hätte …«
»Verstehe.« Thomas streckte dezent die Beine aus. Das Sofa war nicht für seine Größe gemacht.
»Also schlugen sie dem Earl vor, mich auf ein Internat zu schicken. Was sie nicht bedacht hatten, war, dass John ja in Cambridge lebte, und er überredete seinen Vater, mich auf ein Pensionat ganz in der Nähe zu schicken. Wir konnten uns fortan noch viel öfter sehen, und diese Zeit hat uns sehr eng zusammengebracht.«
»Und seine Heirat? Hat Ihnen die nichts ausgemacht?«
»Nein, wieso auch? Ich wusste ja, dass er Mary nicht wirklich liebte. Wenn sie hübsch wäre … aber das ist sie nicht.«
»Wie ging es dann weiter, als Sie vom Pensionat zurückkamen?«
»Der alte Earl starb sehr überraschend, und damit hatte sich das Problem sowieso gelöst. Wir kehrten hierher zurück, und da die alte Comtess schon früh gestorben war und der Witwensitz leer stand, bin ich hier eingezogen.«
Thomas nickte. »Und der Bruder Ihres Geliebten wurde Pfarrer in Fleetwood?«
Madeline winkte ab und erklärte: »Das war erst viel später. Gerald war ja etwas jünger als wir. Als wir Kinder waren, wollten wir nichts mit ihm zu tun haben, er war eben zu klein und hat uns immer im Weg gestanden. Dann kam er auf eine Klosterschule, und wir waren erwachsen, als wir uns alle wiedersahen. Er hatte sich sehr verändert.«
»Inwiefern?«, fragte Thomas.
»Als Kind war er nervig, albern und anstrengend gewesen. Aber als ich ihn dann viele Jahre später wiedertraf, war er ganz anders als die jungen Männer in seinem Alter. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie verstehen, was ich meine. Er war Anfang zwanzig und hatte gerade angefangen, in Oxford zu studieren. Er war sehr ernst und geradezu verbissen auf seine Sache konzentriert.«
»Worauf konzentrierte er sich?«, fragte der Inspector nach.
»Auf Gott, die Kirche und seinen Glauben.« Madeline zögerte kurz, bevor sie weitersprach. »Er kam mir nicht mehr menschlich vor, sondern irgendwie entrückt.«
Thomas dachte einen Moment lang über ihre Worte nach. Das deckte sich mit den Aussagen der anderen Zeugen, die ihm von Gerald Farwell erzählt hatten. Und auch sein eigener Eindruck, den er im Haus des Opfers gewonnen hatte, ließ darauf schließen. »Madeline, lassen Sie uns noch einmal über die toten Frauen sprechen.« Thomas nahm sein Notizbuch heraus. »Sie haben einige der Frauen gekannt, die zu Mordopfern wurden, nicht nur Molly Abernathy, nicht wahr?«
Madeline atmete tief durch. »Ich kannte die meisten von ihnen. Manche hatte ich nur ein paarmal gesehen, aber ich habe mich ihnen verbunden gefühlt. Aus diesem Grund war ich auch so wütend, als niemand etwas unternommen hat.«
Der Inspector sah sie eindringlich an. »Gibt es noch irgendetwas, das Sie mir verschwiegen haben? Bitte denken Sie jetzt gut nach, lügen Sie mich nicht noch einmal an.«
Eine steile Falte bildete sich auf Madelines Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht, Thomas. Wenn mir noch etwas einfällt, sage ich Ihnen Bescheid. Versprochen.«
Thomas stand auf. Er hatte das ungute Gefühl, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Aber er wollte sie nicht weiter unter Druck setzen. Er würde nach Wooverlough Court hinausfahren und den Earl zur Rede stellen. Auch er hatte die Beziehung zu Madeline Brown verschwiegen, und es wurde Zeit, dass alle mit offenen Karten spielten.
Nachdem Thomas Madelines Villa verlassen hatte, rief er nach einer Kutsche, die ihn nach Wooverlough Court brachte. Dort teilte ihm der Butler mit, dass der Earl ausgegangen sei und erst am Nachmittag zurückerwartet werde. Thomas beschloss, die Zeit zu nutzen und noch einmal das Pfarrhaus aufzusuchen. Irgendetwas musste er übersehen haben, es erschien ihm unwahrscheinlich, dass es keinerlei Hinweise auf ein Privatleben des Pfarrers gab. Vielleicht hatten sie bislang nur an den falschen Stellen gesucht.
Thomas ging durch den weitläufigen Park des Anwesens zum Pfarrhaus. Die sanften grünen Hügel der Anlage waren mit Laub und kleinen Ästen bedeckt, die der Sturm, der in der letzten Nacht über das Land gefegt war, hinterlassen hatte. Es war kalt und ein feiner Nieselregen lag in der Luft. Thomas schlug den Mantelkragen hoch und zog den Hut tief in die Stirn.
Als er bei dem Pfarrhaus ankam, wirkte es verlassen. Kein Licht brannte an diesem grauen Wintertag hinter den Fenstern, und aus dem Kamin stieg kein Rauch. Thomas klopfte, aber niemand öffnete ihm. Die Haushälterin war anscheinend wirklich zu ihrer Schwester gereist, wie sie es geplant hatte. Da die Tür verschlossen war, ging er um das Haus herum zur Hintertür, die jedoch ebenfalls verschlossen war. Er sah zunächst unter den Blumenkübeln nach und fand am Ende unter einem Stein auf der Fensterbank den Schlüssel zur Küche. Vorsichtig sperrte er die Hintertür auf und trat ein.
Einen Moment lang hielt er inne und lauschte. Das Haus wirkte tatsächlich verlassen. Kein Laut war zu hören. Der Geruch von kalter Asche hing in der Luft. Vermutlich waren sämtliche Dienstboten bis auf Weiteres zu ihren Familien heimgekehrt oder taten ihren Dienst im Herrenhaus, solange niemand wusste, wann der neue Pfarrer einziehen würde.
Es war dämmrig im Haus und Thomas drehte das Gaslicht in der Eingangshalle an. Er sah sich in seinem zuckenden Schein um. Hier war nichts, was ihm weiterhelfen konnte. Thomas betrat den Salon im Erdgeschoss. Und wieder fiel ihm auf, dass das Zimmer relativ nüchtern und unpersönlich eingerichtet war. Sein Blick wanderte über das schlichte Sofa, die Sessel, den Kamin und die Kommoden. Nirgendwo stand eine schmückende Porzellanfigur, nicht einmal eine leere Vase zierte den Kaminsims. An der Wand hingen keine Gemälde, nur ein einfaches Kreuz, und neben dem Fenster stand ein verwelkter Zimmerfarn. Thomas sah hinaus in den Garten und dachte über Madelines Worte nach. Gerald Farwell schien wirklich nur für seinen Glauben gelebt zu haben. Er war allen weltlichen Dingen entrückt gewesen. Aber war das überhaupt möglich?, fragte sich Thomas, während er den gepflegten Garten betrachtete, der sich hinter dem Pfarrhaus erstreckte. Konnte ein Mensch tatsächlich ohne jegliche Zerstreuung leben? Er wandte sich um und lehnte sich gegen die niedrige Fensterbank. Wieder sah er sich im Zimmer um. Es gab keine Sherry- oder Whiskeyflaschen, keine Bücher oder Zeitungen. Wie hatte der Pfarrer seinen Feierabend verbracht? Wirklich nur mit Gebet und Meditation?
Thomas ging zu einer der beiden Kommoden und öffnete ihre Schubladen. In der obersten lagen eine Bibel, ein Gebetbuch und eines mit christlichen Sprüchen. In den beiden unteren Schubladen fand er alte vergilbte Tischdecken, die wohl seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren. Auch in der anderen Kommode war nichts Nennenwertes aufbewahrt.
Wieder trat er ans Fenster und sah in den Garten hinaus, als würde er die Antworten auf seine Fragen dort draußen finden. Da stutzte er plötzlich. Hinter den Gemüsebeeten, am Ende des gut gepflegten Rasens war eine niedrige Mauer zu erkennen, die das Grundstück begrenzte und in der eine halb abgebrannte Fackel steckte. Wofür diente diese Fackel? Thomas’ Neugier war geweckt. Da er noch genug Zeit hatte, bis der Earl auf Wooverlough Court zurückerwartet wurde, beschloss er, sich diese Fackel einmal genauer anzusehen.
Er verließ das Haus und ging dann quer über die Wiese zur Mauer. Als er dort angelangt war, stellte er fest, dass die Fackel offenbar vor Kurzem noch benutzt worden war. Das Holz war noch nicht weich geworden, wie man es hätte erwarten können, wenn es längere Zeit dem feuchten Novemberwetter ausgesetzt gewesen wäre. Er lehnte sich vor, um auf die andere Mauerseite sehen zu können. Dort lagen die Überreste mehrerer heruntergebrannter Fackeln. Er ließ seinen Blick über das Dickicht schweifen. Wohin war der Fackelträger verschwunden? Plötzlich entdeckte er einen schmalen zugewucherten Pfad, der zwischen den Sträuchern, Brombeerranken und Birkentrieben kaum zu erkennen war. Wer nicht danach suchte, würde ihn vermutlich gar nicht finden.
Der Inspector schwang sich über die niedrige Mauer und schlug sich auf dem kleinen Pfad durch das dichte Gebüsch. Immer wieder verfing sich sein Mantel in den Ranken und Dornen. Nach etwa zwanzig Schritten endete der Weg vor einer Felswand. Zuerst glaubte Thomas, in einer Sackgasse gelandet zu sein, doch dann entdeckte er ein Gitter, das von einem Haselnussstrauch halb verdeckt war. Er bog die Äste zur Seite und hielt überrascht inne. Vor ihm lag eine Gittertür, hinter der eine Art Höhle zu erkennen war. Thomas betrachtete das große Schloss an der Tür. Was wurde hier gelagert, dass man es derart sicher verwahren musste?
Zu gern hätte Thomas sich einmal in dieser Höhle umgesehen, aber er hatte keine Idee, wie er ihre Tür öffnen konnte. Sein Blick wanderte die Felswand hoch, in die einige Fensteröffnungen eingehauen waren. Vielleicht gelang es ihm, sich dort hinaufzuziehen und so in die Höhle zu klettern. Die Öffnungen waren groß genug, sodass er hindurchpassen müsste. Allerdings lagen sie so hoch, dass er sie mit den Händen nicht erreichen konnte.
Rasch kehrte er zum Pfarrhaus zurück und fand im Schuppen dahinter, gleich neben dem Abort für die Dienerschaft, eine kleine Trittleiter. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm schließlich, zu einem der Fenster hinaufzusteigen und sich durch die Öffnung zu zwängen. Wenig elegant plumpste er auf der anderen Seite auf den Steinboden. Er rappelte sich auf und sah sich in dem dämmrigen Licht um. Es schien sich um eine Art Andachtsraum zu handeln. An der Stirnseite der Höhle befand sich ein Altar mit einem schweren Eisenkreuz und mehreren goldenen Leuchtern, auf denen heruntergebrannte Kerzen steckten. Auf der anderen Seite standen ein paar große Holztruhen, daneben führte ein Gang in die Tiefe des Felsens hinein. Thomas spähte in den finsteren Gang, konnte aber nichts erkennen. Wenn er nur eine Fackel oder eine Öllampe mitgenommen hätte! Er wandte sich wieder der Höhle zu. Was war wohl in den Truhen? Thomas öffnete eine von ihnen vorsichtig. Der Deckel ließ sich erstaunlich leicht aufklappen. Der Inspector schrak zurück, als er die Peitschen, Eisenketten und Stachelkugeln sah, die in der Kiste lagerten. Schwere Schlösser waren an den Ketten befestigt. Thomas musste unwillkürlich an die seltsamen Verletzungen auf dem Rücken und der Brust des toten Pfarrers denken. Waren diese Folterwerkzeuge hier etwa die Erklärung dafür? Manche von ihnen sahen abgenutzt aus und schienen schon einige Jahre alt zu sein. War es möglich, dass der Pfarrer von jemandem geschlagen und ausgepeitscht worden war? Aber er war ein kräftiger Mann gewesen, warum hatte er sich nicht zur Wehr gesetzt? Thomas richtete sich auf. Plötzlich kamen ihm Berichte in den Sinn, die er über mittelalterliche Mönche gehört hatte. Sie hatten sich zur Selbstkasteiung ausgepeitscht. Hatte Gerald Farwell sich diese Verletzungen etwa selbst zugefügt? Hatte er sich dabei womöglich in Ketten gelegt? Wieder wanderte Thomas’ Blick zu den Peitschen und Ketten und es schauderte ihn unwillkürlich. Was für ein unheimlicher Ort! Er wandte sich ab und betrachtete das dunkle Loch im Felsen. Thomas hätte zu gern gewusst, wohin dieser Gang führte. Er würde wohl mit einer Laterne noch einmal hierherkommen müssen. Aber für heute hatte er genug gesehen. Er verließ die Höhle, wie er hereingekommen war, verstaute die Leiter wieder im Schuppen und marschierte durch den Park zurück nach Wooverlough Court.
Inzwischen war der Earl zu Hause angekommen und bereit, den Inspector in seinem Arbeitszimmer zu empfangen.
Thomas begann sofort, den Mann unter Druck zu setzen. »Eure Lordschaft, bei allem Respekt, aber ich verstehe nicht, warum Sie meine Ermittlungen die ganze Zeit behindern, wo Sie doch ein großes Interesse an der Aufklärung des Mordes an Ihrem Bruder haben müssten.«
»Zügeln Sie sich, Grundgütiger!«, fuhr der Adlige auf. In seinem Gesicht zeigte sich Ärger. »Ich behindere Sie doch nicht.«
»Und was ist mit Madeline Brown?«, sagte Thomas mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Sie hat nichts mit meinem Bruder zu tun. Ich werde Ihnen doch nicht mein ganzes Leben darlegen, nur weil irgendein Schwachsinniger Gerald umgebracht hat. Dabei war es sicher ein dahergelaufener Räuber.«
»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie es bitte mir überlassen, das zu beurteilen. Erst haben Sie mir verschwiegen, dass Sie Miss Brown überhaupt kennen, und dann muss ich herausfinden, dass sie seit Jahren Ihre Geliebte ist.« Thomas sah den Adeligen drohend an. »Was verschweigen Sie mir noch?«
»Nichts.« Das Gesicht des Earls war vor Zorn rot angelaufen. »Und mein Privatleben ist für Ihre Ermittlungen nicht von Belang.«
»Ganz im Gegenteil. Miss Brown hat die meisten Mordopfer gekannt. Ihren Bruder, Molly Abernathy und noch einige andere der getöteten Frauen.« Thomas atmete tief durch. »Sie scheint im Zentrum dieser Ermittlungen zu stehen und ich muss alles über sie erfahren.«
»Mehr weiß ich nicht«, sagte der Earl und griff demonstrativ zu einem Stapel Unterlagen, der auf seinem Schreibtisch lag. »Wenn das dann alles war …?«
»Wie war das Verhältnis zwischen Ihrem Bruder und Miss Brown?«, fragte Thomas, der sich nicht so schnell abfertigen lassen wollte.
Der Earl hob die Schultern. »Gut, nicht erwähnenswert.«
»Bitte denken Sie gründlich nach, Eure Lordschaft.« Thomas unterdrückte einen Seufzer.
»Hören Sie, Inspector«, nun stand der Earl auf, blieb jedoch hinter seinem Schreibtisch stehen und beugte sich zu Thomas herab, »Miss Brown hat mit Sicherheit nichts mit dem Tod meines Bruders zu tun. Ich verstehe nicht, warum Sie so viel Zeit mit ihr verschwenden, anstatt sich auf die Suche nach dem Mörder zu machen.«
Thomas erhob sich ebenfalls. »Wussten Sie, dass Ihr Bruder erhebliche Verletzungen am gesamten Körper hatte, teilweise mehrere Jahre alt?«
Der Earl sah ihn überrascht an. »Gerald? Nein, das wusste ich nicht. Er war immer äußerst friedfertig und hat sich nie mit anderen Menschen gestritten, wenn Sie das meinen.«
»Ich war gerade im Garten des Pfarrhauses und habe eine Höhle gefunden. Darin befinden sich Peitschen und Ketten. Kann es sein, dass Ihr Bruder sich selbst gegeißelt hat?«, fragte Thomas.
Seine Lordschaft sah ihn entsetzt an. »Warum sollte er das getan haben? Nein, das hat er bestimmt nicht.«
»Gut.« Thomas nickte dem Adeligen zu. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte.«
Er verließ das Anwesen und war sich sicher, dass der Earl ihm immer noch nicht alles anvertraut hatte, was er über diese Sache wusste.