Liverpool, Oktober 1839
In den nächsten Wochen ertrug Madeline Johns Besuche nur noch widerwillig. Immer wenn sie die Kutsche vorfahren hörte, wäre sie am liebsten davongelaufen. Aber sie wusste, dass es keine Rettung für sie gab, denn das Leben, das die Dirnen der Stadt führten, war noch viel weniger erstrebenswert, und ein anderer Ausweg aus ihrer schwierigen Situation fiel ihr nicht ein. John hatte stets dafür gesorgt, dass die Speisekammern gefüllt und genügend Personal, Holz und Komfort vorhanden waren. Und doch ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie stundenlang darüber nachgrübelte, welche Möglichkeiten sich boten, diesem Schicksal zu entkommen. John hatte sämtliche Zärtlichkeit abgelegt, kam, um möglichst schnell seine Lust zu befriedigen, und befahl Madeline, alles dafür zu tun, um bald sein Kind zu tragen. Und tatsächlich war im September Madelines Blutung ausgeblieben. Diese Gegebenheit nahm sie mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis und berichtete sofort John davon, der zufrieden schnaubte. Wenn sie jedoch gehofft hatte, dass er nun nicht mehr so oft kommen würde, musste sie schnell erkennen, dass das ein Trugschluss war. Und gleichzeitig fühlte sie sich nun noch mehr an ihn gefesselt.
Stundenlang grübelte sie über ihre Beobachtungen nach, die sie vor dem Mord an der Näherin gemacht hatte. War es wirklich Gerald gewesen, den sie an dem Abend gesehen hatte? Je mehr Zeit verging, umso sicherer war sie sich. Diese Begegnung und dazu seine Sebstkasteiung und der verdächtige Nagel in der Kirchentür, brachten Madeline zu der Überzeugung, dass der Pfarrer mehr mit den Morden zu tun hatte, als John glauben wollte. Sie erwähnte ihrem Gönner gegenüber nichts mehr von ihren Vermutungen. Aber es machte sie beinahe verrückt, wenn sie daran dachte, dass Gerald bereits sein nächstes Opfer ins Visier nahm, während die Polizisten in ihren Wachhütten schliefen. Nachts wälzte Madeline sich unruhig in ihrem Bett und lauschte in die Stille hinaus. Sie wartete geradezu darauf, die Schreie der Frau zu hören, die als Nächstes erwürgt wurde. Nein, Madeline würde nicht tatenlos dabei zusehen. Die Polizisten kümmerten sich nicht darum, also musste sie selbst versuchen, den Verbrecher dingfest zu machen.
Diesmal konnte sie gezielt vorgehen, da sie einen konkreten Verdacht hatte. Madeline rechnete die Wochen nach, die seit dem Mord an Edwina, Anfang September, vergangen waren. Mitte Oktober beschloss sie, dass es an der Zeit war, ihre nächtlichen Kontrollgänge wiederaufzunehmen. Wenn der Mörder erneut zuschlagen würde, musste es irgendwann in den nächsten Tagen geschehen. Also ließ sie sich mit einer Droschke zu der Landstraße fahren, die von Fleetwood nach Liverpool führte, und legte sich, hinter einem Mauervorsprung verborgen, einige Abende lang auf die Lauer. Doch nichts geschah. Nacht für Nacht schlich sie sich, durchfroren und müde, in den frühen Morgenstunden wieder zurück in ihr Bett, wo John sie meist noch vorfand, wenn er später bei ihr vorbeikam.
Inzwischen waren mehr als zwei Wochen vergangen, und auch heute saß sie seit neun Uhr abends an der Landstraße. Gerade eben hatte die Kirchturmuhr elf geschlagen, ihr war entsetzlich kalt und sie wurde langsam müde. Um sich etwas aufzuwärmen, trat sie von einem Bein aufs andere und bewegte ihre Finger in dem Muff, der um ihren Hals hing. Der Geruch von Kaminfeuern lag in der Luft. In der Ferne hörte sie vereinzelte Schiffssirenen und vorbeiklappernde Pferdehufe. Sie starrte in die Dunkelheit.
Da war ein Schatten auf der anderen Straßenseite zu erkennen. Madeline hielt den Atem an. Einem Moment lang glaubte sie, sich geirrt zu haben, aber dann sah sie es ganz deutlich. Jemand drückte sich an der Mauer entlang. Sie wich noch weiter in die Ecke zurück, in der sie sich verbarg. Ihr Versteck lag gegenüber der alten Poststation, im Licht der Laternen, die hier auf beiden Seiten der Straße standen, hatte sie einigermaßen gute Sicht. Als die Gestalt nun in die Nähe des Lichtscheins kam, zog sie sich den Hut tiefer ins Gesicht. Dennoch konnte Madeline allein durch die vertraute Haltung, den Gang und die hagere Statur sicher sein, dass es sich um Gerald handelte. Er huschte beinahe lautlos über das Kopfsteinpflaster. Madeline ließ ihm einen Vorsprung von etwa zwanzig Fuß, bis sie die Verfolgung aufnahm. Schnell merkte sie, wie unüberlegt sie gehandelt hatte. Sie hatte nicht daran gedacht, dass die Straße über lange Abschnitte durch vollkommene Dunkelheit führte. Stellenweise konnte sie nicht einmal die Hand vor Augen sehen, geschweige denn die Gestalt vor sich. Die Straße führte jedoch in die Stadt, und Madeline hoffte, seine Spur dort nicht zu verlieren. Und mit einem Mal erschienen ihr ihre eigenen Schritte so laut wie Kanonendonner.
Sie blieb stehen und schlüpfte aus den Schuhen. Dann lief sie in ihren teuren Strümpfen über das Pflaster. Jetzt war sie so leise wie eine Katze. Sie atmete erleichtert auf, als sie an einer kleinen Fabrik vorbeikamen, an der eine Fackel brannte, und sie einen kurzen Blick auf die Gestalt vor sich werfen konnte. Noch war sie ihm also auf den Fersen und er schien sie bislang nicht bemerkt zu haben. Sie versuchte, einen großen Bogen um die Laterne zu machen, was ihr aber nicht ganz gelang. Sie konnte nur hoffen, dass Gerald sich nicht ausgerechnet in diesem Moment umdrehte und sie sah.
Madeline eilte, so schnell es ging, weiter. Ihr Herz klopfte wie wild in ihrer Brust. Als sie endlich die ersten Lichter der Stadt sah, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Gerald war noch immer vor ihr, wenn auch schwer auszumachen, da er sich geschickt in der Finsternis verbarg. Sein Weg führte zum Hafen, wie Madeline es angenommen hatte. Die Frauen waren immer in der Nähe der Docks angesprochen worden. Eine Weile drückte er sich im Schatten eines Kontors herum. Seemänner kamen vorbei, ohne ihn zu bemerken. Ein Fuhrmann führte sein Gespann die Straße entlang. Die Pferdeäpfel dampften in der Kälte. Plötzlich hörte Madeline das Lachen von Frauen. Kurze Zeit später sah sie eine Gruppe Menschen um die Ecke biegen.
Sie hielt den Atem an. Ob er auf eine dieser Frauen zugehen würde? Aber sie passierten ungestört das Kontor und nichts geschah. Die Kirchturmuhr schlug halb eins. Lange Zeit regte sich nichts mehr, und Madeline fragte sich schon, ob der Mann, den sie für Gerald Farwell hielt, weitergegangen war, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie konnte ihn in der Schwärze der Nacht nicht mehr ausmachen.
Doch dann bog plötzlich eine weibliche Gestalt um die Hausecke. Ihre Röcke wehten im Wind. Und in diesem Moment löste sich der hagere Schatten von der Mauer des Kontors.
Madeline beobachtete mit pochendem Herzen, wie sie sich leise unterhielten. Sie hörte das Mädchen lachen. Angst stieg in ihr auf. Sie widerstand dem Drang, zu den beiden hinzulaufen und dem Mädchen zuzurufen, sie solle verschwinden. Aber wenn sie Gerald überführen wollte, musste sie abwarten und sehen, was sie noch herausfinden konnte. Sie brauchte Sicherheit, ob es wirklich der Pfarrer war, der die Frauen umbrachte.
Während Madeline weiter wartete, trat sie unruhig von einem Bein aufs andere. Ihre Zehen waren schon taub vor Kälte. Die junge Frau und der Schatten unterhielten sich noch immer. Schließlich schlenderten sie den Gehweg hinunter, die Frau im Licht, lachend und schäkernd, ihr Begleiter im Dunkeln, leise und beinahe unsichtbar. Madeline war sich sicher, dass er noch immer auf der Hut war. Wenn sie jetzt unvorsichtig wurde, würde er sich umsehen und sie entdecken.
Sie folgte den beiden in einigem Abstand. Sie bogen in die Old Hall Road ein und wechselten auf die andere Straßenseite. Der Mann, von dem Madeline annahm, dass es Gerald Farwell war, huschte sofort wieder in den Schatten. Madeline wartete, bis sie ein Stück weit entfernt waren, und eilte dann ebenfalls hinüber. Sie beschleunigte ihre Schritte, um wieder näher zu ihnen aufzuschließen, und sah gerade noch, wie sie in einen Hauseingang einbogen. Madeline blieb stehen und wartete, bis sie sicher war, dass die beiden im Haus verschwunden waren, dann schlüpfte sie leise hinterher. Sie hörte das Kichern der Frau, eine Etage höher. Vorsichtig schlich sie die schmale Treppe hinauf. Der Putz an den Wänden bröckelte ab, sodass die fauligen Holzbalken darunter zu sehen waren.
Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock blieb Madeline stehen. Sie lauschte in die Dunkelheit hinein. Die Stimmen waren jetzt gedämpft. Wieder vernahm sie das Kichern, es kam aus der Wohnung links von ihr. Vorsichtig streckte Madeline die Hand aus und drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Mit angehaltenem Atem blickte sie in das kleine Zimmer dahinter. Es schien sich um einen Wohn- und Schlafraum zu handeln. Auf dem Bett neben dem Fenster kniete die junge Frau und sah neckisch zu ihrem Begleiter auf. Madeline konnte nur den Rücken des Mannes sehen. Er schien zu zögern.
»Komm her«, gurrte das Mädchen und streckte ihre Hand nach ihm aus.
Madeline sah, wie er näher zu ihr ging, sie auf das Bett stieß und sich auf sie legte. Madeline wandte sich ab und hörte ihn wenig später lustvoll stöhnen. Das Mädchen seufzte entzückt auf.
Als Madeline wieder hinsah, hatte er sich schon von ihr zurückgezogen und brachte seine Kleidung in Ordnung. Madeline hielt den Atem an. Was würde jetzt geschehen? Und noch während sie das dachte, war er mit blitzschnellen Bewegungen wieder auf die Frau zugesprungen. Madeline konnte nicht genau sehen, was er tat, aber das Röcheln ließ keinen Zweifel zu. Jetzt stürmte Madeline in das Zimmer und stürzte sich von hinten auf den Mann. Ihr Angriff kam wohl so überraschend, dass er einen Moment von der jungen Frau abließ, die keuchend nach Luft schnappte. Er drehte sich um und versuchte Madeline abzuschütteln, die sich an seinen Schultern festgekrallt hatte. Und da sah sie ihn: Es war eindeutig und ohne Zweifel Gerald Farwell, der Pfarrer von Fleetwood und Johns Bruder!
Nun hatte er es geschafft und Madeline so kräftig zurückgestoßen, dass sie gegen einen Stuhl stieß. Aber er folgte ihr und streckte seine Hände aus, um sie am Hals zu packen. Madeline kreischte, doch er drückte seine Hand auf ihren Mund, sodass ihr Schrei erstickte. Dann glitten seine Finger um ihre Kehle und drückten zu. Madeline bekam keine Luft mehr. Das Zimmer begann, sich um sie zu drehen. Einen Moment lang glaubte sie, nie wieder atmen zu können. Er presste so fest zu, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Mit letzter Kraft riss sie ihr Bein nach oben und traf ihn mit voller Wucht. Er ließ kurz von ihr ab, und das reichte Madeline, um vor ihm zu fliehen und durch die Tür zu verschwinden. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, aber ihr Rachen war so eng, dass sie keinen Laut hervorbrachte. Sie taumelte aus dem Haus, lehnte sich gegen eine Mauer und rang nach Luft. Erschöpft sackte sie in sich zusammen, doch sie wusste, dass sie jetzt keine Zeit hatte. Sie gönnte sich nur wenige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen, und rappelte sich dann mit letzter Kraft hoch.
Mühsam schleppte sie sich die Straße entlang. Hier waren in regelmäßigen Abständen Wachhäuschen aufgestellt, in denen die Polizisten der Nachtwache ihren Dienst taten. Als sie eines dieser Häuschen vor sich sah, beschleunigte sie ihre Schritte. Ihre Lungen brannten, der Hals schmerzte und ihre Beine waren weich. Mit ungeheurer Anstrengung schleppte sie sich die letzten Meter auf die Wache zu. Als sie die Klinke herunterdrückte, war die Tür jedoch verschlossen. Sie hämmerte gegen das Holz, aber aus dem Inneren des Häuschens war kein Laut zu vernehmen. Als sie schon glaubte, dass die Hütte tatsächlich leer sei, und gerade gehen wollte, sah sie durch das Fenster einen Schatten. Wankend erhob sich ein Polizist von seiner Bank, und es dauerte unendlich lange, bis er aufgeschlossen hatte.
»Miss Brown«, murmelte er und riss die geröteten Augen auf. »Was ist denn?«
»Ein Mord! Sie müssen mitkommen. Da geschieht gerade ein Mord!«, keuchte sie heiser.
Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Madeline wich zurück, als sie seinen Alkoholatem roch.
Er fragte: »Wer ist tot?«
»Noch keiner, und wenn Sie sich beeilen, können wir es hoffentlich verhindern.«
»Langsam.« Er schien noch immer nicht zu begreifen. »Was ist passiert?«
»Gerald Farwell ist der Mörder. Er hat gerade versucht, eine Frau zu erwürgen. Ich musste sie zurücklassen, weil er auch mich töten wollte. Jetzt kommen Sie endlich!«
Der Mann, der Miller hieß, wenn Madeline sich richtig erinnerte, hob die Hand. Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er strauchelte und gegen die Rückwand der Wachhütte fiel.
Panik stieg in Madeline auf, sie wusste, dass das Leben der Frau in größter Gefahr war. »Verdammt, jetzt bewegen Sie sich endlich!«
»Ich kann meine Wachhütte hier nicht unbeaufsichtigt lassen«, sagte er und deutete hinter sich. »Ich bin für diesen Straßenabschnitt zuständig.«
»Aber Sie sind doch dafür da, Verbrechen zu verhindern. Wozu sollten Sie sonst hier Wache halten?« Madelines Stimme klang schrill, sie hörte selbst die Angst, die in ihr wütete.
»Ich kann hier nicht fort«, beharrte der Mann, und um seine Worte zu unterstreichen, ließ er sich wieder gegen die Wand sinken und schloss die Augen.
Madeline fluchte und rannte davon. Die Straßen waren ausgestorben. Sie überlegte fieberhaft. Wenn das Mädchen überhaupt noch lebte, dann nur, weil Gerald Angst bekommen hatte und geflüchtet war. Aber Madeline war sich absolut nicht sicher, ob der Pfarrer sein schreckliches Werk nicht doch beendet hatte. Sie musste dringend noch einmal zurück. So sehr ihr auch vor dem graute, was sie dort vorfinden würde. Aber vielleicht konnte sie die arme Frau noch retten.
Madeline rannte also durch die dunklen Straßen zurück in die Old Hall Road. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, da sie fürchtete, es könnte Gerald sein. Ängstlich starrte sie in die dunklen Gassen und meinte immer wieder, seinen Schatten hinter einer Häuserecke zu erkennen. Als sie endlich vor dem Haus angekommen war, sah sie sich nach einem Knüppel oder Stock um, den sie zu ihrer Verteidigung nutzen konnte. Sie fand jedoch keinen geeigneten Gegenstand und konnte nur hoffen, dass der Pfarrer inzwischen verschwunden war.
Madeline atmete tief ein, als sie das Haus betrat und die Treppe hinaufstieg. Es herrschte eine bedrückende Stille. Widerstrebend streckte Madeline die Hand aus, um die Tür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Sie rüttelte und klopfte daran, aber nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Madeline zögerte. Sie wollte nicht nach Hause gehen, solange sie nicht wusste, wie es der Frau ging. Vielleicht brauchte sie Hilfe und konnte sich nur nicht bemerkbar machen. Madeline trat zurück und nahm Anlauf. Mit voller Wucht warf sie sich gegen das dünne Holz der Tür. Aber erst nach drei weiteren Versuchen gelang es ihr endlich, die Tür aus den Angeln zu sprengen. Einen Augenblick lang hielt sie inne, als die Wohnung im Dunkeln vor ihr lag. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und trat ein. Es war so finster, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Madeline stolperte, und ihr entfuhr ein leiser Schrei, als sie zu Boden fiel. In diesem Moment spürte sie, woran sie hängen geblieben war. Es war ein menschlicher Fuß. Sie brauchte sich nicht weiter vorzutasten, um zu wissen, dass er auf dem Dielenbrett festgenagelt worden war. Madeline stand auf und ging vorsichtig zum Fenster. Sie fand eine Kerze und Streichhölzer. Als sie endlich das Feuer entzündet hatte, schlug sie entsetzt die Hand vor den Mund. Da lag sie, festgenagelt auf den Dielen.
Dieses Mal war Madeline Zeugin des Verbrechens gewesen, sie hatte Gerald dabei beobachtet, wie er den Mord begangen hatte – aber niemand würde ihr glauben. Tränen traten ihr in die Augen. Er hatte sein Werk vollendet. Warum war Madeline nur fortgegangen? Sie war geflohen und hatte das Mädchen ihrem Schicksal überlassen.
Madeline schluchzte auf. Hilflos betrachtete sie das tote Mädchen. Lange stand sie in dem schäbigen Zimmer, in dem einst eine junge Frau gelebt, gehofft und geliebt hatte. Von einem Moment auf den anderen hatte man ihr das Leben genommen. Madeline stieg langsam über die Tote und ging zur Tür. Wie im Traum ging sie die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Ihr war schwindlig. Sie lehnte sich gegen die Hauswand, atmete tief durch und schloss die Augen. Irgendwo in der Nähe klapperten Pferdehufe durch die Nacht. Ein Hund bellte und eine Frau schluchzte. Das Leben ging weiter, nur das Herz des jungen Mädchens dort oben war stehen geblieben.
Es dauerte lange, bis Madeline bewusst wurde, dass sie weinte. Dass es ihre Schluchzer waren, die die Stille der Nacht zerrissen. Was für eine Verschwendung von Leben! Und wie ohnmächtig sie doch war! Warum tötete Gerald diese Frauen? Und wieso stellte sich ihm niemand entgegen? Niemand außer Madeline, und sie war zu schwach. Was sollte sie jetzt tun? Dort oben lag eine Leiche und Madeline kannte ihren Mörder. Sollte sie noch einmal zu diesem Nichtsnutz von Polizisten gehen und ihm sagen, dass die Frau jetzt tot war? Der Mann hatte sich schon vorhin kaum dafür interessiert und tat es jetzt vermutlich genauso wenig, wie sämtliche anderen Wachhabenden dieser Stadt.
Madeline wandte sich ab und entfernte sich von dem schrecklichen Ort. Ihre Füße trugen sie nach Hause, ohne dass sie es sich vorgenommen hatte. Sie stieg die Treppe hinauf und legte sich in ihr Bett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Madeline starrte in die Dunkelheit. Sobald sie die Augen schloss, sah sie wieder die Frau vor sich, festgenagelt auf den Dielenbrettern. Oder sie sah Gerald, der sich auf sie stürzte und sie würgte. Madeline fühlte sich unendlich hilflos und einsam. Es gab niemanden auf der Welt, mit dem sie reden konnte.
Unruhig warf sie sich von einer Seite auf die andere. Sie würde morgen früh zur Harbour Street gehen. Und wenn sich alle weigerten, etwas gegen Gerald zu unternehmen, würde sie eben zum obersten Polizeichef persönlich gehen. Der Gedanke daran, vielleicht doch nicht ganz ohnmächtig zu sein, tröstete sie etwas, und endlich schlief sie erschöpft ein.
Am nächsten Morgen machte sie sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg zur Harbour Police Station.
Als sie den hellen Vorraum der Wache betrat, sah Drew auf, der hinter dem Tresen stand. »Miss Brown, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Waren Sie schon in der Old Hall Road? Haben Sie die Leiche gefunden?«, fragte sie den Polizisten.
Er griff nach seinem Becher und trank schlürfend einen Schluck Tee. »Ja, Miss Brown. Miller hat mir erzählt, dass Sie gestern Nacht ein echtes Theater veranstaltet haben, und da sind wir heute Morgen mal hingegangen.«
Gott sei Dank, dachte Madeline. Jetzt konnten sie die Augen nicht mehr verschließen. Jetzt mussten sie sie endlich ernst nehmen.
Und dann sprudelte es aus ihr heraus: »Ich habe ihn beobachtet. Ich weiß, wer der Mörder ist. Es war Gerald Farwell. Er hat auch mich angegriffen, aber ich konnte mich losreißen.« Madeline klammerte sich aufgeregt mit den Händen am Tresen fest. »Ich kann bezeugen, dass er es war, und außerdem können Sie in der Kirche von Fleetwood genau die Nägel finden, die er zum Festnageln der toten Körper benutzt hat. Es sind außergewöhnlich dicke, große Nägel.«
»Miss Brown«, unterbrach Drew sie. »Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich etwa nach Fleetwood fahren und Gerald Farwell festnehmen, den Bruder des Earls und Pfarrer von Fleetwood? Nur weil Sie es sagen? Sie, eine Frau? Eine Frau von nicht allzu gutem Ruf obendrein!« Er strich sich über den Schnurrbart. »Nein, Miss. Das mache ich nicht. Ich werde mich nicht in die Nesseln setzen.« Dann widmete er sich wieder schlürfend seinem Tee.
Madeline wurde eiskalt. Sie öffnete den Mund, aber ihr fielen keine Worte ein, die ihre Wut, ihre Enttäuschung und Ohnmacht auch nur annähernd hätten ausdrücken können. Sie drehte sich wütend um. Dann rannte sie hinaus auf die Straße, winkte nach einer Droschke und wies den Fahrer an, sie zu Senior Police Officer Whittey zu bringen. Während der Fahrt konnte sie vor lauter Zorn und Entmutigung kaum einen klaren Gedanken fassen.
Als sie vor dem großen Verwaltungsgebäude ankam, schüttelte sie sich. Sie musste sich zusammennehmen und durfte nicht gleich auf die Unfähigkeit der Polizisten zu sprechen kommen. Schließlich wollte sie es sich nicht mit Whittey verderben.
Nachdem sie sich zu seinem Büro durchgefragt hatte, musste sie jedoch erfahren, dass er außer Haus war. Sein Assistent wusste nicht, wann er zurückkommen würde. Und ohne Termin würde der Senior Police Officer sie ohnehin nicht empfangen. Also ließ Madeline sich Papier und Feder aushändigen und verfasste einen langen Brief, in dem sie von Ihren Beobachtungen und der Ignoranz von Drew und seinen Männern berichtete. Der Assistent versprach, den Brief weiterzuleiten. Als Madeline das Gebäude verließ, hatte sie jedoch das ungute Gefühl, dass sie nie eine Reaktion auf ihren Brief erhalten würde.
Wenn es doch nur so gewesen wäre! Aber drei Tage später erschien John wutschnaubend bei Madeline. Whittey hatte ihm Madelines Schreiben gezeigt.
»Wie konntest du meinen Bruder denunzieren? Ist dir klar, dass du damit die ganze Familie diskreditierst? Das sind ungeheure Anschuldigungen, die dir nicht zustehen.« Seine Augen blitzten vor Wut.
Madeline war fassungslos. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Wie konnte es sein, dass John das Ansehen seiner Familie wichtiger war als das Leben der Frauen? Sie schluckte und ging dann mit vorgestrecktem Kinn einen Schritt auf ihn zu.
»Ich habe es gesehen, John! Ich habe ihn dabei beobachtet.« Jetzt liefen Madeline Tränen der Wut und Hilflosigkeit über die Wangen. »Ich habe gesehen, wie er die Frau erwürgt hat.«
»Madeline, du hast zu viel Fantasie!« Er fasste sie an den Schultern und schüttelte sie. »Du bildest dir das alles nur ein. Ich weiß nicht, warum du Gerald und mir unbedingt schaden willst, aber ich werde das nicht zulassen.«
Madeline schrie auf. John tat ihr weh, sein Griff war viel zu fest. »John, ich will dir nicht schaden. Ich will nur, dass diese Morde ein Ende haben. Und ich habe mir das nicht eingebildet. Ich bin schockiert, erschrocken und fassungslos darüber, dass Gerald zu einem solchen Verbrechen fähig ist. Wir müssen dafür sorgen, dass er damit aufhört.«
»Schluss jetzt, Madeline!«, schrie John und sein Gesicht war rot vor Zorn. »Ich will nie wieder ein Wort von dir in dieser Angelegenheit hören. Überlass die Aufklärung von Verbrechen der Polizei. Und wage es ja nicht, noch einmal etwas gegen meine Familie zu sagen.«
»Aber die Polizei kümmert sich nicht darum«, rief Madeline flehend. »Ich musste mich einmischen. Und ich habe gesehen, wie …«
Da schlug John ohne Vorwarnung zu. Der Schlag in ihr Gesicht war so heftig, dass Madeline zurücktaumelte und gegen das Sofa stieß. Sie strauchelte. John sprang zu ihr und zog sie wieder hoch, ehe er ein weiteres Mal ausholte und mit der Faust gegen ihr Kinn schlug. Und dann traf sie ein weiterer Schlag, der sie in schwarze Finsternis stürzte.
Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, war John noch bei ihr. Er saß ihr gegenüber im Sessel, und auf dem Tisch zwischen ihnen lagen ein Stapel dickes Papier und eine Feder mit Tinte.
»Ich will nicht, dass es zu Gerede kommt. Du verfasst jetzt einen Brief an Whittey. Darin erklärst du, dass du Gerald beschuldigt hast, weil du dich persönlich verletzt fühltest, nachdem er deine Liebe zurückgewiesen hat.«
»Was?«, fragte Madeline erschrocken. »Ich soll lügen und schreiben, dass ich in Gerald verliebt bin?«
»Ganz genau. Und aus verletztem Stolz hast du ihn des Mordes bezichtigt.«
Madeline schüttelte den Kopf und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Ihre Wange brannte wie Feuer an der Stelle, wo Johns Faust sie getroffen hatte. Doch viel mehr schmerzte sie die Erkenntnis, dass er seinem Bruder dabei half, ungeschoren davonzukommen. Der Earl tolerierte die grausamen Taten des Pfarrers und das machte ihn ebenfalls zum Täter.
»Das ist keine Bitte, Madeline«, sagte John und stand auf. Er ging ein paar Schritte auf sie zu. »Du hast keine Wahl.«
Madeline starrte auf den Rock ihres Hauskleides.
Seine Hand fasste nach ihrem Kinn. Er hob es an und sah ihr in die Augen. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er erneut zuschlug. Madelines Kopf schien zu explodieren. Einen Moment lang sah sie helle Blitze und in ihren Ohren rauschte es. Als sie wieder etwas erkennen konnte, bemerkte sie die roten Flecken, die sich auf ihrem Kleid ausbreiteten.
John reichte ihr ein Taschentuch. Zögernd nahm sie es und hielt es sich unter die schmerzende Nase.
»Und jetzt schreib!«, befahl er.
Mit zitternden Händen griff Madeline nach der Feder, um den Text zu notieren, den John ihr diktierte. Dann nahm er das Dokument und steckte es zufrieden in seine Rocktasche.