Liverpool, November 1839
Thomas hatte mit wachsendem Entsetzen Madelines Schilderungen gelauscht. Was für eine schreiende Ungerechtigkeit. Und wie mutig diese junge Frau doch gewesen war!
Er ging ein paar Schritte im Salon auf und ab, um sich zu beruhigen. Er hatte so viel von ihr erfahren und ahnte, worauf die Geschichte hinauslief – und das Ende gefiel ihm gar nicht. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, wandte er sich zu Madeline um, die ihn mit wachsamen Augen beobachtete. Wie zäh und beharrlich sie gewesen war. Die meisten Menschen hätten sich an ihrer Stelle vermutlich längst vor der Übermacht des Earls und des Senior Police Officers geduckt. Aber Madeline hatte weitergekämpft, für die toten Frauen und für das Leben möglicher weiterer Opfer. Was für eine bewundernswerte, starke Frau! Noch nie hatte Thomas jemanden wie sie getroffen. Er setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand.
»Der Earl scheint brutal zu sein«, sagte Thomas. »Und gefährlich. Madeline, Sie müssen vorsichtig sein.«
Sie führte seine Hand an ihre Lippen und fuhr sanft über seine Finger. Thomas ließ sie gewähren und genoss das Prickeln, das ihre Zärtlichkeiten in ihm auslösten.
Dann sagte sie: »Er hatte immer schon einen Hang zur Grausamkeit. Wenn ihn irgendetwas wütend machte, kam er zu mir, um sich … abzureagieren. Aber nachdem ich ihm von seinem Bruder erzählt und meinen Verdacht geäußert hatte, wurde er richtig brutal und gewalttätig. Er tut mir weh und behandelt mich schlecht … Wenn ich die Kutsche höre, würde ich am liebsten weglaufen. Aber es gibt keinen Ort, wohin ich fliehen, und keinen Menschen, der mir helfen kann. Also ertrage ich es, wenn er kommt, in der Hoffnung, dass er mich in Ruhe lassen wird, wenn ich ihm sein Kind geboren habe. Schließlich wird es hier bei mir aufwachsen, und ich denke nicht, dass er sich wie ein Tier auf mich stürzen wird, wenn sein Sohn oder seine Tochter im Nebenzimmer schläft.«
»Das bleibt nur zu hoffen.« Thomas sah sie zweifelnd an. »Wann wird das Kind zur Welt kommen?«, fragte er dann, nur um irgendetwas zu sagen.
Sie hob die Schultern und errötete leicht. »Ich war noch nicht beim Arzt. Aber es wird sicher noch bis nächsten Sommer dauern.«
Thomas schwieg einen Moment. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu Anni und der wunderschönen Zeit ihrer Schwangerschaft, in der sie sich ihre gemeinsame Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt hatten. Niemals hätte Thomas damit gerechnet, dass … Nein, er durfte nicht wieder daran denken.
Sanft streichelte er Madelines Hand. »Sie sollten unbedingt untersuchen lassen, ob alles in Ordnung ist mit dem Kind.«
Sie seufzte. »Ich bin ganz ehrlich: Momentan halte ich es für keine gute Idee, mich mit dem Kind an den Earl zu binden. Wenn es erst auf der Welt ist, kann ich definitiv nicht mehr von hier fort. Deshalb denke ich manchmal, dass es nicht schlimm wäre, es zu verlieren.«
Der Inspector konnte sie gut verstehen. Sie war unverheiratet, und es war mehr als ungewiss, ob der Earl zu seinem Wort stehen und sich um sein Kind kümmern würde.
»Aber auch Ihr Leben ist in Gefahr«, gab Thomas zu bedenken. »Und Ihr Kind kann nichts dafür, dass sein Vater ein solcher …«
»Sie haben recht«, sagte Madeline und strich zärtlich über ihren Bauch.
Thomas’ Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Das Leben war so fragil. Er wusste selbst nicht, warum er plötzlich sagte: »Als meine Frau bei der Geburt unserer Tochter starb und die Kleine gleich mit ihr, war das der schlimmste Tag meines Lebens. Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht an sie denke.«
»Das tut mir leid«, flüsterte Madeline und streckte ihre Hand nach ihm aus. Sanft strich sie über seine Wange.
Ein Schauer überlief ihn und er presste die Lippen zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Madeline rückte näher an ihn heran. Plötzlich schlang sie ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich. Thomas sog ihren Duft ein, genoss die Wärme ihres Körpers und schöpfte mit einem Mal Trost. Ihre Finger wanderten an seinen Hinterkopf und fuhren durch sein Haar. Er ließ sich fallen, und als ihre Lippen seine suchten, stieß er sie nicht zurück. Sie war sanft, und in Thomas löste sich etwas, während er ihre Küsse erwiderte.
Nach einer Weile ließ sie ihn wieder los. »Thomas, ich muss dir erzählen, wie es weitergegangen ist.«
Er nickte. Auch ohne, dass sie es ihm verriet, kannte er das Ende ihrer Geschichte. Und doch musste er es aus ihrem Mund hören.