Liverpool und Fleetwood, September 1839
Als Madeline in Fleetwood ankam, stand die Sonne hoch am Himmel und sie spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief. Es wurde Zeit, dass der Herbst kam und es allmählich kühler wurde. Sie zog den Fächer aus ihrer Tasche und wedelte sich Luft zu. Dann stieg sie aus der Droschke und blieb vor dem Pfarrhaus stehen, das verschlafen in der Mittagssonne lag. Sie wusste, dass Gerald selten in seinem Haus anzutreffen war, und beschloss, zunächst in der Kirche nach ihm zu suchen. Auf dem kleinen Friedhof, der um die Kirche herum angelegt war, standen viele alte und teilweise schon verwitterte Grabsteine. Langsam ging Madeline auf das schlichte weiße Gebäude mit dem Glockenturm zu. Um sie herum summten die Bienen, und Schmetterlinge flatterten im Wind. Der Duft der wilden Rosen, die an einem Spalier an der Kirchenmauer wuchsen, stieg ihr in die Nase.
Madeline hatte gerade die Hand ausgestreckt, um die schwere Eichentür zu öffnen, als sie innehielt. An der Tür war mit einem Nagel ein großes Plakat angebracht, auf dem zur September-Andacht eingeladen wurde. Madeline starrte entsetzt auf den Nagel. Mit einem Mal sah sie Molly vor sich, festgenagelt auf den Dielen ihres Zimmers. Trotz der Hitze war ihr plötzlich kalt. Es waren genau solche Nägel gewesen, mit denen ihre Freundin festgenagelt worden war. Madeline zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf. Vermutlich waren ihre Nerven so strapaziert, dass sie Zusammenhänge sah, die es gar nicht gab. Widerstrebend öffnete sie die Tür und betrat die Kirche. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es roch nach Kerzenwachs, Rauch und Blumen.
»Pfarrer Farwell?«, rief sie und lauschte dem Echo ihrer Stimme. »Gerald?«
Es blieb ruhig. Sie durchquerte das Kirchenschiff. Niemand war zu sehen. Zaghaft klopfte sie an die Tür zur Sakristei. Auch dieser Raum war leer. Madeline verließ die Kirche wieder und ging zurück zum Pfarrhaus. Sie wollte sich gerade bei seinem Hausmädchen nach dem Pfarrer erkundigen, als ihr die Krypta hinter dem Garten des Pfarrhauses einfiel. Diese alte Felsenhalle stammte angeblich aus dem Mittelalter, war aber seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden. Madeline erinnerte sich daran, dass John und sie früher dort gespielt hatten, bis Gerald den Raum zu seiner Andachtsstätte erklärt hatte. Er war schon als Jugendlicher oft dorthin gegangen, um zu beten.
Madeline spazierte also über den Kiesweg des Pfarrgartens bis zur Mauer am Ende der Wiese. Die Rosen und Sonnenblumen blühten in voller Pracht, und am Himmel hatten sich ein paar Schönwetterwölkchen unter das tiefe Blau gemischt. Der sanfte Sommerwind umspielte ihren Strohhut, und einen Moment lang genoss Madeline den Frieden der Natur. Sie setzte sich auf die niedrige Mauer und schwang, wenig damenhaft, die Beine hinüber. Dann folgte sie dem schmalen Pfad dahinter. Immer wieder blieben Brombeerranken und Kletten an ihrem Kleid hängen. Vorsichtig versuchte sie, den fliederfarbenen Leinenstoff von den Dornen zu befreien, ohne den Stoff zu beschädigen. Als Kind waren ihr diese Beschwernisse gar nicht aufgefallen.
Madeline kämpfte gerade mit einem besonders hartnäckigen Zweig, als sie plötzlich zusammenfuhr. Schmerzensschreie zerstörten die Stille des Sommertages. Hastig riss sie sich von dem Brombeerzweig los und folgte dem Stöhnen. Die Schreie wurden immer lauter. Und dann war ein Geräusch zu hören. Es klang wie das Knallen einer Peitsche. Ketten klirrten. Madelines Herz schlug wild gegen ihre Rippen, sie schauderte. Kurz dachte sie darüber nach, zu fliehen. Aber vielleicht brauchte da jemand ihre Hilfe. Hektisch sah sie sich nach einem starken Ast um, den sie als Waffe benutzen konnte, aber außer den Dornenbüschen und dünnen Zweigen war hier nichts zu finden. Madeline huschte durch das Dickicht, immer den Schmerzensrufen nach, die sie zu der alten Krypta führten. Wenig später fand sie sich vor dem Gittertor wieder, das weit offen stand. Madeline starrte auf das Bild, das sich ihr bot. Einen Moment lang begriff sie nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Gerald kniete nackt vor dem Altar mit dem großen Kreuz, eine schwere Eisenkette um den Hals, und peitschte sich auf den Rücken. Durch die kräftigen Hiebe platzte seine Haut auf und das Blut spritzte. Madeline schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Voller Schrecken beobachtete sie die Szene, unfähig sich zu rühren. Ihr war übel.
»Schmutziger Sünder!«, stöhnte Gerald zwischen den Peitschenhieben. »Oh Herr, nimm mein Opfer an, reinige mein Fleisch von der Sünde!«
Dann hallten erneut Schmerzensschreie durch die Krypta. Madeline stand wie gelähmt da.
»Vermaledeiter Sünder! Verwerflicher! Schwacher!«, stöhnte Gerald und ließ den Lederriemen immer wieder mit voller Wucht über seinen Rücken fahren.
Madeline wandte den Blick ab. Wie entsetzlich! Sie sah sich in der Krypta um. Niemand sonst war hier, nur der Pfarrer. Aber wieso tat er das? Warum verletzte er sich?
Sie drehte sich weg und hastete durch die Schlingpflanzen zurück zur Gartenmauer. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, zitterte sie so heftig, dass sie mehrere Anläufe brauchte, bis sie sich endlich auf die andere Seite geschwungen hatte. Dann stolperte sie eilig zurück zum Haus, auf die Straße und zu ihrer Droschke. Fluchtartig sprang sie hinein und erteilte dem erschrockenen Fahrer die Anweisung, sie nach Liverpool zurückzubringen.
Als John am Abend in den Salon kam, hatte Madeline sich noch immer nicht beruhigt. Sie sah Gerald vor sich, seine aufgeplatzte Haut, das Blut, das auf den Boden der Krypta spritzte. Und in ihren Ohren klangen noch immer die Schreie. Je länger sie darüber nachdachte, umso überzeugter war sie, dass alle ihre Beobachtungen irgendwie miteinander zusammenhingen. Das schockierende Verhalten des Pfarrers, der Nagel an der Kirchentür, die Person in der Nacht auf der Straße, die Gerald so ähnlich gewesen war, das tote Mädchen am Morgen …
»Was ist los?«, fragte John, als er ihr blasses Gesicht bemerkte, und setzte sich neben sie auf das Sofa.
»Gerald«, presste Madeline hervor. »Ich glaube, er hat etwas mit den Morden an den Frauen zu tun.«
Der Earl zuckte zurück. Einen Moment lang sah er sie verständnislos an. Dann sagte er: »Rede keinen Unsinn, Madeline.« In seinen Augen blitzte Wut auf. »Ich verbiete dir, so etwas auch nur zu denken.«
Madeline schlug die Hände vors Gesicht und sank auf dem Sofa zurück. »Ich habe heute etwas Schreckliches gesehen.« Sie berichtete John, was sie beobachtet hatte. Als sie geendet hatte, stand er auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Lange Zeit sagte er nichts, dann blieb er stehen und sah sie ernst an.
»Zunächst einmal gehört es sich nicht, meinem Bruder hinterherzuspionieren«, begann er in einem strengen Ton.
»Das habe ich doch gar nicht getan«, unterbrach Madeline ihn empört. »Ich habe nur auf ihn gewartet, um ihn etwas zu fragen. Und dann habe ich mich an die Krypta erinnert, und zufällig war er dort, aber … Es war schrecklich, John.«
Der Earl hob die Hand. »Wir sind keine Kinder mehr, und dort herumzustreunen ziemt sich nicht. Man könnte ja fast meinen, du wärst zu einem Stelldichein gewesen.«
»Was für ein Unsinn …«
»Nein, Madeline, jetzt rede ich.« John ging einen Schritt auf das Sofa zu, auf dem Madeline nach wie vor saß. »Und was du gesehen hast, ist nur eine Selbstkasteiung. Eine gängige Praxis unter Geistlichen.«
»Ja, unter Geistlichen des Mittelalters vielleicht. Aber wir leben im neunzehnten Jahrhundert!«
»Lass mich bitte aussprechen.« John baute sich drohend vor ihr auf, die Hände in die Hüften gestützt. »Du weißt, wie wichtig der Glaube für Gerald ist. Er nimmt das alles sehr ernst und deshalb geißelt er sich.«
»Und warum schreit er, dass er ein schmutziger Sünder sei?«, fragte Madeline und rutschte weiter auf dem Sofa zurück.
»Was weiß ich? Das ist seine Privatangelegenheit und geht uns nichts an. Vermutlich hatte er unreine Gedanken, vielleicht hat er davon geträumt, dir unters Kleid zu schauen.« John grinste anzüglich und streckte seine Hand nach Madeline aus.
Sie wich ihm aus. »Nein, John, ich habe Gerald gestern Abend in der Stadt gesehen. Und heute Morgen wurde wieder eine tote Frau gefunden. In der Kirchentür steckt genauso ein Nagel, wie er auch bei den toten Frauen verwendet wurde – und Gerald bezeichnet sich selbst als schmutzigen Sünder.«
»Du hättest gestern Abend gar nicht draußen unterwegs sein dürfen!« John setzte sich wieder neben sie auf das Sofa und griff nach ihren Oberarmen. »Ich habe dir doch deutlich gesagt, dass ich das nicht möchte.«
Madeline versuchte, seine Hände abzuschütteln, was ihr jedoch nicht gelang. »Aber es unternimmt ja niemand sonst etwas. Wenn ich nicht die Augen offen halte, kann dieser Wahnsinnige ungestraft weiter morden.« Tränen der Wut traten in ihre Augen. Warum verstand John sie nicht?
»Das ist nicht deine Angelegenheit«, sagte der Earl und sein Griff um ihre Oberarme verstärkte sich, sodass sie vor Schmerz zusammenfuhr. »Ich verbiete dir, abends aus dem Haus zu gehen. Du bleibst hier oder ich werde dich bewachen lassen.«
»Willst du mich etwa einsperren?«, fragte sie entsetzt und verzog dann sarkastisch den Mund. »Das, John, ist sogar unter deiner Würde.«
»Wenn es deiner Sicherheit dient und der meines Kindes, bin ich dazu bereit.« Er drehte sie um. »Und jetzt leg dich hin und denk nicht mehr an Gerald und die toten Dirnen.«
Madeline starrte ihn an. »Ich werde nicht mit dir schlafen, solange du mich nicht ernst nimmst.«
»Das entscheide immer noch ich!«
Er stieß sie aufs Sofa und stürzte sich auf sie. Madeline schrie auf und versuchte, ihn von sich abzuschütteln, aber John war stärker. Madeline krümmte sich vor Schmerz, doch er drang wie besessen in sie ein. Sie stemmte ihre Hände gegen seine Brust, aber John drückte sie zurück in die Sofakissen. Sein Gesicht wirkte plötzlich hart und gefühllos, sein Stöhnen schien sie zu verhöhnen.
Tränen liefen ihr über die Wangen. Schließlich stand John auf und sie wandte angewidert ihr Gesicht ab.
Während er seine Kleidung zurechtrückte, erklärte er: »Ich werde von jetzt an anders mit dir umgehen müssen, Madeline. Ganz eindeutig habe ich dir zu viele Freiheiten gewährt und du hast vergessen, wem du gehörst.«
Madeline zog zitternd die Röcke über ihre Oberschenkel und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. »Ich gehöre dir nicht, du bist nicht mein Ehemann. Gott sei Dank!«
»Nein, das stimmt, aber das alles hier ist meins.« Er machte eine weit ausgreifende Handbewegung und knöpfte dann sein Hemd zu. »Und solange du diese Annehmlichkeiten genießen willst, gehörst auch du mir.« Er zog seinen Rock über und strich sich über das Haar. »Und das bedeutet, dass du genau das tun wirst, was ich von dir verlange.« Als er an der Tür war, drehte er sich noch einmal um. »Und wenn ich erfahre, dass du dich wieder nachts auf der Straße herumtreibst, werde ich dich einschließen und bewachsen lassen.«