Fleetwood, heute

Charlotte und Zoe gingen schweigend durch den Park zurück nach Wooverlough Court. Zoe genoss Charlottes Nähe und ließ ihre Gedanken treiben. Sie hatten noch nichts wirklich Spektakuläres gefunden, was ihnen Aufschluss über Gerald Farwells Heldentaten gegeben hätte.

»Glaubst du nicht, dass es besser wäre, ein anderes Thema für meine Promotion zu suchen?«, fragte Zoe, als Wooverlough Court mit seinen zahlreichen Türmen und Erkern zwischen den Bäumen vor ihnen auftauchte.

Ihre Professorin sah sie nachdenklich an. »Ich würde noch nicht aufgeben, Zoe. Mich hat Gerald Farwell immer schon interessiert, und ich bin fest davon überzeugt, dass es gute Gründe für die Entstehung dieses Heldenmythos gibt.«

»Vielleicht basiert er ja nur auf Gerüchten, die mündlich überliefert wurden?«, überlegte Zoe.

Charlotte beobachtete ein paar Amseln, die auf der Wiese vor der Villa nach Würmern pickten. Dann fragte sie: »Aber hätten sich diese Gerüchte so lange gehalten? Das bezweifle ich. Nein, da muss mehr dahinterstecken. Und wenn etwas über Gerald zu finden ist, dann hier, in den sagenumwobenen Bibliotheken der Wooverloughs.«

»Du bist zauberhaft, wenn du angestrengt nachdenkst«, sagte Charlotte. In ihrem Blick lag eine Sanftheit, die Zoe den Atem nahm. Winzige braune Sprenkel zeichneten sich in ihren grünblauen Augen ab, die ihnen eine ungewöhnliche Strahlkraft verliehen. Ihre Wangen waren vom Marsch durch die kalte Winterluft gerötet. Zoes Herz schlug schneller. Sie betrachtete das Gesicht ihrer Professorin, das ihr schon so vertraut geworden war. Zoe hatte Charlotte seit Jahren fachlich bewundert. Doch seit sie sie persönlich kannte, war sie von ihrer Ausstrahlung und Selbstsicherheit fasziniert.

Charlotte streckte ihren Arm aus, um Zoe zu sich zu drehen. Zoes Atem stockte. Wärme breitete sich in ihr aus. Charlotte hielt sie jetzt mit beiden Händen fest, und während ihr Gesicht sich Zoes näherte, hielt Zoe vor Aufregung einen Augenblick die Luft an. Im nächsten Moment trafen sich ihre Lippen, zuerst sanft und zögernd, dann immer leidenschaftlicher. Zoe schloss ihre Augen und spürte die weichen, vollen Lippen auf ihren. Der Duft von Charlottes Haut stieg ihr in die Nase und vermischte sich mit ihrem zarten Parfüm. Charlottes Hände wanderten auf Zoes Rücken und drückten sie fest an sich. Zoe schloss ihre Arme um Charlotte. Lange standen sie so da, ohne voneinander lassen zu können. Es begann zu dämmern, als sie sich schließlich aus ihrer Umarmung lösten und widerstrebend ihren Weg zum Anwesen fortsetzten.

Sie sprachen kein Wort, Zoe war gefangen in einem

Wenig später betrat Zoe hinter Charlotte das Haus durch einen der Seiteneingänge, und sie musste sich zwingen, nicht nach Charlottes Hand zu greifen. Aber sie wusste, dass ihr Vater sie sofort nach Oxford zurückschicken würde, wenn er von ihrer Beziehung erfuhr. Und da die wissenschaftliche Arbeit über Gerald Farwell ihrer Professorin viel bedeutete, wollte Zoe ihre Recherche nicht gefährden.

Als sie in ihrem Zimmer hastig in ihr schlichtes schwarzes Abendkleid schlüpfte, war ihr Herz noch immer in Aufregung, und ihr ganzer Körper sehnte sich nach Charlottes Berührung. Wenig später klopfte sie an Charlottes Tür. Ihre Professorin öffnete ihr in einem zauberhaften grünen Kleid aus leichter Seide. Der knielange Rock umspielte Charlottes Beine, das figurbetonte Oberteil hatte einen tiefen Ausschnitt.

»Du siehst umwerfend aus«, begrüßte Charlotte sie und sprach damit auch Zoes Gedanken aus. »Kommst du noch einen Moment herein?« Ihre Augen funkelten.

Zoe stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. »Meine Eltern erwarten uns, wir sollten uns nicht verspäten.«

Charlotte lächelte und sie betrachtete Zoe zärtlich. »Nachher?«

Zoe nickte.

 

Als sie in den Salon kamen, waren die meisten Gäste bereits eingetroffen. Die Zeit bis zum Dinner verging mit

In diesem Moment kündigte der Butler das Dinner an, und die Gäste begaben sich ins Esszimmer. Große Kandelaber standen auf der langen Tafel, die mit dem Familienporzellan eingedeckt war, und in den Kristallgläsern spiegelte sich das Kerzenlicht, sodass ein festliches Gefühl in Zoe aufstieg. Während sie Platz nahm, wanderte ihr Blick wieder zu Charlotte, deren Tischkarte direkt neben der Karte des Earls aufgestellt war. Zoes Vater rückte ihr gerade den Stuhl zurecht, und in diesem Moment begriff Zoe: Es war nicht nur das Interesse an der Forschung, das ihren Vater an der Professorin faszinierte. Er schien ein großes Gefallen an ihr gefunden zu haben.

Zoe wandte sich schnell ab. Ihr Tischnachbar, ein neureicher Snob, der mit mehreren Autohäusern zu viel Geld gekommen war, fragte sie gerade nach Der Übernächste, und auch wenn er offenbar keine Seite des Buches gelesen

Nach dem Essen begab sich die ganze Gesellschaft wieder in den Salon, wo die Diener mit dem Kaffee auf sie warteten. Der Earl hatte Charlotte seinen Arm angeboten und führte sie zu einem der Sofas. Er setzte sich so nah neben sie, dass Charlotte unwillkürlich etwas zur Seite rückte. Zoe biss sich auf die Lippen, als sie beobachtete, wie der Earl den Kopf zurückwarf und über etwas lachte, was Charlotte gerade gesagt hatte.

»Er flirtet mit ihr.«

Zoe zuckte zusammen und sah sich um. Ihre Mutter stand hinter ihr.

»Oh, meinst du?« Sie fühlte sich ertappt. Wie lange hatte sie die beiden schon angestarrt?

»Natürlich, das kann doch jeder sehen«, antwortete ihre Mutter leise. »Sie ist sehr schön.«

Zoe nickte.

»Er tut es ständig.«

Zoe sah ihre Mutter an. »Was? Flirten?«

»Ja.« Die Comtess lächelte. »Und meistens bleibt es nicht dabei.«

Zoe schwieg, peinlich berührt.

»Er will mit ihr schlafen, das ist offensichtlich.«

Zoe schluckte. Was sollte sie dazu sagen? Noch nie hatte

»Macht es dir nichts aus?«, fragte Zoe.

Ihre Mutter sah sie an. »Es tut nichts zur Sache, was ich dabei empfinde.«

Neben ihnen lachten ein paar Gäste und die Comtess führte Zoe etwas beiseite zum Fenster.

»Aber wie kannst du das ertragen?«, fragte Zoe ihre Mutter. »Warum lässt du dir das gefallen?«

Die Comtess hob die Schultern. »Was soll ich tun? Mich scheiden lassen und zum Gespött der Gesellschaft werden? Ich bekäme nicht einmal viel Geld, das hat er alles vor unserer Hochzeit geregelt. Das erste Mal, dass ich gehen wollte, ist viele Jahre her. Damals wart ihr noch klein. Ich war schon beim Anwalt und wollte die Scheidung einreichen. Dann habe ich von den Konsequenzen erfahren, die ein solcher Schritt mit sich gebracht hätte.«

Zoe sah ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie wandte sich wieder zu ihrer Mutter. »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Mutter. Du hättest doch selbst Geld verdienen und mit uns ein eigenes Leben führen können.«

Ihre Mutter schnaubte. Dann huschte ihr Blick kurz durch den Salon, als ob sie sich vergewissern wollte, dass sie auch niemand belauschte. Aber alle Gäste waren in angeregte Unterhaltungen vertieft.

»Meine Chancen standen mehr als schlecht, ich hätte euch niemals mitnehmen dürfen«, sagte sie leise. »Immerhin ist dein Bruder der Erbe des Titels, und dein Vater hätte

»Glaubst du, dass wir nur an solchen Dingen interessiert sind?«, fragte Zoe erschrocken.

Der Blick ihrer Mutter wurde weich. »Damals glaubte ich es. Und selbst heute bin ich mir bei deinen Geschwistern sicher, dass sie eher materiell orientiert sind. Dich habe ich unterschätzt. Sehr unterschätzt.«

Sie fasste nach Zoes Arm und drückte ihn. »Du bist so stark, Zoe, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Nein, dich hat das Geld tatsächlich nie interessiert. Das habe ich schmerzlich erfahren, als dein Vater dich hinausgeworfen hat. Ich hatte damals fest damit gerechnet, dass du einlenken und wieder zu uns zurückkehren würdest.«

Sofort stiegen die Erinnerungen an jenen Abend in Zoe auf, als ihr Vater sie weggeschickt hatte. Noch während sie damals hastig ihre Jacke überzog, hatte sie fest damit gerechnet, dass ihre Mutter sich für sie einsetzen würde. Dass sie im nächsten Moment die Stimme ihres Vaters aufhalten würde, der von seiner Frau zur Vernunft gebracht worden war. Aber nichts dergleichen war geschehen. Schweigen hatte ihren Abgang begleitet.

»Deshalb hast du nichts unternommen, um mich umzustimmen?«, fragte Zoe und atmete tief ein. »Ich war sehr verletzt, als ich nichts von dir gehört habe. Du hast dich nie erkundigt, wie es mir geht …«

»Ich dachte, du kommst schon zurück, wenn es dir schlecht geht. Und das hast du jetzt ja auch getan.«

Die Comtess betrachtete Zoe nachdenklich. »Ich verstehe. Dann bedeutet sie dir mehr als …«

Zoe spürte, dass sie errötete. »Ja, aber ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen wird. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.«

»Oh.« Ihre Mutter sah zu Charlotte hinüber.

»Ist es für dich in Ordnung, dass ich lesbisch bin?«, fragte Zoe vorsichtig.

Die Comtess lächelte. »Ach herrje, Zoe! Natürlich würde ich mich freuen, wenn es zu einer schicken Hochzeit mit einem angesehenen Mann der gehobenen Gesellschaft käme und ich irgendwann Enkelkinder von dir bekäme. Ja, ich gebe zu, dass auch mich die Wahrheit anfangs sehr mitgenommen hat. Aber inzwischen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, und ich muss gestehen, dass ich dich bewundere. Du bist deinen Weg gegangen, einen Weg, den ich nie gewagt hätte zu gehen – und damit meine ich nicht deine Liebe zu Frauen, sondern dass du dein Glück über die Erwartungen anderer stellst. Du hast großen Erfolg als Schriftstellerin und ich bin unglaublich stolz auf dich. Ich möchte, dass du wirklich glücklich bist.«

»Mein Schatz«, flüsterte die Comtess. »Ich bin froh, dass du wieder hier bist.«

Zoe löste sich von ihrer Mutter und strich ihr sanft über die Wangen. »Vielleicht bekommst du nie Enkelkinder, aber zumindest ein weiteres Buch von mir.«

Zoes Mutter lachte. »Na, wenigstens etwas.«

In diesem Moment kamen die ersten Gäste auf sie zu, um sich zu verabschieden, und eine halbe Stunde später waren alle gegangen. Die Dienstboten huschten durch den Salon, um die leeren Gläser einzusammeln. Mitternacht war bereits vorbei.

»Godfrey, ich danke Ihnen und der Comtess für diesen wunderschönen Abend«, sagte Charlotte und schenkte dem Earl ein umwerfendes Lächeln. Zoe spürte wieder den Stich der Eifersucht, als sie hörte, dass Charlotte ihren Vater mit seinem Vornamen ansprach. Das erlaubte er nur sehr wenigen Menschen.

»Es war uns ein Vergnügen«, erwiderte er und fasste nach Charlottes Arm, den er sich in die Ellenbeuge legte. »Sie müssen mir gestatten, Sie nach oben zu begleiten.«

»Das ist wirklich nicht nötig«, insistierte die Professorin und warf Zoe einen hilfesuchenden Blick zu.

Der Earl wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung fort. »Gute Nacht!«, rief er Zoe und seiner Frau über die Schulter zu und verließ mit Charlotte den Salon.

»Siehst du«, sagte ihre Mutter so leise, dass die Dienstboten sie nicht hören konnten. »Sie wird Schwierigkeiten haben, ihn loszuwerden. Viele unserer weiblichen Hausgäste lassen ihn mit in ihr Zimmer kommen.«

»Aber das Personal bekommt doch alles mit«, sagte Zoe mit leiser Stimme. »Und nicht nur sie, auch die Gäste. Er blamiert dich, er führt dich vor. Warum lässt du dir das gefallen? Nur wegen des Geldes?«

»Ach, Zoe.« Ihre Mutter seufzte. »Ich bin nicht so stark wie du. Ich kann das Gerede der Gesellschaft nicht ertragen.«

»Aber sie reden doch sowieso. Meinst du, sie kriegen es nicht mit, dass er dich in deinem eigenen Haus betrügt?«, fragte Zoe wütend.

Ihre Mutter hob resigniert die Schultern. »Es ist sein Haus, nicht meins. Und ja, natürlich wissen es die Leute, aber ich bin nicht die Einzige, die mit einem betrügerischen Ehemann auskommen muss. Damit kann ich besser leben, als wenn ich als geschiedene Comtess nicht mehr zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen werden würde. Ich könnte nicht mehr dabei sein, verstehst du?«

Zoe beobachtete die Dienstboten, die inzwischen alle Gläser abgetragen hatten und nun dabei waren, die Vorhänge zuzuziehen. Sie beugte sich zu ihrer Mutter vor und sagte leise: »Es ist völlig egal, ob ich es nachvollziehen kann oder nicht. Du bist diejenige, die sich dabei wohlfühlen muss. Und wenn du jemals meine Hilfe brauchst, melde dich.«

Die Comtess drückte Zoes Hand und wünschte ihrer Tochter eine Gute Nacht. In Gedanken versunken ging Zoe die Haupttreppe hinauf. Als sie in ihr Zimmer trat, fuhr sie zusammen. Die Nachttischlampe war angeknipst

»Habe ich dich erschreckt?«, fragte sie mit einem verführerischen Lächeln.

Zoe schüttelte den Kopf. Ihr Herz klopfte wie wild in ihrer Brust. Ihre Stimme war heiser, als sie sagte: »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du meinen Vater so bald loswürdest.«

Charlotte verdrehte die Augen. »Dein Vater ist wirklich hartnäckig. Aber kommst du jetzt zu mir?«

Zoe schlüpfte aus ihren Schuhen und setzte sich auf die Bettkante. Charlotte rückte näher an sie heran. Zärtlich strich sie über Zoes Nacken und fuhr langsam mit ihren Fingern durch ihr Haar. Gänsehaut breitete sich über Zoes Körper aus.

Charlotte flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe das noch nie mit einer Frau getan.«

Ihre Hände umfassten Zoes Gesicht und ihre Lippen legten sich auf Zoes. Wieder versank Zoe in ihrem Kuss, der immer leidenschaftlicher und drängender wurde. Zoe rutschte nach hinten und ließ sich auf das große Bett fallen. Charlotte sank neben sie. Zoes Hände streichelten zärtlich über Charlottes Rücken. Sie fand den Reißverschluss ihres Kleides und zog ihn auf. Sanft glitt der grüne Stoff von Charlottes Schultern. Sie setzte sich auf und streifte das Kleid ab. Zoe sog scharf die Luft ein, als sie ihre schwarze Spitzenwäsche sah. Charlottes warme Finger hoben nun auch Zoes Kleid an, schoben sich die Oberschenkel hinauf, stülpten das Kleid vorsichtig über Zoes Hüften und zogen es schließlich sanft über ihren Kopf.

»So sicher, wie ich mir nur sein kann«, flüsterte Charlotte ihr ins Ohr.

Zoe griff nach Charlottes Hand und küsste sie zärtlich. »Ich habe mir gewünscht, dass das passiert, vom ersten Moment an, als ich dich gesehen habe.«

Charlotte lächelte sie voller Zärtlichkeit an. Doch hinter dem Lächeln erkannte Zoe auch Angst und Unsicherheit. Sie wusste, wie ihre Professorin sich jetzt fühlen musste, schließlich hatte sie vor vielen Jahren selbst in genau diesem Haus gelegen und sich gefragt, wie sie mit ihren Gefühlen, die so anders waren, als die Gesellschaft sie forderte, umgehen sollte. Um diesen zauberhaften Moment nicht zu zerstören, riss sie sich von dem Gedanken los und nahm sich vor, Charlotte in dieser Nacht keine Zeit zu geben, über die Zukunft nachzudenken. Sie zog sie an sich und küsste sie mit aller Leidenschaft, die sie in sich trug.

 

»War das hier eigentlich früher dein Zimmer?«, fragte Charlotte eine Stunde später, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren.

Zoe schüttelte den Kopf. »Meine Geschwister und ich haben in einem anderen Teil des Hauses gewohnt, oben unterm Dach. Dort habe ich den Großteil meiner Kindheit verbracht. Erst als ich sechzehn wurde, bin ich nach unten in den Familienflügel gezogen. Dieser Raum hier war, glaube ich, immer schon ein Gästezimmer. Wir durften damals nie hier spielen, um niemanden zu stören.«

Charlotte richtete sich plötzlich auf. »Könnte es sein, dass die verborgene Bibliothek sich unterm Dach befindet,

Zoe dachte einen Moment lang nach, während sie eine von Charlottes Haarsträhnen um ihren Finger wickelte. »Ja, das könnte sein. Aber leider kann mich nicht mehr genau erinnern.«

Charlotte löschte das Licht. Es war inzwischen fast vier Uhr morgens. »Schlaf gut, meine süße Zoe. Morgen werden wir dort oben mal ein bisschen herumstöbern.«

 

Als Zoe am nächsten Morgen erwachte, war Charlottes Duft das Erste, das sie begrüßte, und Zoe durchfuhr wieder ein unvorstellbares Glücksgefühl. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits halb elf war. Sanft küsste sie Charlotte auf die Stirn, auf die seidig weichen Wangen und die verführerischen Lippen.

Charlotte räkelte sich und öffnete die Augen. Sofort trat wieder diese Zärtlichkeit in ihren Blick, die Zoe Gänsehaut verursachte. Einen Moment lang sahen sie sich nur an, berauscht von dem Glück, die andere neben sich zu wissen. Das schwache Tageslicht, das durch die alten Vorhänge schien, ließ Charlottes Haare leuchten.

Dann nahm Charlotte Zoes Morgenmantel und schlüpfte in ihr eigenes Zimmer.

Wenig später fanden sie sich im Speisezimmer zu einem späten Frühstück ein. Außer ihnen war niemand anwesend, vermutlich hatte Zoes Vater seinen Morgenkaffee bereits getrunken, ihre Mutter ließ sich ihr Frühstück immer auf ihr Zimmer bringen.

Als Zoe die alte Holztür am Ende der Treppe öffnete, blieb sie überwältigt stehen. Der Geruch nach Bohnerwachs rief zahlreiche Erinnerungen in ihr wach. Augenblicklich fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt.

»Das hier, das ist für mich wie Nachhausekommen«, stellte sie fest, selbst überrascht darüber. »Hier war all die Jahre meine Heimat, nicht unten in dem riesigen Haus.«

Charlotte legte einen Arm um Zoes Schultern und schmiegte sich für einen Augenblick an ihre Freundin.

»Wo war dein Schlafzimmer?«, fragte die Professorin.

Zoe deutete beinahe ehrfurchtsvoll auf die letzte Tür rechts, dann führte sie Charlotte durch den dunklen und staubigen Flur. Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Schritten.

In dem kleinen Zimmer waren die Möbel mit weißen Laken zugedeckt. Zoe zog die Tücher ab und ließ sie zu Boden gleiten. Dann sah sie sich um. Genau so, nur etwas größer, hatte sie ihr Kinderzimmer in Erinnerung. Sie betrachtete das weiße Bettgestell, die bunte Tagesdecke, den alten Kleiderschrank aus Eichenholz. Ein kleiner Tisch und zwei Kinderstühle standen auf einem Flickenteppich in der Mitte des Zimmers, eine Kommode direkt neben der Tür. Zoe trat ans Fenster und sah hinaus. Ja, das war der Ausblick aus ihrem Zimmer! Heute fiel ihr auf, wie überwältigend er war. Die Sicht war weit und verlor sich hinten am Horizont. Unter ihr breiteten sich die Gärten und die großzügige Parkanlage des Anwesens aus.

Nachdenklich legte Zoe die Laken wieder über die Möbel. Als Nächstes wandten sie sich dem Spielzimmer zu, das neben Zoes Zimmer lag. Auch an diesen Raum hatte Zoe viele schöne Erinnerungen, und sie stieß einen kleinen Freudenschrei aus, als sie ihr altes viktorianisches Puppenhaus, das Kindergeschirr und ihr Schaukelpferd entdeckte. Der Reihe nach schauten sie sich jedes Zimmer in der oberen Etage an, den Schlafraum der Nanny und die anderen Kinderschlafzimmer. Aber nirgendwo war ein Zugang zu irgendeinem Geheimzimmer zu finden.

»Und wo führt diese Tür hin?«, fragte Charlotte schließlich und deutete auf eine alte Schwingtür.

»Soweit ich weiß, sind da unten die alten Dienstbotenzimmer«, erwiderte Zoe und drehte das Licht in dem schmalen Treppenhaus dahinter an. »Ja, genau. Da wohnten früher die Bediensteten der Gäste. Aber sie wurden nur sehr selten benutzt.«

»Hast du als Kind hier gespielt?«

Zoe betrachtete den Linoleumboden. »Nein, das durften wir nicht. Aber dort gab es einen Durchgang zum Mitteltrakt des Hauses, da sind wir öfter durchgeflitzt, wenn wir unserer Kinderfrau entkommen wollten.«

»Dann lass uns das doch mal anschauen«, sagte Charlotte und fasste nach Zoes Hand.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter und gingen einen langen Flur entlang, dessen Wände mit alten Holzpaneelen verkleidet waren.

Zoe blieb stehen. Plötzlich hatte sie ein Bild vor ihrem inneren Auge. Ein Holzpaneel wie diese hier an den

»Meinst du, mitten im Flur?« Charlotte sah sie skeptisch an. »Wäre das nicht ein wenig zu … offensichtlich?«

Zoe strich mit den Fingern über die alte Wandverkleidung. »Hierher kommt selten jemand. Es könnte allerdings auch in dem alten Saal sein – der ist da vorn.« Sie deutete auf eine Tür, die sich so nahtlos in die Holzvertäfelung einfügte, dass man sie leicht übersehen konnte.

Zoe führte Charlotte in den großen Raum.

»Das war früher einmal der Ballsaal«, erklärte sie. »Aber seit der Ostflügel im frühen achtzehnten Jahrhundert angebaut wurde, hat man den Saal hier nur noch selten benutzt. Ich glaube, in diesem Raum sind die Damen bei schlechtem Wetter gewandelt und die Kinder haben mit Bällen, Seilen und Reifen gespielt.« Sie sah sich um. »Jedenfalls sind die Wände hier auch mit Holzpaneelen vertäfelt. Es kann gut sein, dass hinter einem davon der Geheimgang liegt.«

»Oder die verborgene Bibliothek?«, fragte Charlotte.

Zoe betrachtete die Wände und antwortete: »Ja, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es gab hier eine Menge verborgener Türen und ich habe sie mir nicht alle gemerkt.«

»Na, dann hoffen wir einfach mal, dass sich dein Gedächtnis nicht täuscht.« Charlotte zwinkerte ihr zu, ehe sie sich auf die Suche machten.

Nachdem Zoe sich eine Weile an den Paneelen entlanggetastet hatte, wusste sie plötzlich, dass sie die richtige Stelle gefunden hatte. Sie stand vor einem Holzbrett neben der Tür, als ihre Erinnerung zurückkehrte. Mit

»Charlotte!«, rief sie aufgeregt.

»Hast du es gefunden?« Die Professorin lief durch den Raum zu ihr.

Zoes Hände zitterten, während sie die Holzverkleidung vorsichtig zurückschob. Als sie den Geruch nach Moder, Staub und feuchtem Papier wahrnahm, wusste sie, dass sie das richtige Versteck gefunden hatten. Ehrfurchtsvoll betraten sie den hellen Raum hinter der Geheimtür. Er war nicht besonders groß, nicht mehr als fünf Quadratmeter, und seine Wände waren mit alten Regalen bedeckt. Unter dem Fenster, das zum Obstgarten hinausging, stand ein Schreibtisch.

»Es scheint, als hätten deine Vorfahren hier jede Menge Tagebücher aufbewahrt«, sagte Charlotte und blies den Staub von einem der Bücher, der zentimeterdick darauf gelegen hatte. Ihre Wangen leuchteten vor Aufregung. »Hier stehen meterweise Tagebücher aus alten Jahrhunderten.«

»Genauso hatte ich es in Erinnerung.« Zoe drehte sich um die eigene Achse, um die hohen Regale genauer zu betrachten.

»Zoe, wie hieß eigentlich der Earl, damals als Gerald Farwell hier Pfarrer war?« Charlotte zog weitere Bücher heraus und blätterte darin. »Das muss ja der ältere Bruder von Gerald gewesen sein.«

»Der hieß John«, antwortete Zoe. »Ja, lass uns zuerst nach Tagebüchern von diesem John Wooverlough suchen.«

»Ich wage ja nicht zu hoffen, dass hier auch Aufzeichnungen von Gerald selbst liegen«, erwiderte Charlotte.

Sie machten sich an die Durchsicht der Bücher, mussten

»Hier, ich hab sie gefunden!«, rief Charlotte schließlich triumphierend. »John scheint ein eifriger Tagebuchschreiber gewesen zu sein.«

Sie zog die Bände nacheinander aus dem Regal, während Zoe ihr über die Schulter sah.

»Das ist ja eigenartig«, stellte sie fest. »Sie enden im Sommer 1839. Aber dieser Earl ist doch erst in den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts gestorben, oder nicht?«

Zoe nickte. Sie ließ ihren Blick wieder über die Regale gleiten und blieb an einer Holztruhe hängen, die ganz unten auf einem der Bretter stand.

Vorsichtig zog sie die Kiste heraus und klappte den Deckel auf. »Schau mal, hier sind weitere Tagebücher. Und ein Brief.« Sie faltete das alte Dokument auseinander und las den Brief laut vor:

London, Herbst 1845

Eure Lordschaft,

 

inzwischen sind fünf Jahre vergangen, seit Sie Miss Brown erpresst und zu einem Leben gezwungen hatten, das sie nicht führen wollte. Damals haben wir uns geeinigt, und wie es scheint, haben beide Parteien ihr Wort gehalten. Da Miss Brown heute rundum glücklich ist und mit allem, was damals geschah, abgeschlossen hat, haben wir entschieden, Ihnen sämtliche Aufzeichnungen zukommen zu lassen, die

Sollten Sie Madeline erneut behelligen, werde ich nicht davor zurückschrecken, Zeugen anzuführen, die beschwören können, dass Ihr Sohn nicht Ihr rechtmäßiger Erbe ist. Und die Wahrheit über seine Mutter dürfte Ihrem Ansehen ebenso schaden wie ihm selbst. Außerdem werde ich dann diese ganze Geschichte öffentlich bekannt machen, bei der Ihre Familie eine so furchtbare und teuflische Rolle spielte. Wenn Sie uns jedoch, wie vereinbart, auch künftig nicht weiter nachstellen, werden Miss Brown und meine Wenigkeit das Thema nicht weiter vertiefen. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht an Howard denkt.

 

Ergebenst,

Thomas Young, Detective Inspector

Metropolitan Police, London

»Was wohl in all den Büchern steht?«, überlegte Charlotte laut und beugte sich über die alte Truhe.

»Das werden wir gleich wissen«, erklärte Zoe und griff nach dem ersten verstaubten Band in der Kiste. Sie begann, laut zu lesen.