Liverpool, November 1839
Guten Tag, Senior Police Officer Whittey«, sagte Thomas mit einer leichten Verbeugung und reichte dem weißhaarigen Mann die Hand. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen, nachdem ich von Drew erfahren habe, dass Sie mich sprechen wollen.«
Der Officer deutete auf den Ledersessel, der ihm gegenüber vor dem vollen Schreibtisch stand. »Inspector Young, bitte nehmen Sie Platz.«
Thomas sah sich in dem Büro um. Seit seinem letzten Besuch vor ein paar Tagen waren weitere Aktenstapel dazugekommen. Alles deutete darauf hin, dass Whittey ein gut beschäftigter Mann war. Die Schränke, die an allen vier Wänden des kleinen Raums standen, waren mit Aktenordnern gefüllt, und auf einem Tisch in der Ecke lagen Stöße von dicht beschriebenem Papier.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie den Earl of Wooverlough belästigen«, sagte Whittey und zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe Sie aus London hergeholt, damit Sie den Raubüberfall bestätigen, und nicht, um Gespenster zu jagen.«
»Ich versuche, den Mord an Gerald Farwell aufzuklären«, entgegnete Thomas. »Und ich bezweifle, dass es sich um einen Raubüberfall mit Todesfolge handelt. Deshalb kann ich Ihren Bericht auch nicht ruhigen Gewissens unterzeichnen.«
Whittey nahm die Pfeife, die auf dem Tisch gelegen hatte, und begann sie zu stopfen. »Seien Sie bitte äußerst diskret, was die Wooverloughs betrifft«, sagte er. »Sie sind eine der einflussreichsten Familien hier, und wir können es uns als Behörde nicht leisten, sie gegen uns aufzubringen.«
Thomas schob unauffällig ein paar Akten zur Seite, um den Senior Police Officer besser sehen zu können. »Ich wundere mich, dass der Earl meine Untersuchungen als Belästigung empfindet. Er selbst sollte doch das größte Interesse an der Aufklärung des Mordes haben.«
»Das bedeutet aber nicht, dass Sie ihn verhören können, als wäre er ein Verdächtiger.« Whittey griff nach den Streichhölzern. »Die Wooverloughs sind über jeden Verdacht erhaben. Bitte lassen Sie sie von Ihren Ermittlungen unberührt.«
Thomas musste dem Drang widerstehen, den Pfeifenrauch mit der Hand wegzuwedeln. In dem mit Akten vollgestopften Zimmer hatte er auch so schon das Gefühl, kaum atmen zu können. Wie hielt Whittey es hier nur den ganzen Tag aus?
»Ich muss mir ein Bild des Verstorbenen machen«, sagte er, »und da ist seine Familie eine wichtige Quelle. Und nur weil der Earl der Bruder des Opfers ist, bedeutet das nicht automatisch, dass er unschuldig ist.«
»Doch, Young, das bedeutet es. Die Wooverloughs sind unschuldig, davon ist auszugehen.« Whittey zündete die Pfeife an.
Thomas lächelte so freundlich, wie es ihm in dieser Situation möglich war. »Bei allem Respekt, Senior Police Officer, aber ich kann niemanden von vornherein ausschließen. Zumal es auffällige Verbindungen zu den Morden an den Dirnen gibt.«
»Die Dirnen? Was haben die denn mit dem Tod von Pfarrer Farwell zu tun?« Whittey zog an seiner Pfeife.
»Miss Brown, die Geliebte des Earls, hat diese Frauen fast alle gekannt und sie ist mit Gerald Farwell zusammen aufgewachsen. Das erscheint mir äußerst interessant.«
Mr Whittey sah Thomas streng an. »Auch Miss Brown lassen Sie bitte in Ruhe. Der Earl hat sich bei mir beschwert, dass Sie sich an Madeline Brown und ihm selbst festzubeißen scheinen, während der wahre Mörder seines Bruders frei herumläuft.« Er klopfte seine Pfeife im Aschenbecher aus.
»Warum haben Sie nicht schon viel früher Hilfe aus London angefordert, bei der Vielzahl von Mordfällen in den letzten Jahren? Es sind inzwischen über zehn Frauen umgebracht worden.« Thomas lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Mr Whittey, das war ein unerklärliches Versäumnis. Sie und Ihre Männer haben die Augen verschlossen. Hier in Liverpool läuft ein Serienmörder herum, aber erst als ein Mitglied der Gesellschaft ermordet wurde, haben Sie etwas unternommen.«
»Hören Sie, Young, ich werde mir von Ihnen keine Vorwürfe anhören. Und ich gebe Ihnen einen guten Rat: Der Earl ist eng befreundet mit Sir Robert Peel, dem Begründer Ihrer Polizeibehörde. Ich weiß, dass er nicht zögern wird, offiziell bei Sir Peel Beschwerde einzulegen, wenn Sie sich weiter auf ihn und Miss Brown konzentrieren. Dann können Sie einpacken, Inspector. Er wird Sie suspendieren lassen.«
Thomas stand auf. »Ich bin der Wahrheit verpflichtet und werde so lange ermitteln, bis ich den Verantwortlichen gefunden habe.«
Als Thomas ins Polizeirevier zurückkam, hatte er sich immer noch nicht beruhigt. Die Unterwürfigkeit, die der Senior Police Officer dem Earl gegenüber an den Tag legte, brachte ihn zur Weißglut. Und wieso waren die Morde an den Frauen so lange ignoriert worden?
»Sir«, Twicklehurst stand auf, als Thomas die kleine Polizeiwache am Hafen betrat, »was gibt es Neues?«
Der Inspector berichtete den beiden Constables von seinen Entdeckungen am gestrigen Tag in Fleetwood und von seinen Gesprächen mit dem Earl und Whittey.
»Wir sind in einer Sackgasse gelandet«, stellte Green fest. »Und wenn wir uns jetzt auch noch vom Earl und von Miss Brown fernhalten müssen …«
»Wir werden uns Drew und seine Männer noch einmal vornehmen«, sagte Thomas mit grimmigem Gesichtsausdruck. »Wo sind die überhaupt?«
»Sie waren heute Morgen kurz hier und sind dann gleich wieder verschwunden. Soll ich in den umliegenden Pubs nach ihnen suchen?«, fragte Twicklehurst.
Thomas nickte verärgert und wandte sich dann der kleinen Kochplatte im hinteren Raum der Polizeiwache zu, um Tee aufzusetzen.
Er hatte gerade den starken Tee in der Blechkanne fertig, als Twicklehurst mit Drew und Miller zurückkehrte. Wie Thomas vermutet hatte, stanken die beiden Polizisten nach Schnaps, und ihre Dienstkleidung ließ zu wünschen übrig. Die Hemden hingen ihnen aus der Hose, die Röcke waren fleckig und die Hosen so staubig, dass sie dringend eine Wäsche brauchten. Thomas schenkte den beiden Tee ein und befahl ihnen, die Tassen zu leeren. Dann setzte er sich ihnen gegenüber an den wackeligen Holztisch.
»So, jetzt möchte ich noch einmal alles über die Morde an den Frauen hören«, begann er. »Denken Sie nach. Was fällt Ihnen ein?«
Drew sah ihn mit müden Augen an. »Was soll uns dazu noch einfallen?«
»Wir wissen nichts, Sir!«, erklärte Miller, der ängstlich zu Thomas’ Constables hinübersah.
Der Inspector seufzte. »Sie haben also die Frauen gefunden und nichts unternommen? Sie haben keine Nachbarn befragt und sich in den Wohnungen der Mädchen auch nicht umgesehen? Gab es denn keinerlei Zeugen? Niemanden, der etwas beobachtet hat?« Er dachte an die Nachbarin der Näherin, die den Schatten gesehen hatte. Vermutlich hätte es noch viele andere Hinweise gegeben, wenn die Polizisten ihre Arbeit ordentlich erledigt hätten.
»Nur Miss Brown«, sagte Miller jetzt.
»Miss Brown?«, fragte Thomas erstaunt. »Was meinen Sie?«
Der Mann gähnte und hob dann die Schultern. »Sie hat sich wie eine Furie aufgeführt. Mitten in der Nacht, als ich Nachtwache hatte, kam sie in meine Hütte gestürzt und hat behauptet, sie hätte einen Mord beobachtet und dass der Pfarrer …« Miller verstummte, als Drew den Finger an die Lippen legte.
»Sie wollen sagen, dass Madeline Brown den Mord an dem Pfarrer beobachtet hat?«, hakte Thomas nach, der plötzlich gar nichts mehr verstand. Warum hatte Madeline ihm nichts davon erzählt?
Miller schüttelte den Kopf und sah zu Drew hinüber, der jetzt unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »Nicht den Mord an dem Pfarrer. Sie hat den Mord an einem der Mädchen gesehen. Im Oktober. Die tote Näherin.«
Thomas sprang auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischkante. Er beugte sich vor und sah den Mann ungeduldig an. Herrje, diesem Kerl musste man alle Informationen einzeln aus der Nase ziehen! »Miss Brown hat also den Mörder gesehen?«
Miller nickte, machte aber keine Anstalten fortzufahren. Plötzlich schien er sich sehr unwohl zu fühlen.
Thomas gab seinen Constables ein Zeichen, die sich bedrohlich neben dem Polizisten aufbauten.
Doch bevor sie Hand anlegen konnten, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus: »Es war mitten in der Nacht, ich schlief friedlich auf dem Boden meiner Hütte, als Miss Brown mich wachrüttelte. Sie war völlig außer sich und behauptete, Pfarrer Farwell sei unser Mörder und habe gerade eben ein Mädchen erwürgt.«
Drew schnaubte.
Thomas fuhr herum. »Warum haben Sie uns nichts davon gesagt? Ich habe doch wahrlich oft genug nachgefragt.«
»Wir hatten eine Anweisung von oben«, erklärte Drew und zog die Nase hoch. »Als wir am nächsten Tag nachgesehen haben, war die Frau tatsächlich tot und …«
»Am nächsten Tag?« Thomas schüttelte fassungslos den Kopf. »Da kommt eine Zeugin und meldet ein Schwerverbrechen, und Sie lassen sich ganze vierundzwanzig Stunden Zeit, bis Sie nachsehen?«
Drew zog eine Grimasse. »Na ja, er war eben allein in seiner Wachhütte … Er konnte ja schlecht alles stehen und liegen lassen. Und wir sind sofort nachschauen gegangen, als er uns am nächsten Morgen davon erzählt hat.«
»Er war wohl eher so besoffen, dass er nicht gerade gehen konnte«, fauchte Thomas, den die Unfähigkeit der Polizisten immer wütender machte. »Haben Sie Pfarrer Farwell zur Rede gestellt?«
»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte Drew. »Aber er hat steif und fest behauptet, dass er die ganze Nacht im Bett lag. Da haben wir die Sache fallen gelassen.«
Thomas wandte sich ab, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
Miller fügte hinzu: »Das Wort eines Kirchenmannes stand gegen das einer Dirne. Und es war doch vollkommen unwahrscheinlich, dass der Pfarrer diese Frauen getötet hat.«
»Am Ende kam noch Whitteys Anordnung, die Wooverloughs in Ruhe zu lassen«, ergänzte Drew. »Was hätten wir da machen sollen?«
»Und dann wird der Pfarrer getötet und Sie sehen keinen Zusammenhang?« Thomas lachte bitter auf. »Sind Sie denn nicht mal eine Sekunde lang auf die Idee gekommen, mir davon zu berichten?«
Beide Polizisten schüttelten den Kopf. Drew murmelte: »Das schien uns nicht wichtig zu sein.«
Thomas schnaubte und wandte sich zur Tür. »Twicklehurst und Green, Sie nehmen die Aussagen der beiden hier zu Protokoll, und dann schauen Sie, was ihnen noch alles einfällt. Ich muss etwas mit Miss Brown klären.«
Als er bei Madelines Haus ankam, öffnete das Hausmädchen, noch bevor Thomas angeklopft hatte. Sie führte ihn in den Salon, wo Madeline auf dem Sofa saß.
»Sie haben mir verschwiegen, dass Sie schwere Anschuldigungen gegen den Pfarrer erhoben haben«, sagte Thomas statt einer Begrüßung.
Madeline schloss die Augen. »Ich hielt es nicht für relevant.«
Thomas atmete tief durch. Seine Stimme war ungehalten, als er sprach. »Sie sind mitten in der Nacht in eine der Wachhütten gestürmt und haben behauptet, einen Mord beobachtet zu haben. Sie haben sogar den Mörder erkannt. Es war der Mann, der später selbst getötet wurde. Und das hielten Sie nicht für relevant?«
Madeline ließ den Kopf zurücksinken und legte die Hand an die Stirn. »Hören Sie, Thomas, mir geht es heute nicht gut. Können wir vielleicht ein anderes Mal darüber sprechen?«
»Nein, das können wir nicht.« Er setzte sich in den Sessel, der gegenüber dem Sofa stand. Madeline sah wirklich elend aus. »Was fehlt Ihnen denn?«
»Meine Schwangerschaft bekommt mir nicht.« Sie legte die Beine aufs Sofa und Thomas wandte sich diskret ab.
»Ach ja.« Wie hatte er das vergessen können? »Sie sind … ähm … Sie …« Er brach ab, als er merkte, dass er rot geworden war.
»Ja, ich bin in anderen Umständen. Das hatte der Earl sich schon seit Langem gewünscht. Auch wenn ich ihm keinen offiziellen Erben gebären kann.« Madeline strich sich müde übers Gesicht. »Und ich habe gedacht, dass ich ihn auf diese Weise langfristig an mich binden kann. Allerdings bin ich inzwischen anderer Meinung. Ich will ihn loswerden, aber er lässt mich nicht gehen.«
»Wie meinen Sie das?« Thomas lehnte sich in seinem Sessel nach vorn.
»Er sieht mich als sein Eigentum an und glaubt, ich müsste ihm Tag und Nacht zu Diensten sein.«
Thomas betrachtete Madeline. Sie war die schönste Frau, die er kannte, aber diese Schönheit war sicher auch ein Fluch. Wäre sie weniger hübsch, hätte sie heute vielleicht einen liebenden und fürsorglichen Ehemann, statt in einer unwürdigen Beziehung an einen gefühllosen Earl gekettet zu sein. Thomas stellte ärgerlich fest, dass Miss Brown ihn schon wieder meisterhaft vom Thema abgelenkt hatte.
»Zurück zum eigentlichen Grund meines Besuchs«, sagte er hastig. »Was haben Sie in jener Nacht gesehen?«
Sie stützte den Ellbogen auf die Sofalehne und legte ihren Kopf in die Hand. »Vermutlich habe ich mir das alles nur eingebildet. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Gerald die ganze Nacht im Bett gelegen hatte.«
»Gab es dafür einen Zeugen?«
»Natürlich nicht.« In Madelines Augen loderte Wut auf. »Aber das Wort des Pfarrers zählt mehr als das einer Frau. Und erst recht mehr als das einer Dirne.«
»Wie sicher sind Sie sich, Madeline, dass Sie wirklich Gerald Farwell bei dem Mord beobachtet haben?«
Sie sah ihn lange an, ohne zu antworten. Wahrscheinlich überlegte sie, wie viel sie ihm verraten durfte. Wurde sie etwa unter Druck gesetzt? Wenn Whittey seinen Leuten befohlen hatte, die Wooverloughs in Ruhe zu lassen, dann hatte sicher der Earl persönlich seiner Geliebten den Mund verboten.
»Ich habe ihn gesehen«, sagte Madeline schließlich. »So klar, wie ich Sie jetzt hier vor mir sehe, Thomas.«