Liverpool, November 1839
Die Kälte legte sich wie ein Seidentuch über Liverpool und überzog die Straßen und Häuser mit einer dünnen Eisschicht. An den Fensterscheiben wuchsen Kristallblumen und der rußige Geruch der Kaminfeuer überdeckte den Fischgestank am Hafen. Das Klatschen der Wellen, die an die Kaimauer schlugen, vermischte sich mit dem Gekreisch der Möwen. Die Nacht war sternenklar und der volle Mond erhellte die Stadt mit seinem kalten, unheimlichen Licht. Ein Schatten schälte sich aus der Dunkelheit, in der Hand einen schweren Backstein. Lautlos schlich er von Hausecke zu Hausecke, ohne die gebeugt gehende Gestalt vor sich aus den Augen zu lassen. Blitzschnell verschwand er in einem Hinterhof, als am Ende der Straße eine Gruppe johlender Matrosen auftauchte. Es war nach Mitternacht, die Spelunken hatten längst geschlossen und für die Fischer war es noch zu früh. Um diese Zeit war es am ruhigsten im Hafenviertel von Liverpool. Nur die kaum wahrnehmbaren Atemwolken ließen erahnen, dass sich jemand hinter dem Torbogen verborgen hielt. Erst als die Seemänner ihn passiert hatten, schlüpfte der Schatten wieder hervor und sah sein Opfer gerade noch am Ende der Straße in Richtung George’s Basin abbiegen.
Er schlich sich hinter einem der Wachhäuschen vorbei, in dem ein Polizist der Nachtwache seinen Dienst tat. Dann rannte er, so schnell er konnte, hinter seinem ahnungslosen Opfer her und erreichte keuchend die Kaimauer. Einen Moment lang hielt er inne und suchte den Hafen mit den Augen ab. Die Masten der Schiffe schaukelten im Mondschein. Die Beute war etwa zwanzig Meter von ihrem Jäger entfernt. Niemand außer den beiden war in dieser eisigen Nacht am Hafen unterwegs. Jetzt oder nie! Mit katzenhaften Bewegungen sprang der Verfolger auf die hagere Gestalt zu. Erschrocken verharrte der Überraschte einen Augenblick lang, bevor er sich umwandte.
Er blickte seinen Jäger gehetzt an. Dann aber erkannte er den Angreifer und ein Grinsen legte sich auf seine spitzen Gesichtszüge. Auch das raubtierhafte Wesen lächelte, beinahe unschuldig. Und noch bevor das Opfer sich wehren konnte, hatte der Jäger den schweren Stein mit beiden Händen in die Höhe gerissen und ließ ihn mit aller Kraft niederfahren. Das Krachen des Schädels war lauter als die Wellen, die gegen die Hafenmauer schlugen. Die hagere Gestalt sank zu Boden und hob verzweifelt die Arme. Sie stöhnte auf, aber noch ehe sie laut um Hilfe schreien konnte, hatte der Täter zum zweiten Mal zugeschlagen. Mit ausladenden Bewegungen schmetterte er den Backstein wieder und wieder auf das wehrlose Opfer, bis sein Kopf zu einer roten breiigen Masse geworden war. Dann richtete sich der Mörder auf und sah sich um. Niemand war im schwachen Schein der Öllampen zu erkennen, die an den Kontoren hingen. Schnell lief der dunkle Schatten zur Kaimauer und warf den Stein ins Wasser hinunter.
Dann kehrte er zu dem reglosen Körper zurück. Einen Moment lang schien er zu überlegen, sein Opfer einfach dort liegen zu lassen. Doch dann bückte er sich und griff nach den Beinen der Leiche. Sie war schwer. Aber der Verbrecher war fest entschlossen. Als er den leblosen Körper zur Kaimauer zerrte, hinterließ er eine schimmernde rote Spur im Frost. Mit einem lauten Platschen landete der Leichnam im Wasser. Der Mörder wischte seine blutigen Hände an den feuchten Steinen der Hafenmauer ab. Dann richtete er sich auf. Ohne einen Blick zurück ging er beinahe lautlos davon. Sein Schatten verschwand ungesehen in der Dunkelheit.